„Nun lasst uns gehen und treten“ (EG 58)

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„Nun lasst uns gehen und treten“ (EG 58)

Predigreihe zu Paul Gerhardt / 2007
„Nun lasst uns gehen und treten“ (EG 58),
Eine Predigt anlässlich des 400. Geburtstages von Paul Gerhardt verfasst von Reinhold Mokrosch


Liebe Mitchristen! Liebe Freunde und Freundinnen von Paul Gerhardt! Liebe Gemeinde!

Wir haben soeben das Lied „Nun lasst uns gehen und treten mit Singen und mit Beten“ gesungen. Es stammt von Paul Gerhardt, an dessen 400. Geburtstag in diesem Jahr wir uns in diesem Gottesdienst erinnern wollen.

I.

Bevor ich aber auf Paul Gerhard, seine Zeit und dieses Lied eingehe, möchte, ja muss ich Ihnen von einer Szene in Tanzania/Ostafrika erzählen, die ich nie vergessen werde. Ich hatte dort an dem Lutheran Theological College of Makumira im Jahr 1997 eine Gastprofessur zur Ausbildung afrikanischer lutherscher Pfarrer übernommen. Gleich am Tag nach meiner Ankunft kamen Dutzende von christlichen Tutsi- und Hutu – Flüchtlingen aus dem grauenhaften Bürgerkrieg des 300 km entfernten Rwanda im College an und baten um Asyl. Sie waren tagelang hungernd marschiert – verletzt, geplündert, ausgemergelt. Viele hatten Kinder, Eltern und Freunde verloren, die z.T. vor ihren Augen massakriert worden waren.
Nach einer ersten Versorgung fand in der Kirche auf dem College – Campus von Makumira ein Gottesdienst im Stil lutherscher Liturgie statt, – natürlich auf Kisuahili. Ich selbst sollte – auf Englisch – eine tröstende Ansprache halten. Vorher sang die ca. 300 Personen umfassende Gemeinde plötzlich unser Paul Gerhardt – Lied „Nun lasst uns gehen und treten“ – auf Kisuahili. Ich hatte den deutschen Text vor mir. Mir blieb der Atem stecken, als ich sah und hörte, mit welcher Inbrunst die rwandischen Flüchtlinge sangen:
– „Wir gehen dahin und wandern…durch so viel Angst und Plagen / durch Zittern und durch Zagen / durch Krieg und große Schrecken / die alle Welt bedecken.“ Wie treffend hatte P. Gerhardt vor 350 Jahren diese Klagen der Rwander heute beschrieben! Und dann sangen sie weiter:

– „Ach, Hüter unsres Lebens / fürwahr es ist vergebens / mit unserm Tun und Machen / wo nicht Dein Augen wachen!“ Und: „Gelobt sei Deine Treue / die alle Morgen neue; / Lob sei den starken Händen, / die alles Herzleid wenden.“ Woher nahmen sie die Kraft, Gott als Hüter ihres Lebens zu bezeichnen und auf Gottes Treue zu bauen? Ihre nachfolgende Bitte um ein geduldiges Herz war echt:
– „Gib mir und allen denen, / die sich von Herzen sehnen / nach dir und deiner Hulde, / ein Herz, das sich gedulde.“ Und in der 12. Strophe glaubte ich zu hören, dass sie für ihre Feinde und Mörder beteten:
– „Sei der Verlassnen Vater, / der Irrenden Berater, / der Unversorgten Gabe, / der Armen Gut und Habe.“

Wie ist es möglich, fragte ich mich innerlich, dass diese Flüchtlinge nach ihrem Grauen so singen? Glauben sie wirklich, dass nach „so viel Blutvergießen / die Freudenströme fließen“? Mir rollten Tränen der Rührung und Scham. Denn solchen starken Glauben hatte ich nicht. Meine Andacht hielt ich spontan über dieses Paul – Gerhardt – Lied. Ich benannte konkret „so viel Angst und Plagen, das Zittern und das Zagen, den Krieg und große Schrecken, die alle Welt bedecken“ und bestärkte die Hörenden in ihrem Glauben an „Gottes Treue, die jeden Morgen neue, mit seinen starken Händen das Herzleid aller wenden.“ Ich spürte dabei, dass ich redete, aber selbst nicht glaubte. Die Flüchtlinge und die Studierenden waren Paul Gerhardt tiefgründiger nachgefolgt als ich. Die anschließenden Gespräche bestätigten mir das: Ihr Gottvertrauen und ihre Hoffnung waren ungebrochener als meine Vorstellungen, der ich keinerlei Leid in Rwanda erlebt hatte.

Ich möchte heute, zehn Jahre nach Tanzania, erneut eine Predigt über dieses Lied versuchen. Dazu bitte ich Sie, sich mit mir 350 Jahre zurück zu versetzen in die Zeit kurz nach dem 30jährigen Krieg.

II.

Paul Gerhardt war, wie gesagt, vor 400 Jahren, am 12. März 1607, in dem kleinen kursächsisch – lutherschen Dorf Gräfenheinischen, nahe Wittenberg, geboren. Sein Lied „Nun lasst und gehen und treten“, das wir heute betrachten wollen, hatte er 1653 geschrieben. Er hatte es genau der Melodie zugedichtet, die der bekannte Kantor und Komponist Johann Crüger von St. Nicolai in Berlin schon 1649 für das Lied „Nun lasst uns Gott, dem Herren, Dank sagen und ihn ehren“ (von 1575) in Satzform komponiert hatte. Gerhardt wollte seinen Text damit bewusst in die luthersche Liedtradition einordnen und mit Luther im Stil lutherscher Orthodoxie aussagen: Gott lässt viel Leid zu; aber er hilft uns auch und lässt uns nicht mehr leiden als wir tragen können.

Es war 1653 eine grauenhafte Zeit. Zwar war der sog. 30jährige Krieg mit dem Friedensschluss von Münster und Osnabrück offiziell schon seit fünf Jahren beendet, aber er tobte weiter. Er dauerte viel länger als 30 Jahre. Seuchen und Krankheitsepidemien wie Pest, Cholera und Grippe, soziales Chaos, Hunger, Kindersterblichkeit, Armut, Not und weitere marodierende und brandschatzende Banden verwüsteten nach wie vor deutsche Lande und Städte.

Persönlich ging es Paul Gerhardt in dieser Zeit 1653 eigentlich nicht schlecht. Er war vor 10 Jahren, also 1643, als Hauslehrer nach Berlin gekommen, wurde von dem bereits genannten bedeutenden und bekannten Kantor und Komponisten Johann Crüger entdeckt, durch dessen Vertonungen seiner Liedtexte gefördert und war in wenigen Jahren zum bedeutendsten Liederdichter seiner Zeit aufgerückt.

Dazu kam, dass ihm, der erstaunlicherweise noch kein theologisches Examen absolviert hatte und demzufolge auch noch nicht ordiniert war, 1651 eine Pfarrstelle in Mittenwalde angeboten wurde, die er nach geschwind nachgeholtem Examen und erfolgter Ordination bis 1657 besetzte. Außerdem heiratete er 1655, mit 48 Jahren, Anna Maria in Mittenwalde. Und 1657 erhielt er die ehrenvolle Pfarrstelle von St. Nicolai in Berlin. Anna Maria schenkte ihm fünf Kinder, von denen aber vier bereits im 1. Lebensjahr starben. Und auch Anna starb 1668. Paul Gerhardt überlebte, abgesehen von seinem Sohn Paul Friedrich, als einziger in seiner Familie. Aber von dieser furchtbaren Katastrophe war er jetzt im Jahr 1653 noch verschont. Es ging ihm, äußerlich gesehen, relativ gut. Aber eben nur äußerlich gesehen. Denn der jetzt 46jährige hatte, wie gesagt, 35 Jahre seines Lebens nur Tod und Verwüstung erlebt. Und auch seine Pfarrei Mittenwalde, in der er 1653 als Pfarrer wirkte, war total gebrandschatzt, geplündert und verwüstet.

III.

In dieser Situation schrieb er die trostreichen 15 Strophen unseres Liedes. Oder sind sie nicht trostreich? Gehen wir dem Duktus des Liedes noch einmal nach:

Die 1. Strophe beginnt mit dem Dank, dass Gott uns „bis hierher“ Kraft gegeben hat. „Bis hierher“! Steckt hinter dieser Formulierung ein Zweifel, dass der Kraftstrom vielleicht versiegen könnte? Ich weiß es nicht. Solche Skepsis bei gleichzeitiger unerschütterlicher Glaubenszuversicht wäre Paul Gerhardt aber m.E. zuzutrauen.
Die 2. und 3. Strophe enthalten eine immense Klage; aber keine Anklage: Von Jahr zu Jahr erleben wir „Angst und Plagen, Zittern und Zagen, Krieg und Schrecken“. Verzweiflung ohne Hoffnung strahlen diese Strophen aus.
Erst durch die 4. und 5. Strophe treten Hoffnung, Vertrauen, ja Optimismus, der typische Paul-Gerhardt-Optimismus hinzu: „Wie von treuen Müttern / in schweren Ungewittern / die Kindlein hier auf Erden / mit Fleiß bewahret werden, / also auch und nicht minder / lässt Gott uns, seine Kinder, / wenn Not und Trübsal blitzen, / in seinem Schoße sitzen.“ Woher, frage ich, nimmt er diese Erfahrung mitten im Elend? Gott der Vater verhält sich wie eine schützende Mutter? Wirklich? Woher diese Erfahrung? Woher dieses Bild?
In der 6. und 7. Strophe steigert sich dieses Gottvertrauen zur absoluten Gewissheit: „Ach, Hüter unsres Lebens (mitten im Krieg!), / führwahr, es ist vergebens / mit unserm Tun und Machen, / wo nicht dein Augen wachen. / Gelobt sei Deine Treue, / die alle Morgen neue; / Lob sei den starken Händen, / die alles Herzleid wenden.“ Hier sind Resignation und Hoffnung, Angst und Vertrauen, Verlassenheit und Geborgenheit, Sehnsucht und Liebe, Trauer und Freude vereint. Und das Besondere: Paul Gerhardt findet keinen Trost durch Weltflucht und Jenseitskult, sondern er ist überzeugt, dass Gott mitten im Leben Trost und Hoffnung gibt. „Er sieht den Lauf der heißen Tränen und fasst zu Hauf all unser Sehnen“ versichert er in einem anderen Lied. Das ist ein irdischer Trost. In ihm entdecke ich auch einen Trotz:
Denn in den folgenden drei Bitt – Strophen (8. – 10. Strophe) wird m.E. auch Widerstand gegen das Schicksal und gegen irdische Ungerechtigkeiten sichtbar: „Lass ferner dich erbitten, / o Vater, und bleib mitten / in unserm Kreuz und Leiden / ein Brunnen unsrer Freuden. / Gib mir und allen denen, / die sich von Herzen sehnen / nach dir und deiner Hulde, / ein Herz, das sich gedulde.“ Das ist Widerstand gegen Schicksalsergebenheit und Selbstbemitleidung! Die Bitte, das Schicksal geduldig aushalten zu können, enthält den Mut, es überwinden zu können. „Mut“ war eine entscheidende Eigenschaft, welche für die Barock – Christen und besonders für Paul Gerhardt immens wichtig war. „Herz, Seel und Mut, nimm alles hin“ hatte er in seinem Weihnachtslied „Ich steh an deiner Krippe hier“ gedichtet und damit zum Ausdruck gebracht, dass er auch seinen Lebensmut von Christus habe.
Die Bitten um geistliche Gaben in den letzten Strophen (11. – 15. Strophe) sind wiederum Bitten, das Schicksal des Lebens mit Mut zu bestehen: „Sprich deinen milden Segen / zu allen unsern Wegen, / lass Großen und auch Kleinen / die Gnadensonne scheinen. / Hilf gnädig allen Kranken, / gib fröhliche Gedanken / den hoch betrübten Seelen, / die sich mit Schwermut quälen. / Und endlich, was das meiste, / füll uns mit deinem Geiste, / der uns hier herrlich ziere / und dort zum Himmel führe.“ Paul Gerhardt lässt uns bitten um Gottes Segen, um Gnade, um fröhliche Gedanken und – der Höhepunkt – um Gottes Geist. Es sind die klassischen Gaben, die der von Gott Gerechtfertigte nach lutherscher Tradition von Gott erhält, um im Alltag Gutes tun zu können.

Spüren Sie, liebe Mitchristen und Paul Gerhardt – Fans, dass dieses Lied die Seelenbewegung eines Christen nachzeichnet, der in Not ist? Ich zeichne noch mal die Stationen – im Wir- und Ich-Stil, wie Gerhardt es tut:

1. Station: Wir danken, dass Gott uns Kraft gegeben hat „bis heute“; Gewissheit, dass wir auch in Zukunft Kraft haben werden, haben wir noch nicht.
2. Station: Wir klagen über unsere grauenhafte Not und Angst! Von Hoffnung kann keine Rede sein!
3. Station: Überraschend kommt aber die Gewissheit: Gott wird uns bewahren, weil er uns das zugesagt hat.
4. Station: Wir erinnern uns an Gottes Verheißungen und vergewissern uns im Bekenntnis: Ja, Gott, Du hast mir zugesagt, mein Hüter, Bewahrer, treuer Lebensbegleiter, Vater, Berater, Gabe, Habe und Brunnen der Freude zu sein. Daran will ich mich halten.
5. Station: In diesem Glauben bitten wir: Gott, schenke mir Segen, Gnade, fröhliche Gedanken und deinen Geist, damit ich mich dem Schicksal nicht ergebe, sondern es mit Hoffnung überwinde.
Ich wage zu sagen: Das ist die Bewegung unseres christlichen Glaubens: Dank für Gottes Kraft! Trotzdem schonungslose Klage! Erinnerung an Gottes Verheißung! Bekenntnis zu dieser Verheißung und zu Gott als Hüter und Bewahrer! Bitte um Gottes Segen, Gnade und Geist, um das Schicksal zu bestehen und zu überwinden! Paul Gerhardt beschreibt hier – in barock-poetischer Manier -, was Christsein bedeutet!

IV.

Haben die afrikanischen Flüchtlinge aus Rwanda das besser begriffen als ich und viele von uns? Ja, natürlich! Sie sind Paul Gerhardt und seiner Lebenssituation mit Kriegs-, Hunger-, Krankheits-, aber auch Schöpfungs- und Transzendenzerlebnissen viel näher als wir. Sie fühlen sich viel mehr als wir allein auf Gott geworfen. Sie haben nicht die medizinischen und ökonomischen Möglichkeiten, die wir haben. Totales und absolutes Vertrauen auf Gott ist ihre einzige Möglichkeit. Sie singen mit ganz anderen Empfindungen als wir Paul Gerhardts Lieder „Geh aus mein Herz und suche Freud…“ oder „Nun ruhen alle Wälder…“ oder „Ich steh an deiner Krippe hier…“ oder „Oh Haupt voll Blut und Wunden…“ oder „Aus tiefer Not schrei ich zu dir…“ oder „Du meine Seele singe…“ und „Befiehl du deine Wege…“ Sie sind, so empfand ich es in Makumira, Paul Gerhardts Glaubenserfahrungen näher als wir.

Stimmt das? Äußerlich gesehen: ja! Aber innerlich gesehen fühle auch ich mich oft in der Situation Paul Gerhardts. Er spricht auch mir aus dem Herzen. Alle o.g. Lieder singe ich mit tiefen Gefühlen. Ja, ich kann mir kaum einen Sommer ohne „Geh aus, mein Herz…“, kein Weihnachten ohne „Ich steh an Deiner Krippen hier…“, keinen Karfreitag ohne „Oh Haupt voll Blut und Wunden…“, keine Beerdigung ohne „Befiehl du deine Wege…“ und keinen Morgen ohne „Die güldne Sonne…“ vorstellen. Aber könnte ich auch in größter Verzweiflung und Not singen: „Gott lässt uns, seine Kinder, wenn Not und Trübsal blitzen, in seinem Schoße sitzen?“ Ich bin unsicher! Aber ich bin gewiss, dass ich mit Paul Gerhardt in jeder Lebenssituation singen kann:
„Gib dich zufrieden und sei stille in dem Gotte deines Lebens. / In ihm ruht aller Freuden Fülle, ohn` ihn mühst du dich vergebens / Er ist dein Quell und deine Sonne / scheint täglich hell zu deiner Wonne, / Gib dich zufrieden.“
Gottes Friede, der größer ist als unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen


Prof. Dr. Reinhold Mokrosch
Institut für Ev. Theologie
Univ. Osnabrück
49069 Osnabrück

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