Matthäus 9:9-13

Matthäus 9:9-13

Septuagesimä, 04.02.2007

Predigt zu Matthäus 9:9-13, verfasst von Jürgen Jüngling


  1. Schon die Einleitung dieser kleinen und doch so großartigen Geschichte aus dem Matthäus-Evangelium spricht Bände und ist durch und durch Jesustypisch: Er sucht nicht die akademische Diskussion, nicht den theoretischen Diskurs, sondern er geht dahin, wo das Leben pulsiert mit all seinen Chancen und in all seinen Fallstricken. Er, der das Reich Gottes verkündet, begibt sich mitten hinein in die moralische und auch tatsächliche Grauzone zwischen Römern und Juden, zwischen Vorschriften und Zöllen und sogar Betrügereien. Allein schon mit der Schilderung dieser Szene wird deutlich, wie sich Gottes Reich und reales Leben ganz unmittelbar berühren. So wie Gott Mensch wurde, wie die Geburt im Stall die Verbindung von Getrenntem möglich machte, so wird allein schon in der Begegnung Jesu mit dem umstrittenen Zöllner dieses Thema weitergeführt: Gottes Reich bricht mitten in die Geschichte und damit in die Lebensgeschichte der betroffenen Menschen ein – nicht irgendwo, irgendwann oder irgendwie, sondern ‚an Ort und Stelle’, hier und jetzt, ganz konkret. Und das hat Folgen.
  2. Deshalb versuche ich einmal, mich in die Lage jener Menschen zu versetzen, von denen das Evangelium berichtet. Und ich sage vorweg: Ein Stück weit werden wir uns in ihnen allen wiederfinden – unter Garantie! Die Frage aber wird uns begleiten: Wie gehen wir selbst mit diesen Anteilen tief in uns drinnen eigentlich um?
    Zunächst einmal sind da die Jünger. Bei dem frischesten und letzten von ihnen, bei dem Zöllner Matthäus, ist es förmlich mit Händen zu greifen, was es heißt, Jesu Jünger zu werden und zu sein. Er – und genauso all die anderen – hatten ja ihren Beruf, hatten ihre Sicht der Dinge. Sie hatten sich eingerichtet in ihrer Existenz. Sie wussten, was morgen erledigt werden musste und was für übermorgen vorzubereiten war. Uns heute geht es darin sicher keinen Deut anders. Und da mitten hinein der Ruf Jesu: „Folge mir!“ Was mag in diesen Menschen alles vor sich gegangen sein, was werden sie alles abgewogen haben, als sie diesen Ruf gehört haben? Folge mir – das klingt so ausschließlich und ist es auch. Das ist in der Tat ein eindeutiges Entweder-oder, das jede zweideutige Antwort ausschließt. Da gibt es kein ‚Mal sehen’, kein ‚Vielleicht’, keine Bedenkzeit, sondern: Folge mir!
    Allerdings trägt dieses „Folge mir“ auch eine große Verheißung in sich: Der das hört, dem das zugemutet und zugetraut wird, der wird nämlich von Jesus auch in besonderer Weise bedacht, und er bekommt eine tiefe Würde zugesprochen. Er, der bis eben noch eine eher zwielichtige Existenz geführt hat, er wird aus ihr heraus – und direkt in eine neue Lebensweise hineingeführt. Da hinein soll er künftig gehören. Wo etwa ist das deutlicher wahrzunehmen als ausgerechnet bei diesem Zöllner? Ab sofort gehört der bisherige Außenseiter dazu, ist nicht mehr allein in seiner bedrückenden Grauzone, sondern Freund und Weggenosse Jesu. Sein ganzes Leben, das bislang so im Alltagstrott dahinlief, das wird von jetzt auf dann bedeutsam, und er ist auf einmal wer. Das alles bewirkt dieses „Folge mir!“, der Ruf Jesu, der bis heute zu vernehmen ist und der auch unser Ohr erreichen will.
    Von Matthäus wird uns berichtet, dass er aufstand und ihm folgte. Das ist weit mehr, als ein Stück gemeinsamen Weges zu gehen. Er und die anderen Jünger folgten ihm, und das heißt: Sie widmeten ihm und seiner Sache fortan ihr eigenes Leben – und gewannen es mit diesem Schritt. Wie aber reagieren wir auf jenen Ruf über Raum und Zeit hinweg?
  3. Dann gibt es in der Geschichte neben den Jüngern noch andere, von denen die Rede ist, z.B. die Gäste, die mit zu Tische saßen. Es ist sicher kein Zufall, dass der neue Jünger Matthäus nicht alleine blieb mit dem, der ihn zu sich gerufen hatte. Auch andere hatten längst mitbekommen, was sich da an Neuem, an unerhört Neuem getan hatte. Und sie spürten förmlich diesen frischen Wind, fühlten sich zu dem Mann aus Nazareth hingezogen: „Siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tische mit Jesus und seinen Jüngern.“ Sie, die so lange draußen vor waren, mit denen sich keiner gemein machen wollte, sie merkten ganz intuitiv: Da ist einer, vor dem jeder zählt. Dem ist – ohne Unterschied – jedermann gleich wichtig.
    Und wer es schon einmal am eigenen Leibe miterlebt hat, was es heißt, außen vor zu sein, während man drinnen beieinander ist, der kann sich gut in die Lage dieser Gäste versetzen. Wer aber hätte das noch nicht mit durchgemacht – egal ob in der Klasse, im Verein oder im Betrieb? Natürlich möchte jeder dort sein, wo eine Kultur der Anerkennung und Wertschätzung, wo ein Klima von Wärme und Freundlichkeit in Geltung stehen. Zum Glück gibt es ja Menschen unter uns, die so etwas ein gutes Stück verkörpern und ausstrahlen: die Lehrerin, die allen ihren Schülern das Gefühl von Nähe vermittelt, der Polizist, der sich nicht hinter seiner Uniform versteckt, sondern wirklich offen ist für Menschen in verfahrener Situation, oder auch der Politiker, der im politischen Widersacher zu allererst den Mitmenschen und nicht den Gegner oder gar einen Feind sieht. An solche Menschen erinnern wir uns alle gern und oftmals ein Leben lang.
  4. Aber neben den Jüngern und den Gästen wird uns schließlich noch von anwesenden Pharisäern berichtet – übrigens sehr honorige, ehrenwerte Leute, ganz im Gegensatz zu dem Ruf, in dem sie so lange standen. Menschen waren das, die mit Ernst ihren Glauben leben wollten, mit einem tiefen Ernst. Gewiss, darüber war ihnen die Haltung des Empfangens, eines letztlich unverdienten und unverdienbaren Glaubens oft zu kurz geraten. Vielleicht zu vieles wollten sie aus sich selbst herausmachen, aber ihren Ernst in Glaubensdingen spreche ihnen niemand ab! Deshalb kann ich diese Menschen und ihre Reaktion nur zu gut verstehen: Was, mit denen isst er, ausgerechnet mit jenen, die auf anderer Leute Kosten leben, und das nicht einmal schlecht? Da kann Neid schnell hochkommen – verständlich, nur allzu verständlich. Können wir da nicht mitfühlen und mitreden: Der Aufstieg meines Kollegen, während ich auf der Karriereleiter da bleibe, wo ich schon so lange bin? Die strotzende Gesundheit des Nachbarn, während mich dieses oder jenes Zipperlein plagt? Der Erfolg der Freundeskinder, während die meinigen mir laufend Kopfzerbrechen bereiten? Wie schnell fühlen wir uns da zurückgesetzt, wo andere berufen werden oder einfach nur Glück haben? Wie gehe ich denn um mit Neid oder Missgunst auf meiner Seite? Aus Jesu Worten an die Pharisäer höre ich jedenfalls heraus: Ihr habt doch längst das, was ihr braucht. Heute jedenfalls seid ihr nicht dran. Damit geht ja beileibe keine Verurteilung einher und auch keine Verachtung. Jesus nimmt diese Menschen gerade in ihrem Ernst seinerseits sehr ernst und damit doch wohl auch an. Aber jetzt, gerade jetzt sind erst einmal die dran, die es nötiger haben.
  5. Diese Beobachtung führt mich zu einer letzten Bemerkung, die sich ganz auf den Beginn der Geschichte bezieht: Er „sah“ diesen Matthäus dort in seiner Zollstation sitzen. Er „sah“ ihn: Ein ganz kurzes Wort nur mit einem ganz weiten Hintergrund. Denn erst dieses Sehen löst alles andere aus. Es ist der wache und der im vollen Sinn des Wortes wahr-nehmende Blick Jesu auf diesen Menschen und seine Situation, der das ganze Geschehen in Gang bringt. Es wäre uns selbst, der Menschheit und der ganzen Schöpfung viel geholfen, wenn wir uns diese Art von Sehen und Wahrnehmen nur ein wenig zu eigen machen könnten. Gebe Gott uns dafür die nötige Offenheit und Aufmerksamkeit, die entsprechende Sensibilität und ganz viel Liebe! Amen.

Oberlandeskirchenrat i. R. Jürgen Jüngling
c/o sonderseelsorge.lka@ekkw.de

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