Nicht drinnen, sondern…

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Nicht drinnen, sondern…

Nicht drinnen, sondern draußen sein | Predigt zu Hebräer 13,12-14 von Udo Schmitt |

  1. Zwei Berge

War Jesus ein Selbstmörder? Hier im Hebräerbrief ist davon die Rede, dass er sich selbst als ein Opfer dargebracht habe (Heb 9,14), um die Sünden vieler wegzunehmen (Heb 9,28). Hat er sich also selbst getötet oder es zumindest zugelassen?  Oder ist das alles nur eine nachträgliche Interpretation seines gewaltsamen Todes? Kommen wir darauf gleich zurück. Folgen wir zunächst einmal den Gedanken jenes unbekannten Autors aus der zweiten Generation, der 50-60 Jahre nach den Ereignissen seine Denkschrift verfasste.

„Wir haben einen Altar“ heißt es unmittelbar vor Beginn des Predigttextes. Dieser Altar ist nicht im Tempel, steht auch nicht auf dem Tempelberg in Jerusalem. Unser Altar steht draußen vor der Stadt, bei den Aussätzigen, den Unreinen und Verstoßenen. Bei den Hingerichteten. Unser Altar ist Golgatha. Der Berg außerhalb von Jerusalem auf dem Jesus den Tod fand, gestorben ist. Zwei Berge. Der eine in Jerusalem. Glanzvoll. Prächtig, weithin leuchtend mit goldener Kuppel bis heute. Hier, so dachte man es sich damals, wird der Messias herrschen, wenn er kommt. Als König wie einst David, nur noch mächtiger – als Herrscher, wie einst Salomo, nur noch prächtiger. Doch dies war nicht der Berg. Er war dunkler, furchteinflößender, erbarmungsloser: Golgatha, Schädelstätte.

  1. Sündenbock und Hohepriester

Der Hebräerbrief versucht das, was da geschehen ist zu deuten. Und er findet dafür einen ganz eigenen Vergleich. Er erinnert daran, wie der Hohepriester am Jom Kippur, dem Versöhnungstag, ein besonderes Opfer darbrachte: Über zwei Böcke wurde das Los geworfen. Der eine wurde geopfert zu Reinigung des Tempels, der andere als „Sündenbock“ mit den Sünden des Volkes beladen, in die Wüste gejagt, in die Wildnis entlassen. Der Jom Kippur war (und ist) der höchste Feiertag Israels. Nur an diesem Tag durfte der Hohepriester das Allerheiligste, also den innersten Raum im Tempel betreten, um ihn rituell zu reinigen. Mit einem Opfer.

Das tut Jesus auch, sagt nun der Hebräerbrief. Er schafft Sühne, bezahlt für die Sünden. Er schafft Versöhnung, zwischen Gott und Menschen. Nur tut er es nicht im Tempel. Sein Altar ist Golgatha. Und er tötet auch kein Tier dafür. Er bringt sich selber dar. Jesus ist Sündenbock, Opferlamm und Hohepriester in einem. Jesus wiederholt also nicht die Opfer des Alten Bundes, er überbietet sie. Universal: Einer für alle. Und endgültig: Ein für alle Mal. Es braucht keine weiteren Opfer mehr. Gott hat sich in Jesus mit uns Menschen versöhnt. Unser Verhältnis ist wieder entstört. Dies ist es, was der Hebräerbrief sagen will, mag uns der Vergleich auch kühn erscheinen und die Bildersprache fremd. Wir tun uns schwer mit Begriffen wie Sünde, Opfer und Blut. Auch als Pfarrer. Dabei kann man diesen Text, so fremd er klingt, sehr wohl auf unsere Zeit beziehen: Nicht drinnen, sondern draußen geschieht es. Nicht im Tempel, sondern in der Welt. Nicht im Heiligtum, sondern bei den Unreinen.

  1. Hirtenprunk und Schafsgestank

Immer wieder steht die Kirche in der Gefahr, dies zu vergessen. Baut ihre Hütte auf dem Palasthügel, in der Schloßstraße, im Villenviertel und nicht bei den Favelas der Armen. Geriert sich wie ein Kirchenfürst, prangt in prachtvollen Gewändern, mit goldenem Hirtenstab ein Hochamt zelebrierend. Eine Veranstaltung anrührend altmodisch, nicht mehr ganz von dieser Welt, prunkliebend, pathetisch und peinlich weltfremd zugleich. Immer wieder braucht es den Impuls von außen, die Ermahnung, sich nicht selbst zu genügen, sondern in die Welt hinauszugehen, auch dorthin wo es schmutzig ist und streng riecht, um ebenda den Geruch der Schafe anzunehmen. Nicht Hirtenprunk, sondern Schafsgestank.  Nicht drinnen, sondern draußen sein. Denn dort geschieht es.

Als Christliche Gemeinde müssen wir uns fragen lassen: Wo seid ihr draußen? und: Wo bleibt ihr drinnen? Wo sind wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt? Mit unseren eigenen Fragen, Theorien, Strukturen, Finanzen und Verwaltungsreformen? Und wo sollten wir hinausgehen zu den Menschen, die vielleicht seltsam riechen, – aber für eben die ist er gestorben. Jesus Christus, unser Herr. Wir haben einen Altar, aber der steht draußen vor der Stadt, bei den Armen, den Alten, den Ausländern, den Aussätzigen. Zu ihnen sollen wir gehen. Nach draußen.

Nach draußen… Der Aufruf der Bibel hat einen seltsamen Klang in den Zeiten der Ausgangssperren. Unser urchristlichster Impuls, der uns zum Nächsten drängt, um Gemeinschaft zu gestalten, zum Schwächsten ruft, um helfend und tröstend zu handeln, er ist verboten in diesen Zeiten der Seuche. Vernünftigerweise. Sie sagen uns: Ihr helft nicht nur euch selbst sondern auch und gerade den Schwächsten, indem ihr euch fern von ihnen haltet. Aber wie kann das gehen? Wie können wir rausgehen, den Nächsten kontaktieren und doch zugleich uns fern von ihm halten?

  1. Neu anfangen und sozial bleiben

Nach draußen gehen, auf dem Weg sein, das heißt immer wieder neu anfangen. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Das klingt nach Kalenderblatt und Jahreslosung. Aber die Übersetzung in den Alltag schmeckt weniger: Nichts bleibt. Alles vergeht. Nicht alle Traditionen, die sich im Laufe der Zeit gebildet haben, werden wir bewahren können. Nicht alle Gebäude, die unsere Vorfahren im Laufe der Jahrhunderte gebaut haben, werden wir erhalten können. Sie sind eindrucksvoll, liebgewonnen und teuer, aber eben nur ein Stück des Weges, vergänglich, Stückwerk, vorübergehend, Etappen eben, aber noch nicht das Ziel.

Wir werden neue Wege suchen müssen. Zum Nächsten, zum Schwächsten. Überlegt einmal mit: Wie können wir einander helfen, durch diese Zeit hindurch? Wie können wir die Distanz einhalten, physisch, aber die Nähe suchen und bewahren. Sozial bleiben. Nächstenliebe erfahren und weitergeben?

„Social distancing“ ist jetzt das Gebot der Stunde. Aber dieses soziale Kontakt-Vermeiden ist eigentlich nur ein physisches Kontaktvermeiden. Und nur das sollten wir tun. Aber nicht asozial werden. Denn die sozialen Netze brauchen wir gerade jetzt, wir müssen sie pflegen oder neu aufbauen.

Wir müssen uns neue Wege überlegen, wie wir verbunden bleiben, auch wenn wir getrennt sind. Früher hat man sich Briefe geschrieben. Lange Telefonate geführt.  Vielleicht müssen wir dahin zurückkehren, uns wieder darin üben. Oder Neues erlernen, Videokonferenzen mit Freunden und Enkeln. Und uns so Aufmerksamkeit schenken. Uns gegenseitig dadurch trösten. Hast du ein Notizbuch mit Telefonnummern drin? Oder eine Kontakte-Liste auf dem Handy. Wen könntest Du anrufen? Wen möchtest du trösten? Wem Mut zusprechen?

  1. Helfer und Hamster

Mit unseren Worten und mit unseren Taten sollen wir Gott loben und den Menschen nahe sein: „Gutes zu tun und mit andern zu teilen vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott“, mahnt uns der Hebräerbrief (Heb 13,16). Die Sache ist klar. Nicht nur reden, sondern auch machen.  Aber schon wieder spricht er von Opfern. Wir können heute damit wirklich nicht mehr viel anfangen. Es widerstrebt uns zu glauben, dass unser Gott das braucht. All die Opfer. Geht das nicht auch ohne?

Tja. Die Bereitschaft, etwas zu opfern für andere – sich selbst aufzuopfern, ist nicht gerade in Mode. Um es vorsichtig zu sagen. Schon in guten Zeiten wollen die Menschen Spaß haben, suchen ihren Vorteil, den schnellen Erfolg, den Genuss. Sie sind aber eher weniger bereit, dafür auch etwas zu investieren. Längerfristig. Mit Leidensbereitschaft, Frustrationstoleranz. Doch genau das hat Jesus getan. Er war nicht lebensmüde und wollte auch nicht sterben. Aber er war bereit, für seine Sache bis zum Äußersten zu gehen – und seine Sache war der Mensch: Die Liebe Gottes zu allen Menschen zu bringen. Nicht drinnen, sondern draußen sein. Denn dort geschieht es.

Und er erfuhr das, was man auch heute noch erfahren kann: Helfer sind nicht „in“ – sondern „out“. Sie werden schlecht bezahlt, bei ihrer Arbeit auch noch behindert, bepöbelt und bespuckt. So liest man – je und dann. Doch dann… kommt die Krise, die Seuche, erfasst erst die einen, dann alle Länder. Und auf einmal sieht alles anders aus. Die Schnäppchenjäger mutieren zu Hamsterkäufern. Doch sie sind es nicht auf die es jetzt ankommt. Sie machen alles nur noch schlimmer. Sondern die, die sich einsetzen für andere, Dienste übernehmen, im Krankenhaus, im Altenheim, in der Nachbarschaftshilfe, die sich aufopfern dabei, sind auf einmal die, auf die es ankommt.

  1. Nicht drinnen, sondern draußen sein

Eine Krise, wie die gegenwärtige, kommt – und geht auch wieder. Sie bringt das Schlimmste aus dem Menschen hervor, aber auch das Beste. Aus hilflosen Helfern, die man sonst „Opfer“ schimpft, werden auf einmal die Heldinnen und Helden der Stunde. Das sollten wir uns merken. Und dabei bleiben als Christinnen und Christen: Andern helfen ist cool! Und sollte auch angemessen entlohnt werden. Nicht nur von Gott, sondern auch von uns Nutznießern.

Nicht drinnen, sondern draußen sein. Auch wenn man dafür dann nachher wieder belächelt und bespöttelt wird: Anderen helfen, für andere da sein, sich krumm machen, aufreiben. Nicht drinnen, sondern draußen sein. Nicht „in“, sondern „out“ sein, auch das kann heißen, Jesus folgen. Ihm auf der Spur bleiben. Den richtigen Weg gehen. Der uns nach draußen führt. Und der uns eben darum zugleich auch Gott näherbringt. Und dem himmlischen Jerusalem. Nach Hause. Heim.

 

Liedvorschläge:

EG 396 Jesu meine Freude

EG 398 In dir ist Freude

 

Udo Schmitt, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland, von 2005-2017 am Niederrhein, seit 2017 im Bergischen Land.

Dorfstr. 19 – 42489 Wülfrath (Düssel)

udo.schmitt@ekir.de

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