Noblesse oblige

Noblesse oblige

Predigt für den sechsten Sonntag nach Trinitatis – II – 19.7.2020 | 5.Mose 7,6-12 | verfasst von Suse Günther |

 

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch allen. AMEN

Denn Du bist ein heiliges Volk dem Herrn, Deinem Gott. Dich hat Gott erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind.

Nicht hat Euch der Herr angenommen und erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker, denn Du bist das kleinste unter allen Völkern, sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er Euren Vätern geschworen hat. Darum hat er euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft aus der Hand des Pharaos, des Königs von Ägypten.

So sollst du nun wissen, dass der Herr, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied denen hält, die ihn lieben und seine Gebote halten. Und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten denen die ihn hassen. So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich Dir heute gebiete, dass Du danach tust.

 

Gott, gib uns ein Herz für Dein Wort und nun ein Wort für unser Herz. AMEN

 

Liebe Gemeinde!

Einer meiner Lehrer im Gymnasium war 1924 geboren, also 1938 14 Jahre alt. Er erzählte uns, die wir damals in der achten Klasse waren, also ebenfalls 14 Jahre alt, folgende Begebenheit: Am Morgen des 10. November, also am Morgen nach der Reichspogromnacht, die Synagoge der Stadt rauchte noch, kam die Mutter einer Mitschülerin in die Schulklasse, um ihre Tochter abzuholen. Es handelte sich um ein jüdisches Mädchen, das an diesem Tag auch ausgerechnet noch Geburtstag hatte, 14 Jahre alt wurde, die Bat Mizwa hätte am darauffolgenden Wochenende angestanden.

Der alte Lehrer, der gerade seinen Mathematik Unterricht abhielt, sagte zu der Frau: „Nehmen Sie ihre Tochter und gehen Sie, so weit Sie können“

Niemand konnte dem Mann aus diesem Satz einen Strick drehen, auch die nicht, deren Familien streng Nazi treu eingestellt waren. Die Botschaft war trotzdem deutlich für die, die sie hören wollten.

Mein Lehrer, der aus einem christlichen Elternhaus stammte, war tief bewegt von der Erfahrung und hat davon seinem Vater, mit dem er am Nachmittag spazieren ging, berichtet. Der Vater sagte ihm: „Die Juden sind Gottes Volk. Es wird nicht gutgehen, wenn jemand Gottes Volk etwas antut.“ Mein Lehrer, der unmittelbar nach dem Abitur seinen Gestellungsbefehl bekam, hat noch oft an diese Worte denken müssen. Es ist nicht gut gegangen, das hat er als junger Mann miterleben müssen. Er hat viele Konsequenzen aus dieser für ihn so unbegreiflichen und schlimmen Zeit gezogen. Eine davon die, dass er selbst Lehrer wurde. Um nachfolgenden Generationen das mitzugeben, was sein Lehrer ihm damals mitgegeben hatte: Sagt und tut rechtzeitig das Nötige und das Richtige

Eine andere die: Haltet Euch an Gott

Und eine dritte: Er hat nach dem Krieg alles daran gesetzt, den Kontakt zu seiner Klassenkameradin wieder herzustellen. Er hat sie ausfindig gemacht in Frankreich. Noch am 10.11.1938 ist die Familie nach Frankreich geflohen und von dort aus, als abzusehen war, dass es auch in Frankreich nicht mehr sicher sein würde, in die USA, nach dem Krieg aber wieder zurück nach Paris. Der Kontakt der beiden Klassenkameraden blieb bestehen bis zu deren Tod.

Die Juden sind Gottes Volk

Durch Höhen und Tiefen hindurch, die dieses Volk in seiner wechselvollen Geschichte erleben musste, hat sich daran nichts geändert.

Die Worte unseres heutigen Predigttextes stammen aus dem Buch Deuteronomium, dem fünften Buch Mose, das als das älteste zusammenhängende Buch der Bibel gilt. Auch dieses Buch ist in einer für das Volk Israel sehr schweren Zeit entstanden: Zur Zeit des Königs Josia, der von 647 bis 609 vor Christus herrschte, sollen große Teile dessen „aufgetaucht“ sein, was wir heute fünftes Buch Mose nennen, eine Zusammenstellung von Verhaltensregeln, die es den Israeliten ermöglichen sollen, durchzuhalten, sich zu Gott zu halten und eine Zukunft zu haben.

Kurz vor unserem heutigen Predigttext (5.Mose 6, 4f) finden sich die Worte, die die Juden als Glaubensbekenntnis verbinden und die sie in einem kleinen Glasröhrchen, der Mesusa, an ihren Türrahmen hängen:

„Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und Du sollst den Herrn Deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all Deiner Kraft“: Gott ist einer, halte Dich zu ihm.

Diese Durchhaltesätze und Ermutigungen hatte das Volk Israel zur Zeit des Königs Josia bitter nötig.

Damals hatten die Assyrer den Tempel der Juden geschlossen, die Juden durften ihren Glauben nicht leben, stattdessen waren heidnische Kulte im Land verbreitet.

Wieder einmal eine Zeit, in der es nicht gut angesehen war, dem jüdischen Glauben anzugehören. Und wieder einmal eine Zeit, in der es gerade dann wichtig war, sich zu diesem Glauben zu bekennen. Denn er war das, was die Menschen zusammenhielt. Sich zum gemeinsamen Glauben zu bekennen, zur Gemeinschaft zu gehören, das ließ die Menschen nicht nur durchhalten, sondern eben auch Juden sein.

Für uns evangelische Christen heute steht viel mehr die ganz persönliche Entscheidung im Mittelpunkt unseres Glaubens. Unsere ganz persönliche Beziehung zu Gott. Für die Juden ist es die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, die sich an Gott orientiert, die einen als Juden ausmacht.

Das Blatt hat sich damals, zur Zeit des Königs Josia, für die Juden noch einmal gewendet. Die Assyrer verloren an Macht, die Juden konnten ihren Tempel wieder öffnen und ihren Glauben wieder leben. Auch wenn oder gerade weil sie in dieser Zeit vor allem von den Ägyptern bedroht waren, kam es damals zu einem starken Nationalismus im Land. Man wehrte sich mit aller Kraft gegen heidnischen Kulte, die jüdische Religion lebte ganz neu auf

„Gott hat euch erwählt, er hat euch ausgesucht, auch wenn ihr ein kleines Volk seid“ – so lesen wir im heutigen Predigttext. Daran ändert auch eine wechselvolle Geschichte nichts, daran ändern auch Menschen nichts, die es besser zu wissen glauben. Gott wählt aus, er beruft Menschen. Dass es oft kein Zuckerschlecken ist, ausgewählt zu sein, davon erzählen die Menschen in der Bibel. Eine Aufgabe, eine Herausforderung ist oft damit verbunden, für die Juden wie später auch für die Christen, die durch Jesus ebenfalls diese Aufgabe bekamen, zu Gottes Volk zu gehören.

Wir feiern heute den Sonntag, in dessen Mittelpunkt für die Christen die Erinnerung an die Taufe steht.

Auch hier ist es wichtig, sich daran zu erinnern, es ist Gott, der auswählt.

Es wurde viel diskutiert in den vergangenen Jahren, ob es sinnvoll ist, schon kleine Kinder zu taufen, die dazu ja noch gar nichts sagen können. Viele Eltern entscheiden inzwischen dagegen mit der Begründung: Das Kind soll später mal selbst entscheiden.

Für die Taufe schon als Baby aber spricht unser Glaube daran, dass Gott es ist, der uns in seine Nähe ruft.

Ob wir ihm dann später immer noch angehören möchten, ob wir uns in unserer Glaubensgemeinschaft engagieren möchten, ob wir glauben, das ist dann immer noch unsere Entscheidung. Gottes Entscheidung aber steht. Er macht den ersten Schritt und sagt jedem von uns bei der Taufe das ganz persönlich zu: „Du bist geliebt. Du bist gewollt. Du gehörst zu meinem Volk.“ Gott hält seinen Bund. Sein Versprechen gilt.

Deshalb ist es Unsinn, sich, etwa beim Eintritt in eine fromme Glaubensgemeinschaft oder beim Wiedereintritt in die Kirche ein zweites Mal taufen zu lassen.

Gott führt in die Freiheit – die zentrale jüdische Glaubenserfahrung, aus der Sklaverei in Ägypten befreit worden zu sein, gilt auch für uns Christen: Gott befreit zum Leben.

Aber, auch da ist unser Predigttext eindeutig:

Mit dieser Befreiung ist eine Aufgabe verbunden: Sich anderen gegenüber an Gottes Gebot zu halten. Oder um es mit den Worten aus dem Jahr 1938 zu sagen: „Es wird nicht gutgehen, wenn jemand Gottes Volk etwas antut.“

Gott erwählt, er nimmt uns auf in seinen Bund. Wir sind sein Volk. In dieser Welt, in unserer Gegenwart sind wir in seinem Namen unterwegs. Wir sind beschützt, befreit und beauftragt. In dieser Spannung leben wir bis heute: Es ist gut, Gottes Volk zu sein. Es ist schwer Gottes Volk zu sein.

Deshalb bin ich froh, dass am Anfang meines Weges mit Gott seine eindeutige Entscheidung für mich steht. Ich bin getauft in seinem Namen. Ich gehöre dazu. Und für das, was dann kommt, wende ich mich immer wieder aufs Neue an ihn. Er hat von allem Anfang an gewusst, was er mit mir vorhat. Er wird es weiter wissen. AMEN

 

de_DEDeutsch