Offenbarung 5,1-14

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Offenbarung 5,1-14

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


1.
Advent

28. November 1999
Offenbarung 5,1-14

Hans–Gottlieb Wesenick


Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron
saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben
Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme:
„Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?“

Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde,
konnte das Buch auftun und hineinsehen. Und ich weinte sehr, weil niemand
für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. Und
einer von den Ältesten spricht zu mir: „Weine nicht! Siehe, es hat
überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun
das Buch und seine sieben Siegel.“

Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Gestalten und
mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte
sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes,
gesandt in alle Lande.

Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf
dem Thron saß. Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Gestalten und
die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine
Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der
Heiligen, und sie sangen ein neues Lied: „Du bist würdig, zu nehmen das
Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem
Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und
Völkern und Nationen und hast sie unserm Gott zu Königen und
Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden.“

Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den
Thron und um die Gestalten und um die Ältesten her, und ihre Zahl war
vieltausendmal tausend; die sprachen mit großer Stimme: „Das Lamm, das
geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit
und Stärke und Ehre und Preis und Lob.“

Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter
der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen:
„Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und
Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!“

Und die vier Gestalten sprachen: „Amen!“ Und die
Ältesten fielen nieder und beteten an.

Liebe Gemeinde!

Um ein Buch geht es hier, genauer: um das Öffnen eines
Buches, das siebenfach versiegelt ist. Und um Advent geht es hier,
natürlich!, Darum, daß wir uns öffnen für eine Zeit der
Erwartung und für das, was kommen wird, daß wir uns öffnen
für den, der kommen wird.

Advent, Weihnachten und was dazugehört, das ist uns vertraut,
das kennen wir. Gewiß, nicht alles davon verstehen wir von vornherein.
Das Wochenlied (EG 4) von dem Heiland der Heiden ist z. B. eines von den schwer
verständlichen Stücken dieser Zeit. Bischof Ambrosius von Mailand hat
es vor über 1.600 Jahren lateinisch gedichtet. Vor nun 475 Jahren hat
Martin Luther es ins Deutsche seiner Zeit übersetzt. Deshalb wirkt sein
Versmaß auf unsere Ohren spröde, und die Sprache dieses
Adventsliedes, vor allem seine Bilder und Aussagen sind vielen von uns Heutigen
schwer zugänglich. Zwar wurzeln sie alle in der Bibel, gewiß; aber
viele unter uns kennen diese Hintergründe und Zusammenhänge kaum
mehr. Dennoch bleibt das Lied als solches eines der bekannten und vertrauten
Stücken der Advents- und Weihnachtszeit.

Im Gegensatz dazu nun aber das 5. Kapitel aus der Offenbarung, aus
dem letzten Buch der Bibel: das ist uns wirklich fremd! Das geheimnisvolle Buch
mit den sieben Siegeln – bis heute von uns sprichwörtlich für
alles schwer Verständliche gebraucht – es ist nicht zum Lesen da!
Werden jedoch seine Siegel aufgebrochen, dann tun sich Visionen auf. Dann kann
man etwas sehen. Und das schildert der Seher Johannes tatsächlich in den
nächsten Kapiteln: Gestalten kommen ihm entgegen, vier Pferde – ein
weißes, ein feuerrotes, ein schwarzes und ein fahles Pferd, darauf
Reiter: mit einem Bogen, mit einem großen Schwert, mit einer Waage und
zuletzt der Tod in Person. Jeder Reiter wird mit Donnerstimme herausgerufen.
Und in ihrem Gefolge geschehen schreckliche Dinge, werden Schalen des Zorns
ausgegossen, wird Gericht über die Menschen und die ganze Welt gehalten.

Was Johannes im Zusammenhang mit dem Buch sieht, kommt mir vor wie
der Film auf einer Videokassette. Von außen sieht sie auch beinahe wie
ein Buch aus, und legt man sie ein, erscheinen Bilder auf der Mattscheibe. Bei
Johannes tauchen sie in schneller Folge auf wie ein bunter, wilder Film mit
ständig neuen Einstellungen. Ich zähle nur die auf, die in unserem
Predigttext geschildert werden.

Zuerst sitzt da eine Gestalt auf dem Thron und von einem Buch ist
die Rede, das mit sieben Siegeln verschlossen ist. Dann hört der Seher den
fragenden Ruf des Engels, erlebt die Ratlosigkeit des himmlischen Hofstaates,
wie sie bekanntlich schon einmal im Alten Testament geschildert worden ist (1.
Kön. 22, 19–22). Der Seher bricht in Tränen aus, doch einer von
den Ältesten tröstet ihn. Da leuchtet also eine seelsorgerliche
Dimension auf! Und schließlich sieht er das Lamm mit dem
Schlächterschnitt am Hals und den Zeichen herrscherlicher Würde (die
sieben Hörner und die sieben Augen). Das Lamm nimmt das Buch, und der
ganze versammelte Hofstaat kniet huldigend vor ihm nieder und stimmt einen
großen Lobgesang an.

Ein eigenartiger Film ist es, der da abläuft! Beinahe
könnte man an eine Mischung aus Science fiction, Horror und Sehnsucht nach
einem guten, erlösenden Ende denken.

Visionen – die kennen wir auch von Videos und vom Fernsehen:
die schrecklichen Dinge mit dem guten Ende, den Kampf des Guten gegen das
Böse. Was wir daneben nahezu täglich auf der Mattscheibe sehen, das
sind meistens Schreckensvisionen: ein GAU ist zu befürchten in den
unsicheren Kernkraftwerken; vom strahlenden Müll unter der Erde, auf dem
Meeresgrund. Vielleicht müssen wir uns demnächst sogar vom All her
bedroht fühlen: das Ozonloch über den Polen der Erde ist unser
Menetekel an der Wand.

Jetzt und hier, auf unserer Erde, werden also immer wieder
apokalyptische Szenarien durchgespielt: atomare Verseuchung, Hunger, Krieg;
Flüchtlinge, die über Grenzen strömen oder festgehalten werden,
Abbrennen des Regenwaldes, Ölpest nach einem Tankerunglück – und
Haß und Brandsätze und menschliche Verbohrtheit. Liebe Gemeinde,
solche Schrecken finden nicht im Himmel statt, sondern auf unserer kleinen
Erde! Da kann einem Hören und Sehen vergehen!

Aber das soll doch so nicht sein! Im Gegenteil, wir sollen genau
hinhören und hinsehen, so wie es der Seher Johannes tat. Und der soll
nicht nur hinsehen, sondern auch noch aufschreiben, was er sieht: „Schreibe,
was du gesehen hast und was ist und was noch geschehen soll danach.“

Und Johannes hat es aufgeschrieben: „In der Hand dessen, der
auf dem Thron saß, sah ich ein Buch, beschrieben innen und außen,
versiegelt mit sieben Siegeln.“
Johannes sieht eine Gestalt auf dem Thron
sitzen, und damit ist Gott gemeint; doch er beschreibt diese Gestalt nicht
weiter, denn von Gott soll man sich kein Bildnis machen. Diese Gestalt
hält ein Buch in der Rechten, beschrieben innen und außen, denn die
Botschaft des Buches sprengt offenbar jeden Rahmen. Sie läßt sich
nicht einbinden zwischen zwei Buchdeckeln, sie läßt sich nicht
bändigen. Darum ist das Buch zusätzlich versiegelt mit sieben
Siegeln. Soll es darum auch für uns ein Buch mit sieben Siegeln sein?

Johannes schildert, was weiter geschieht: „Ich sah einen starken
Engel, der rief mit großer Stimme: „Wer ist würdig, das Buch
aufzutun und seine Siegel zu brechen?““ Ein starker Engel – wer mag das
sein? Jedenfalls ein Ausrufer, ein Herold, ein Bote Gottes. Nach seinem Ausruf
beginnt sogleich die große Suche nach dem, der würdig ist. Wir,
liebe Gemeinde, wissen aber bereits: das kann nur einer sein!

Auch in den Märchen gibt es dieses Motiv: Wer ist
würdig, die Königstochter aus den Klauen des feuerspeienden Drachen
zu befreien, die undurchdringlichen Dornen zu überwinden, den kostbaren
Edelstein aus dem Zauberberg zu holen, den verwunschenen Bruder zu
erlösen? Immer ist es nur einer! Viele versuchen es, aber nur einem
gelingt es. Und dieser Eine ist niemals der Starke, der Stolze, der
Hochgestellte, sondern es ist immer der Einfache, der Bescheidene, der
Schwache. Niemals ist es der Löwe – immer ist es das Lamm.

Wer ist würdig, Gottes Buch aufzutun? Niemand! In allen drei
Lebensbereichen, im Himmel, auf der Erde und unter der Erde – niemand ist
würdig! Keine von den Mächten, mit denen wir rechnen, sei es Mensch
oder Teufel oder Engel, ist in der Lage, die Siegel zu brechen und das Buch zu
öffnen. Nur einer ist würdig und in der Lage dazu, und vor ihm werden
die Seiten des Buches sich öffnen wie von selber.

„Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig
befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.“
Der Seher Johannes
weint bei seiner Vision. Wir weinen manchmal im Traum, weil sich eine Tür
nicht öffnen lassen will oder sonst etwas ganz Trauriges oder
Schreckliches passiert, und manchmal ist unser Kopfkissen am Morgen
tatsächlich naß von Tränen. Wir weinen manchmal auch, weil wir
nicht mehr durchsehen, wenn unselige Verknotungen über uns
zusammenschlagen, uns lähmen wollen und fesseln.

Mir scheint, solche Tränen haben fast etwas Befreiendes.
Liegt nicht Freiheit darin, Tränen, wenn sie kommen, ihren Lauf zu lassen,
sie nicht sofort abwischen zu wollen? Jesus weinte über sein von Gott
geliebtes Volk, über Jerusalem und auch über Lazarus. Was Wunder, das
derjenige, der das Weinen freigab und sogar mit den Menschen teilte, dann auch
derjenige ist, der Knoten und Siegel zu lösen vermag: wert und würdig
dazu! Ein vorwitziges, neugieriges, nur allgemein interessiertes Aufknoten und
„Lösen von Problemen“, ein sentimentales Husch–Husch wäre hier
jedenfalls nicht am Platz.

Johannes hört jetzt die Stimme eines der 24 Ältesten,
die Gottes Thron umstehen: „Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der
Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine
sieben Siegel.“
– Weine nicht! Verzweifle nicht! Gib nicht auf! Es ist
doch schon längst einer da, der das kann, worauf du so sehnsüchtig
wartest! Das ist der, der den Beinamen trägt „Löwe aus dem Stamm
Juda“ und „Wurzelsproß“, „Nachkomme Davids“, der zu Bethlehem geboren
ist, wie es die Weissagungen des Alten Testaments verheißen, die wir zu
Advent und Weihnachten verlesen und auf Jesus von Nazareth hin verstehen und
deuten. Er allein ist würdig, das Buch und seine sieben Siegel zu
öffnen.

Dem Seher erscheint dieser Löwe aus dem Stamm Juda als Lamm,
als geschlachtetes Lamm, als Opfer und Sieger zugleich – ein Stück
Passions- und Ostergeschichte! Karfreitag und Ostern im Advent!

Das Lamm nimmt das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem
Thron sitzt. „Christe, du Lamm Gottes“ singen wir bei jeder
Abendmahlsfeier, „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünde
der Welt!“

Das Lamm, der gekreuzigte Mensch, der Nachkomme Davids, Jesus
Christus, der selber das volle Gericht getragen hat, das sich im jagenden
Galopp jener Pferde vollzieht, die der Seher im nächsten Kapitel
schildert, Jesus Christus, der zum Opfer der Gerechtigkeit und der Gier der
Menschen wurde – das Lamm enthüllt, was es mit unserer Geschichte und
Wirklichkeit auf sich hat, welches ihr Sinn und ihre bestimmenden Kräfte
sind.

Wo kommt dieses Lamm her? Nicht mehr Mensch ist es, nicht Engel
– es kommt von Gott. Es ist von Anbeginn der Welt an dagewesen, und es
wird am Ende der Welt dasein. In Christus, dem Lamm, fallen Vergangenheit und
Zukunft zusammen. Anfang und Ende werden beschrieben, Alpha und Omega, und wir
leben genau dazwischen.

So haben es die Christen, für die Johannes seine Visionen
aufschrieb, damals erlebt. Sie meinten sogar, das Ende der Welt, der Anbruch
des Reiches Gottes, die Wiederkunft Christi, das jüngste Gericht
stünden nahe bevor. Denn sie lebten in arger Bedrängnis:
Gefängnis, Folter und Tod warteten auf den, der nicht dem römischen
Kaiser opferte und ihn als Gottes Sohn oder gar als Gott selber anbetete –
und das wollten sie auf keinen Fall. Schlimmer konnte es kaum noch werden.
Klar, daß sie sich nach dem Ende solcher Bedrohungen, solcher
Verfolgungen und Leiden sehnten, verständlich, daß sie sich
Erlösung in Gottes Herrlichkeit wünschten.

Verständlich auch, liebe Gemeinde, daß Johannes seine
Visionen deshalb aufschrieb, weil er seine bedrängten Mitchristen
trösten und ermutigen wollte mit der Gewißheit: Gott, der
allmächtige, ist und bleibt Herr der Welt und aller
menschlich–irdischen Mächte! Solche Glaubensgewißheit spricht
auch aus dem bekannten Liedvers: „Gottes Macht hält mich in acht, Erd
und Abgrund muß verstummen, ob sie noch so brummen!“

Sicherlich fühlen wir heute nicht gerade das Ende der Welt
nahe, und wenn, dann eher im Sinne jener Schreckensbilder, die ich anfangs
aufzählte. Die vermögen ja durchaus zu ängstigen, und Grund zu
verändertem Handeln geben sie allemal. Eines wissen wir daneben aber auch:
wir suchen Trost, wenn wir traurig sind. Wir sehnen uns nach dem Ende des
Leidens, wenn es über uns gekommen ist. Und sind wir am Ende, dann
möchten wir gern neu anfangen können!

Was nehmen wir mit von dieser Vision des Johannes mit dem Buch der
sieben Siegel? Daß der Löwe ein Lamm wird? Daß dieses Lamm an
Weihnachten als Kind in unsere Welt geboren ist? Die Erwartung des
Christuskindes erfüllt uns im Advent. Wir wollen es anbeten an Weihnachten
und Gott die Ehre geben.

Dazu möchte ich aber auch den Glauben, die Überzeugung
mitnehmen: wir leben im Advent genau dazwischen, nämlich zwischen der
geschehenen Geburt Jesu und seiner erhofften Wiederkunft. Wir erleben Versagen,
Mißerfolg, Enttäuschung, Leiden, Weinen zur Nacht, Zeichen des
Sterbens und der Vergeblichkeit. Doch wo es das gibt, da kann uns das zugleich
immer auch Gottes Neuanfang anzeigen. Denn bei Gott gibt es keine
aussichtslosen Situationen und keine hoffnungslosen Fälle.

Die Überwindung, der Sieg des Lammes, sie geschehen mitten
unter uns. Denn das Kind in der Krippe ist ja gekommen. Es bürgt
dafür. Und darum dürfen wir wie die Ältesten im himmlischen
Thronsaal Gott loben und preisen und niederfallen vor dem Geheimnis: Gottes
Liebe in einem Kind – für uns! Unsere Ängste, Sorgen und
Tränen haben nicht das letzte Wort. Amen.

Pastor i. R. Hans–Gottlieb Wesenick,
Stauffenbergring 33, 37075 Göttingen
Tel. 05 51 / 2 09 97 05, Fax 2 09
97 08,
E–mail:
H.-G.Wesenick@t-online.de

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