Paulus redet dazwischen

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Paulus redet dazwischen

Predigt über Röm (11, 25-32) am Israelsonntag | um 19 Uhr im Abendgottesdienst in der Reformierten Kirche in Schöftland/Aargau  | verfasst von Dörte Gebhard |

 

Lesung

 

Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist.

Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59, 20; Jeremia 31, 33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob.

Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«

Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.

Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.

Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams,

so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen.

Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme (Röm 11, 25-32).

 

Predigt

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

 

Liebe Gemeinde

Heute muss ich gar nicht predigen. Seit Anfang 2019 lesen wir im Bibelgesprächskreis den Römerbrief und deshalb ist Paulus mir immer wieder begegnet. Er redet mir seither oft hinein in meine Vorbereitungen. Hört, es geht schon wieder los …

Wie nennt Ihr das? „Römerbrief“? Den habe ich verfasst, Paulus, Diener von Christus Jesus, zum Apostel berufen und dazu bestimmt,

Gottes Gute Nachricht zu verkünden (Röm 1, 1) – das steht gleich in der ersten Zeile! Habt Ihr den Absender auch gelesen?!

Römerbrief! Tss!! Das wäre ja wunderbar gewesen! Wenn ich an alle Römer in dieser Millionenstadt hätte schreiben können!

Nein, viel mehr als 200, vielleicht 250 werden nicht zur christlichen Gemeinde gehört haben in den 50er Jahren. Ehrlich gesagt: Ich kannte gerade eine Handvoll Leute aus der Gemeinde, als ich an sie schrieb. Ich wusste gar nicht so genau, wer da überhaupt lesen kann, wie sie so drauf sind, ob sie über mich schon mehr als nur sonderbare Gerüchte gehört hatten. Aber ich schrieb nach Rom im Winter 52, weil ich mich auf den Weg in die Hauptstadt machen wollte, ich schrieb gar nicht an Euch in … in … „Schöftland“ oder wie das genau heisst bei Euch.

Eure „Pfarrerin“ oder wie ihr das jetzt nennt, konnte mich wenigstens beruhigen, dass dieses Schöftland und Eure ganze Gegend zum Römischen Reich gehörten! In Windisch war ein Legionärslager, in Oberentfelden ein grösserer Gutshof, die Grenze des Reiches bei Euch war der Rhein.

Jetzt weiss ich übrigens, dass meine Post in Rom offenbar angekommen ist! Irgendwer konnte also lesen und schreiben … alles andere als selbstverständlich zu meiner Zeit! Und sie haben den Brief lange aufgehoben und dann abgeschrieben, immer wieder  … Man soll es nicht sein, aber ein bisschen stolz bin ich schon!

Ach ja, noch etwas. Sagt immer auch: „Römerinnenbrief“, wenn ihr schon diese komische Bezeichnung beibehaltet. Ohne die Frauen lief in den ersten Gemeinden gar nichts, das könnt ihr mir glauben! Ohne Phöbe aus Kenchreä, ohne Priska, Maria, Junia, Tryphäna und Tryphosa, Persis und die Mutter von Rufus, ohne Julia und die Schwester von Nereus – Wie hiess sie gleich schon wieder? – wäre kein Gemeindeleben in Gang gekommen, in Rom nicht und nirgends.

Aber diese Namen sagen Euch nichts mehr. Leider. Ich weiss, ich habe halt nur kurze Grüsse am Schluss geschrieben, habe es nicht mehr geschafft, alles aufzuschreiben, was sie geleistet haben, das tut mir echt leid. Aber Tertius, dem ich meinen Brief diktiert habe, hat mir jeden Tag die Ohren vollgeheult, Papyrus sei schon wieder teurer geworden, ich soll endlich zum Schluss kommen, ich soll mich kurzfassen. Er hat ja sowieso ohne Punkt und Komma geschrieben, alles andere wäre auch Verschwendung gewesen.

Eure Pfarrerin hat mir übrigens gezeigt, wie mein Brief jetzt um die Welt geschickt wird! Das hat mich schwer beeindruckt. Denn Ihr könnt drucken, Abermillionen von Exemplaren, so viel Ihr wollt! Ganz schnell! Das hätte ich mal Tertius, meinem Schreiber, prophezeien sollen, der hätte mich endgültig für verrückt erklärt. Der war sowieso schon skeptisch, ob mein Brief überhaupt in Rom ankommt. Da konnte auf dem Postweg so viel dazwischenkommen. Guckt Euch mal die alten Römerstrassen an, bei Euch, in der «Schweiz» oder wie Eure Gegend neuerdings heisst. Geht mal auf den Bözberg, auf den Hauenstein, auf den Grossen St. Bernhard die alten Fahrwege anschauen. Das dauerte, bis man in Rom war!

Ihr könnt angeblich von Schöftland in gut neun Stunden in Rom sein, aber manche sollen schon nörgeln, wenn Eure sogenannte «SBB» mal neun Minuten Verspätung hat, habe ich mir sagen lassen. Sagt mal, seid Ihr eigentlich echte Christinnen und Christen? Eure Pfarrerin fing dann noch an, man könne auch nach Rom fliegen! Hoch oben durch die Luft! Da musste ich die gute Frau endgültig bremsen: Ich, Paulus, von Beruf Apostel, glaube wirklich fest an Wunder, habe sie am eigenen Leibe erlebt, bin befreit worden und mehrmals knapp dem Tod entgangen – mit Gottes Hilfe. Aber das bedeutet nicht, dass ich komplett naiv bin und jedes Märchen glaube! Durch die Luft fliegen in einem Gehäuse aus Metall …

Wenn ich jedenfalls von Korinth in neun Wochen in Rom gewesen wäre, hätten alle gestaunt, ich selbst am meisten!

Wenn ich ausserdem gewusst hätte, dass der Brief mehr als 2000 Jahre lang gelesen wird, hätte ich natürlich ganz anders losgelegt! Das könnt ihr mir glauben! Aber ich konnte es mir einfach nicht vorstellen, dass Gott so lange Geduld hat. Ich war ziemlich fest überzeugt, dass der Herr sehr, sehr bald wiederkommt. Ja, klar habe ich gehofft, dass es noch zu meinen Lebzeiten geschieht! Was denn sonst!? Ja, ja, bei Gott sind tausend Jahre wie ein Tag (Ps 90, 4), das habe ich auch gelesen. Aber Ihr müsst wissen: Für mich fühlte sich manchmal ein Tag – im Gefängnis – auch wie tausend Jahre an!

Eure Pfarrerin hat mir dann noch eine echt interessante Erfindung gezeigt. Ihr habt den Römerbrief und überhaupt meine Post an die Gemeinden eingeteilt in Abschnitte und überall Nummern davor geschrieben. Ihr unterhaltet Euch über meine Post mit diesen Zahlen. Ihr sagt dann zueinander: Hast du gehört, was in Römer 11, 25-32 steht? Römer 11, 26 zitiert er Jesaja 59, 20 und Jeremia 31, 33! Mir wird da bisschen Sturm im Kopf von all diesen Zahlen. Eure Einteilung, ich will ehrlich sein, ist auch nicht besonders sinnvoll. Manchmal zerreisst Ihr den Satz mit einer neuen Nummer, manchmal teilt ihr den einen grossen Gedankengang mit einer neuen Kapitelüberschrift. Aber das nur am Rande, selbstverständlich habe ich Römer 11, 25-32 gehört, es wurde ja eben in Eurem Gottesdienst laut vorgelesen.

Ihr ahnt nicht, wie lange ich an jedem einzelnen Wort studiert habe! Dass ich schreiben musste, ein Teil Israels sei verstockt, tut mir bis heute in der Seele weh. Aber anders konnte ich es mir einfach nicht erklären, dass sie mich aus der Synagoge warfen, obwohl ich es immer wieder versuchte, in Frieden zu ihnen zu reden. Ich bin doch einer von ihnen, Abraham ist auch mein Urvater, ich gehöre zum Stamm Benjamin (Röm 11, 1). Aber in Rom spielte das wohl weniger eine Rolle, da gab es wahrscheinlich kaum Judenchristen, also Menschen, die zuerst Juden waren und dann Christen wurden. In Rom waren sie fast alle sogenannte Heidenchristen, also solche, die an irgendwelche Götter geglaubt hatten und nun den Schöpfer der Welt kennenlernten und Jesus Christus, seinen Sohn.

Ihr in Schöftland seid weder Juden- noch Heidenchristen, richtig? Ihr seid quasi «Christenchristen» oder sogar «Christenchristenchristen», weil Eure Eltern oder sogar schon Eure Grosseltern selbst Christen waren.

Das ist für mich ein grosses Wunder: Obwohl Ihr gar keine Juden- und Heidenchristen mehr seid, lest Ihr immer noch meine Post nach Rom. Später wurde das übrigens mein Testament, gottlob wusste ich das beim Schreiben nicht. Sonst hätte ich mir wohl manchen Satz verkniffen.

Vielleicht ist das die wichtigste Nachricht für Euch von allen, die ich damals geschrieben habe:

Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.

Eure Pfarrerin sagte mir, dass Ihr alle den Römerbrief bei Euch zu Hause habt. Stimmt das? Ich kann es mir zwar immer noch nicht ganz vorstellen, aber sucht ihn gleich hervor, wenn ihr daheim seid und streicht Euch diesen Satz an:

Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.

Das ist Römer 11, 29, wenn ich so sagen soll. Römer 11, 29 – irgendwie doch noch praktisch, mit Euren Nümmerchen, das muss ich doch zugeben.

Dass Gott gerade dann treu ist, wenn es die Menschen nicht sind, daran habe ich mich gehalten. Trotz allem, was mir widerfahren ist. Gegen allen Augenschein. Gott bereut nicht, wen er erwählt und berufen hat. Damals nicht und heute nicht.

Was unterdessen in all den Jahrhunderten zwischen Juden und Christen geschah, hat mir Eure Pfarrerin berichtet. Eine entsetzliche Geschichte, ich konnte es fast nicht aushalten, die Schrecken nahmen kein Ende, bis heute nicht. Schon die Gräuel im Mittelalter waren unerträglich. Für den Holocaust im 20. Jahrhundert fehlen mir die Worte. Sie sagte freundlich, aber bestimmt, sie könne mir das nicht ersparen, gerade ein Paulus müsse unbedingt wissen, was die Christenheit den Juden angetan hat. Nichts davon konnte ich kommen sehen, nichts davon wollte ich mit meinem Römerbrief bezwecken! Bitte glaubt mir!

Aber Eure Pfarrerin hat mir gottlob auch gezeigt, dass es inzwischen viele Bemühungen von Christen und Juden gibt, sich zu verständigen und gemeinsam zum Frieden in der Welt beizutragen. Rabbiner haben eine Erklärung zum Christentum verfasst, die ziemlich in meinem Sinne ist. Und Tertius musste sie gar nicht abschreiben, Eure Pfarrerin hat sie einfach ausgedruckt und mir in die Hand gedrückt.

Habt Ihr noch einen kleinen Augenblick Zeit? Dann lese ich euch noch ein paar Sätze daraus vor:

„Juden wie Christen teilen eine Mission in der Verheißung des Bundes, die Welt unter der Herrschaft des Allmächtigen zu verbessern, so dass die gesamte Menschheit Seinen Namen anruft und Laster von der Erde verbannt werden. Wir verstehen das Zögern beider Seiten, diese Wahrheit anzuerkennen und fordern unsere Gemeinschaften zur Überwindung dieser

Ängste auf, um ein auf Vertrauen und Respekt gegründetes Verhältnis zu schaffen. Rabbiner Hirsch hat uns auch gelehrt, der Talmud stelle Christen in Bezug auf die Pflichten von Menschen miteinander auf eine Ebene mit den Juden. Sie haben Anspruch auf sämtliche Vorteile der Verpflichtungen, nicht nur in Bezug auf Gerechtigkeit, sondern auch auf aktive, brüderliche Liebe.“[1]

Wie gern hätte ich an einem solchen Text mitgewirkt! Aber ich war damals beim Schreiben ziemlich auf mich allein gestellt! Am Schluss drehen die Rabbiner übrigens richtig auf:

„Indem sie G-tt nachfolgen, müssen Juden und Christen Vorbilder geben in Dienst, bedingungsloser Liebe und Heiligkeit. Wir sind alle im heiligen Ebenbild G-ttes geschaffen und Juden wie Christen werden diesem Bund treu bleiben …“.

Ob wir uns darauf verlassen sollten? Dass die Menschen dem Bund mit Gott treu bleiben? Verzeiht mir, aber da fehlt mir dann doch der Glaube an die Juden und an die Christenheit – nach allem, was ich inzwischen gehört und gelernt habe.

Dafür ist mein Gottvertrauen im Laufe der Zeit noch viel grösser geworden, ich habe das aber auch schon nach Rom geschrieben:

»Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob.

Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«

Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

 

Auf meinen Reisen habe ich ziemlich viele Leute kennengelernt, die Gott suchten. Aber vor allem bin ich in Jesus Christus Gott begegnet, der seinerseits die Menschen sucht. Darauf kommt es an, egal, ob bei Euch Leute durch die Luft fliegen …

Gott, der allein weise ist, sei Ehre durch Jesus Christus in Ewigkeit! Amen (Röm 16, 27).

Amen? So endet jedenfalls der Brief des Paulus nach Rom und für heute sein Gedankengang. Ich sagte ja eingangs, dass ich diesmal gar nicht zum Predigen komme. So bleibt mir nur das Amen.

Dörte Gebhard, Pfarrerin

doerte.gebhard@web.de

 

 

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Orthodoxe_rabbinische_Erklärung_zum_Christentum; folgende Zitate ebd. Beachte die jüdische Schreibweise des Gottesnamens.

de_DEDeutsch