Philipper 2,5-11

Philipper 2,5-11

Göttinger Predigten im Internet hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


16. Sonntag nach Trinitatis

30. September 2001

Predigt über Philipper 2, 5-11 („Philipperhymnus“)

verfaßt von Klaus Schwarzwäller


Vorbemerkung

Dieser Hymnus ist unausschöpflich und sprengt zumal die Maße, wenn man ihn im Paulinischen Zusammenhang, d.h. so auslegt, wie Paulus es gemeint haben dürfte, als er ihn an dieser Stelle zitierte. Eine weitere Schwierigkeit bietet die Übersetzung: Die Luthers – ich selber habe sie wie selbstverständlich im Ohr – ist irreführend, beginnend mit „ein jeder“ und „gesinnt“ über „an Gebärden“ bis hin zu „unter der Erde“: Viele Wörter oder Ausdrücke rufen etwas auf, was hier nicht gemeint oder heute mißverständlich ist. Um ein Beispiel zu nennen: Gesinnungsethik ist eine Gegebenheit der Moderne, die bei „gesinnt“ unausweichlich mit einfließt. Ein weiteres: „An Gebärden“ läßt in unseren Zusammenhängen Schauspieler und show assoziieren. Und so fort! Ich gebe daher schweren Herzens den Luther-Text diesmal preis – nicht ohne ungutes Gefühl: Denn dadurch wirke ich dem entgegen, daß Texte und Passagen
sich durch das Hören und Wiederhören im unveränderten Wortlaut einprägen.

Mehr noch als bei allen meinen bisherigen Predigten im Internet, d.h. ohne lebendiges Gegenüber in der Vorbereitung, ist mir bei der Ausarbeitung dieser bewußt, nur mehr ein Modell, eine Anregung, einen Vorschlag präsentieren zu können – und wer sie wörtlich übernähme, würde sie bereits durch den eigenen Vortrag, die eigene Stimme und Gestik, die Ober- und Untertöne der eigenen Person von Grund auf verändern. Wie auch immer, jedenfalls kann in einer Predigt nur ein kleiner Ausschnitt aus der Fülle des Philipper-Hymnus bedacht werden. Ich habe darum, um anderem Ansetzen Haftpunkte zu bieten, aber auch, um die hier eröffneten Dimensionen in Erinnerung zu bringen, meine eigenen Erwägungen zum Inhalt aufgeschrieben und füge sie der Predigt im Anhang bei.

Inzwischen war der 11. September. Ich kann hier nicht so tun, als hätten er und der Hymnus nichts miteinander zu tun. Und zumal angesichts manchen hilflosen, harmlosen, verniedlichenden christlichen Redens über den lieben Gott, der uns durch Bruder Jesus hat wissen lassen, daß Haß keine Zukunft hat und daß uns Liebe aufgegeben ist, ist es mir wichtig, daß wir uns an diesem Bekenntnis der Christenheit orientieren und einmal mehr neu ausrichten. Auch das ist ein Grund für meinen Anhang.

Predigt

Liebe Gemeinde: Eine Vorbemerkung ist leider unvermeidlich: Die schönste und
gediegenste Übersetzung der Bibel, nämlich die Martin Luthers, stammt aus einer anderen Zeit. Sie läßt in unseren Zusammenhängen ganz Anderes in uns wach werden als vor fast fünf Jahrhunderten. Gerade beim heutigen Text macht sich das geltend. Ich habe mich daher nach einigem Überlegen und nicht ohne Trauer entschlossen, Luthers Übersetzung beiseite zu legen, und lese den Text statt dessen in einer recht wörtlichen Wiedergabe:

Unter euch gehe es um das, worum es auch in Christus Jesus [geht]:
Er war in göttlicher Gestalt,
hielt es nicht für einen Raub,
gottgleich zu sein.

D[enn]och entäußerte er sich
und nahm Knechtsgestalt an,
wurde Menschen gleich
und im Aussehen als Mensch erfunden.

Er demütigte sich selbst,
wurde gehorsam bis zum Tod,
nämlich dem Kreuzestod.

Darum gerade hat Gott ihn erhöht
und hat ihm den Namen verliehen,
der über alle Namen ist,

daß im Namen Jesu jedes Knie sich beuge
im Himmel und auf Erden und unter der Erde,
und jede Zunge bekenne:
Herr ist Jesus Christus –
zur Ehre Gottes des Vaters.

Was am 11. September 2001 am Vormittag in New York geschah, will unser Gemüt nicht verlassen. Es ist zu unvorstellbar, zu grausam, zu entsetzlich. Tief haben sich die wohl Dutzende von Malen gesehenen Bilder in mir eingegraben, vom ersten Aufprall des einen Flugzeugs in den Nordturm des World Trade Centers bis hin zu der aufopferungsvollen Arbeit der Rettungsmannschaften. Wer einmal ganz oben in der Aussichtsetage eines dieser Türme gestanden und den Blick über Manhattan, über New York insgesamt und über die Umgebung genossen und mit einer leichten Gänsehaut nach unten in die Straßenschluchten geschaut hat, womöglich bei strahlendem Sonnenschein; wer die merkliche, doch unaufdringliche, reiche, doch nicht protzende Eleganz und Großzügigkeit des Eingangsbereichs auf sich hat wirken lassen, der bekam einen Eindruck von Macht und Stolz, von Reichtum und Stil dieser Stadt, dieses Landes. Wohl kaum jemand wird sich der Wirkung haben entziehen können: Dieser Bau und das, was er – und wie! – er’s ausdrückt, das ist schlechthin imposant.

Die Türme und dann das unvorstellbare, so schauerlich schnelle und alles Begreifen überfordernde Zusammensinken, vielmehr: Zusammenkrachen erst des einen, dann des anderen: Diese Bilder wurden auf einmal bedrückend wach, indem ich dem Text nachfragte. Er ist vermutlich einer der allerältesten Hymnen der frühen Christenheit; Paulus zitiert ihn hier. Der Hymnus beschreibt einen Weg von der höchsten Höhe in die tiefste Tiefe, von der Entrücktheit aus allem Irdischen, wie es einen in den Aussichtsetagen anmutete, bis in Preisgegebenheit an Verachtung, Haß und Mord, wie sie einem, jedenfalls vor zehn Jahren, bei einem kurzen Wechsel hinüber in manche Straßen der Lower East Side so ausgeschlossen nicht erschienen. Am 11. September freilich geschah alles rasend schnell und war Folge von nacktem, von maßlosem, von apokalyptisch anmutendem Terror. Unser Text beschreibt einen Weg, den ein einzelner ging und der sich über Jahre hinzog. O ja, des Unterschieds bin ich mir nur zu gut bewußt. Und man hätte wirklich weder hier noch dort etwas auch nur mitbekommen, wollte man diesen Unterschied klein reden.

Trotzdem mußte ich auf einmal vom einen her ans andere denken – und zurück. Jesus Christus war – und das stand ihm zu – gottgleich, in himmlischer Herrlichkeit, und gibt das auf. Ein Grund wird nicht angegeben. Er legt alles ab, was ihm zukommt und umgibt, verzichtet
darauf. Er wurde Mensch, und zwar ein Mensch, der da dient, der sich demütigt, der in die Tiefen unseres menschlichen Daseins taucht. Das ist eine weitere Strecke, ein weitaus tieferer Abstieg als der vom obersten Geschoß des World Trade Center zu den Slums der Bronx oder Harlems – aus überirdischem Glanz und Herrlichkeit in die Höllen menschlichen Elends. War das auch ganz gewiß nicht der unfreiwillige rasende Fall in den unverdienten Tod in einem zusammenfallenden Wolkenkratzer, so war doch auch sein Weg ein Weg in den Tod.

Diesen Weg aber nahm er ohne Zwang, vielmehr aus freiem Entschluß, wissend und sehenden Auges auf sich. Warum nur, warum um alles in der Welt tat er’s? Warum wollte er Mensch werden und ein Menschenschicksal erleiden; warum? Es gibt eine indirekte Antwort: Adam und Eva, frei übersetzt also: Mann und Frau, will sagen: wir Menschen; wir Menschen also haben, solange es uns gibt, uns nicht damit zufrieden geben mögen, Menschen zu sein. Stets wollten wir sein „wie Gott“ und griffen und greifen nach verbotenen Früchten. Man muß die Bibel nicht kennen und nicht einmal ernstnehmen, um bestätigen zu können: In der Tat, insoweit wir nicht Menschen sein wollen, sondern sein wie Gott, ja selber Götter und deswegen für unseren Zugriff keine Grenzen und keine Verbote und keine Bedenken kennen oder gelten lassen wollen, produzieren wir die Hölle, machen wir uns und andere kaputt, zerstören wir
die Menschlichkeit und uns selbst.

Der Hymnus gibt zu begreifen: Jesus Christus kehrt das um, macht es rückgängig. Der gottgleich war, wurde freiwillig Mensch und gab seine Gottgleichheit auf. Mehr noch: Er war Gott gehorsam – also das Gegenteil von Adam und Eva, von Herrn Jedermann und Frau Jedefrau – und ging in diesem Gehorsam in den Tod. Nein, das war nicht der Tod, wie ihn die Todespiloten in ihrem Fanatismus und vermeintlich zur Ehre Gottes auf sich nahmen, indem sie Tausende brutal mit hineinzogen. Das war der Tod am Kreuz – der einsame, unverdiente, qualvolle Verbrechertod eines Unschuldigen. Und der Hymnus gibt zu verstehen: Hierum, hierum ging es, als er die Herrlichkeit des Himmels verließ, hierum: daß er den Kreuzestod erleidet. Das ist Sinn, Ziel und Ende seines Weges.

Ich habe die Bilder des World Trade Center und die schrecklichen Geschehnisse vor Augen und weiß sie sehr wohl von unserem Hymnus zu unterscheiden. Mir selber aber wurde erst angesichts der schrecklichen Ereignisse in New York deutlich, in der Dimension irgendwie erfaßbar, nein, aber jedenfalls konnte ich’s nun irgendwie ahnen, spüren, was das heißt: Er gibt den Himmel preis nur dazu, um am Schandgalgen aufgrund eines Justizmordes liquidiert zu werden. Was darin an Sinnlosigkeit, an Herausforderung jedes gesunden Empfindens, an Aberwitz steckt: Mir dämmert es allmählich auf, und je deutlicher, umso mehr verschlägt es mir die Sprache. Wir sagen traditionell – und mit Recht – , daß Gott Mensch geworden sei, sprechen von seiner Menschwerdung. Wir verbinden weithin kaum noch etwas damit. Aber mit den entsetzlichen Bildern der gerammten, brennenden und einstürzenden Türme in New York vor Augen mag es uns aufgehen – und sprachlos und fassungslos werden lassen: Christus gab den Himmel preis und demütigte sich in die Tiefen unseres menschlichen Elends hinein und ging gehorsam in Sinnlosigkeit, Nichts und Tod. Das, das ist es, was im Mittelpunkt unseres Glaubens steht.

Heißt auch: Die Sinnlosigkeit, die Brutalität, das Grauen des tiefen Absturzes und der Verlorenheit im unverdienten Tod, das ist unserem Herrn nicht fremd. Sondern er hat es ertragen und erlitten, ja er hat es aus freien Stücken auf sich genommen und war darin gehorsam gegen Gott. – Ich werde die in Qualm und Trümmern zusammenstürzenden Türme, ich werde diese Bilder einfach nicht los und begreife nun: Auch dieses Verbrechen und Leid, auch Mord und Vernichtung, überhaupt das ganze Unrecht, deren wir Menschen fähig sind; auch das, alles das – unser Herr ist voll hier hineingetaucht und hat es bis zum letzten ausgehalten, ausgekostet. Wie der Hebräerbrief es so wundervoll ausdrückt: „Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mitleiden mit unserer Schwachheit…“ und der „an dem, was er litt, Gehorsam gelernt“ hat (Hebr. 4,15.5,8). Darf ich’s drastisch sagen: Wir haben einen Gott und Herrn, der unseren Schlamassel und sein Grauen aus eigener bitterer Erfahrung kennt: denn er hat sich dem nicht entzogen, sondern ist gerade hier aus freiem Willen eingetaucht und uns zur Seite getreten.

Darin steckt Trost, unendlicher, wohltuender Trost, der Trost, nach dem wir uns sehnen und nach dem wir suchen. Darin steckt Trost: Denn es blieb nicht dabei. Sondern weil Jesus Christus seine himmlische Herrlichkeit preisgab, sich entäußerte, sich demütigte und im Gehorsam gegen Gott Sinnlosigkeit, Grauen und Tod auf sich nahm, freiwillig und ohne schielenden Seitenblick, was er damit wohl erreichen, wohl einheimsen würde; gerade darum hat Gott ihn nicht in der Tiefe von Tod, Sinnlosigkeit und Grauen belassen. Sondern er hat ihn, den Liquidierten, den Ausgemerzten, den Beseitigten – Zyniker heute würden sagen: den Entsorgten; Gott also hat ihn erhöht, hat ihn aus Tod und Nichts und Vergehen heraus erhöht und über alles gesetzt. Der Hymnus drückt das aus, indem er von dem Namen über allen Namen spricht – wer je erlebt hat, daß irgendwo zufällig der eigene Name genannt wurde, kennt das: Da geht es nämlich nicht um meinen Namen als solchen; da geht es um mich, unmittelbar um mich selbst. Mein Name faßt zusammen, wer und was ich bin, und hat entsprechend viel oder wenig, guten oder keinen guten Klang. Jesus Christus also wurde von Gott erhöht, und das so, daß seither sein Name guten, daß er einzigartigen Klang hat.

Ich habe das Kreuz vor Augen und die Bilder aus New York, die ich nicht loswerden kann: Gott ist nicht der liebe Gott. Er gewährt Verbrechen, Bosheit und Verblendung immer wieder Raum, sich auszutoben, erlaubt es immer wieder, daß Gute, daß Unschuldige, daß Harmlose ihre Opfer werden. Warum – wir wissen es nicht, und es läßt Fragen, Zweifel und auch Wut gegen Gott in uns aufkommen, der einfach alles so geschehen läßt. Wir haben keine Antwort. Wir wissen nur: Er lebt nicht „herrlich und in Freuden“, entrückt in seinem fernen Himmel. Sondern er hat sich hineinbegeben, es ausgekostet. Und es blieb nicht dabei. „Darum genau hat Gott ihn erhöht und ihm dem Namen verliehen, der über alle Namen ist…“ Begreife es, wer da kann – ich nicht; jedenfalls ließ sich Jesus Christus grundlos und ohne Seitenblick in alles Grauenhafte hinein und wurde exakt deswegen von Gott erhöht. Weil er sich gehorsam hineinbegab und auch der letzten Konsequenz sehenden Auges nicht auswich, darum genau hat ihn Gott nicht nur nicht losgelassen, sondern ihn erhöht – ich habe die Bilder aus New York vor Augen und das Kreuz und kann es nicht fassen; doch in mir steigt ein Ahnen auf, was das heißt: Nach dem Verbrechen und Tod handelt Gott neu. Mir drängt sich auf die Zunge, auch wenn’s flapsig ist: Da legt Gott erst so richtig los.

Indem Gott Jesus Christus so erhöht, gibt er seine Macht und Herrlichkeit preis und überträgt sie an Jesus Christus: Alle und alles in Himmel und Erde und Welt und All soll und wird bekennen: Er, Jesus Christus, er ist der Herr – auch über alle, die sich als Herren bezeichnen oder so vorkommen oder als die Beinahegötter aufspielen. Alle werden anerkennen, und wer’s nicht tut, wird es einst müssen: Er allein, Jesus Christus, er ist der Herr. Er setzt die Ziele. Er legt die Maßstäbe fest. Er entscheidet über gut und böse. Er zwingt niemand, ihn und sein Wort ernst zu nehmen, ihm zu folgen, ihn zu bekennen. Man kann weitermachen wie bisher. Man kann… Man kann vieles! Wer erwachsen ist, wer ernsthaft ist, wer denkt, einem solchen Menschen ist geläufig, daß man in der Tat vieles kann… – ich muß, denke ich, den Satz nicht zuende bringen. Uns aber wird darüber deutlich: Daß viele weitermachen und einfach tun, was man halt kann, das hebt Jesus Christus nicht vom Thron und tut seiner Macht und Herrlichkeit so wenig Abbruch wie ein Köter, der sich eine prächtige Eiche aussucht.

Zum Schluß seien noch zwei Punkte kurz bedacht. Einmal: Alles in unserem Text und, was er schildert, zielt auf die Ehre Gottes des Vaters. Darin, daß es so ist, hat und findet Gott seine Ehre. Und darin, daß wir erkennen und bekennen und anbeten: Herr ist Jesus Christus – mit allem, was das in sich schließt; gerade darin geben wir Gott die Ehre, die ihm gebührt

Zum anderen: Paulus gibt, indem er diesen Hymnus zitiert, die zweite Hälfte seiner Antwort auf die Frage: Was heißt christlich bzw. als Christ leben? Die erste Hälfte der Antwort hat er mit den ersten Versen dieses 2. Kapitels erteilt, nämlich Einmütigkeit im Glauben. Diese Hälfte nun lautet: Wir führen ein christliches Leben, indem die Christenheit und wir in ihr uns und unser Tun und Lassen und Leben gleichsam einzeichnen in diesen Weg und Gehorsam unseres Herrn – und es ihm überlassen, der das Grauen kennt und den Gott zum Herrn über alles eingesetzt hat; indem also wir es ihm überlassen, was daraus und was darüber aus uns selber wird.

Amen.

Erwägungen zum Inhalt

Kernwort ist phroneo. Nach Durchsicht von Lexika und ThW ist deutlich: das Verb bezeichnet den Sinn, das Trachten, die Intention richten / lenken auf… also etwa: trachten nach…, zum Ziel haben…, aussein auf…

frei(er): im Mittelpunkt stehen, die Sinne bestimmen Gesagt ist somit etwa: Das strebt an unter euch, was auch in Christus Jesus im Mittelpunt steht…

Das ist hier die Grundfrage, die Paulus beantwortet: Was ist christliches Leben? Was heißt es, als Christ seinen Weg zu gehen und sein Leben zu gestalten? Den ersten Teil seiner Antwort hat er in den Versen davor gegeben und setzt sie hier voraus: In der Gemeinde Jesu Christi, also in der Gemeinschaft der Christenmenschen zu leben in gemeinsamer Ausrichtung auf den Herrn.

Den zweiten Teil bildet unser Predigttext:

Unter euch gehe es um das, worum es auch in Christus Jesus [geht]: Er war in göttlicher Gestalt, hielt es nicht für einen Raub, gottgleich zu sein. D[enn]och entäußerte er sich und nahm Knechtsgestalt an, wurde Menschen gleich und im Aussehen als Mensch erfunden. Er demütigte sich selbst, wurde gehorsam bis zum Tod, nämlich dem Kreuzestod. Darum gerade hat Gott ihn erhöht und hat ihm den Namen verliehen, der über alle Namen ist, daß im Namen Jesu jedes Knie sich beuge im Himmel und auf Erden und unter der Erde, und jede Zunge bekenne: Herr ist Jesus Christus – zur Ehre Gottes des Vaters.

Philipper 2, 5-11

Dieser Teil der Antwort ist lang und bedeutungsschwer. Sie wird erteilt mithilfe eines der ältesten Hymnen der frühen Christenheit; der ist hier kunstvoll in die Antwort eingearbeitet. Dabei wird die Antwort in ihrem Kern in der ersten und der letzten Zeile erteilt: Unter euch möge es um das gehen, worum es überhaupt geht, wenn man in Christus lebt: Herr ist Jesus Christus, das heißt: um die Ehre Gottes des Vaters.

Was das meint und in sich faßt, führt der Hymnus selbst aus. Zunächst zum Kern der Antwort. Er ist deutlich unterschieden von dem, was nicht nur landläufig, sondern auch in den Kirchen für christlich bzw. christliches Leben gilt: fromm sein, sich sozial engagieren, dem allgemeinen Materialismus widerstehen, die Zehn Gebote halten, ehrlich, zuverlässig und hilfsbereit sein, auf Rache verzichten und gegen den Terror Liebe setzen. Die Antwort, die Paulus hier gibt, schließt das alles nicht aus. Aber die Tonart, die er anschlägt, ist völlig anders, und die Ebene, die er damit betritt, desgleichen. Es ist, als ob er mit ihr in eine andere Welt führte. Das wird an drei Punkten besonders deutlich:

1. Unsere Antwort zielt auf uns selbst, auf unser Tun und Lassen und auf unsere Verantwortlichkeit; die des Paulus auf Gottes Ehre.
2. Unsere Antwort zielt auf uns als einzelne; die des Paulus auf die Gemeinde.
3. Unsere Antwort zielt auf einzelne Punkte; die des Paulus auf die Linie unseres Lebens.

Es lohnt, den Punkten nachzudenken. Gottes Ehre – wir haben Probleme mit ihr. Denn gar zu oft und bis in die Gegenwart war und ist Gottes Ehre Grund oder vielmehr Vorwand für Tyrannei, Unterdrückung und menschenverachtenden Fanatismus; aus Geschichte und jüngster Vergangenheit verbindet sich das für uns etwa mit den Namen von Thomas Müntzer oder des Ayatolla Chomeini. Doch so wenig die Lüge die Wahrheit widerlegt oder das Bordell die Liebe, entsprechend in keiner Weise die Ehre Gottes ihre Inanspruchnahme durch Menschen. Mißbrauch, so wußte das Mittelalter (vielmehr: hatte es von den Römern überkommen), hebt den richtigen Brauch nicht auf, sondern bekräftigt ihn (abusus non tollit usum sed confirmat) – natürlich, denn er macht bedrückend deutlich, was dabei herauskommt, wenn man den guten Brauch verläßt. So auch bei Gottes Ehre. Jedenfalls ist so viel klar: Geht es um sie, dann nicht um uns selbst, dann sind wir selber nicht länger Ziel oder Maß unseres Verhaltens; dann sind überhaupt weder Menschen noch unsere Ziel oder Absichten das Maß unseres Verhaltens. Dann geht es um völlig Anderes, genauer: um den, der anders ist.

Die Gemeinde – es ist uns fremd, bei ihr anzusetzen, von ihr auszugehen. Spätestens seit Augustin, der „Vater des Abendlands“ – denn nahezu alle für den Westen charakteristischen Themen und Charakterzüge wurden durch ihn aufgebracht; spätestens also seit seinem Wirken ist es uns selbstverständlich geworden, beim einzelnen Menschen anzusetzen, also, scharf gesagt: vom Menschenatom auszugehen – z.B. in der Industrie, wenn sie Flexibilität der Arbeitenden einfordert und dabei bewußt von Familie und Bekanntenkreis, also von dem absieht, was wir als „soziale Bindungen“ kennzeichnen, als ob das additiv zum eigentlichen Menschsein hinzukäme, ohne die es jedoch in Wahrheit kein volles Menschsein gibt. Das allerdings ist allgemeine Erfahrung: Einzelne kommen auch bei großer Anstrengung normalerweise nicht weit. Es bedarf – wie wir heute sagen – der Strukturen, um etwas zu bewirken. Paulus hingegen sieht das Leben des Christen in der christlichen Gemeinde wurzeln und von hier aus seinen Weg verfolgen. „Welche Gemeinde?“, mögen wir fragen, und erhalten unverzüglich Antwort: die Gemeinde derer, denen es um Gottes Ehre geht.

Die Linie unseres Lebens ist, wenn ich es einmal so umschreiben darf, die Spur, die wir durch unser Leben ziehen – und die läßt sich kaum beeinflussen durch das, was wir beabsichtigen, wollen oder auch in den Augen anderer darzustellen uns bemühen. Sie ergibt sich vielmehr aus dem, wer und was wir sind; pointiert geredet: Sie entsteht nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie durch das, wonach wir streben, sondern durch das, worum es uns dabei im Herzen geht, also was uns zuinnerst bewegt und antreibt oder hemmt und entsprechend unserem Tun oder Lassen Farbe und Charakter verleiht. Kurzum, christliches Leben ergibt sich nicht durch bestimmtes Tun und Verhalten, sondern ein bestimmtes Tun und Verhalten ist die Folge, das Ergebnis von christlichem Leben, also eines Lebens heraus aus der Gemeinde Jesu Christi, dem es um Gottes Ehre geht; so herum. Mit der Bergrede (und Luther!): Nicht die Früchte ergeben den Baum – so der Vulgärprotestantismus und pädagogisierende Kanzelrede; vielmehr macht es umgekehrt einen guter Baum aus: Er bringt gute Früchte – und das liegt jenseits des guten Willens und ist weder anzumahnen noch anzuerziehen.

Was das alles heißt, bringt Paulus vor Augen, indem er den wahrscheinlich frühchristlichen Hymnus zitiert. In diesem Hymnus aber geht es einzig um Jesus Christus. Darin steckt eine Aussage: Christliches Leben ist Leben in der Nachfolge von Jesus Christus. Nachfolge meint nicht Wiederholung, Nachahmung oder Neuinszenierung von Leben und Weg Jesu. Es meint vielmehr – aber damit sind wir bereits beim Hymnus. Seine Beschreibung Jesu und seines Wegs ist für Paulus gleichsam die Matrix christlichen Lebens.

Diese Beschreibung beginnt damit: Christus war in göttlicher Gestalt, und er hielt es durchaus nicht für einen Raub, d.h. ihm erschien es als angemessen, Gott gleich zu sein, also mit ihm auf einer Stufe zu stehen – „eines Wesens mit dem Vater“, wie es drei Jahrhunderte später im Nizänischen Bekenntnis zum Ausdruck gebracht wird. Doch das soll jetzt nicht weiter beschäftigen. Jedenfalls war es in Jesu Meinung richtig und in Ordnung, daß er gottgleich war, heißt: in himmlischer Entrücktheit und Herrlichkeit lebte und leben konnte. Mit der Formel aus unseren Märchen geredet: Er „lebte herrlich und in Freuden“; das stand ihm zu, er wollte und mußte es sich nicht errauben – wie einst Adam und Eva es sich errauben wollten, „wie Gott“ zu sein und damit Elend über sich heraufbeschworen. Er hatte es und hatte es mit Fug und Recht.

Dennoch – und was nun auszusagen ist, ist völlig grundlos, ist aus nichts zu erklären, abzuleiten oder zu folgern. Wir drücken es in der theologischen Schulsprache so aus, daß wir sagen: Es geschah aus der Freiheit seines Willens, es war des ewigen Gottes Ratschluß – unser Weihnachtslied sagt dazu: „…aus Gottes ew’gem Rat…“ Verstehen wir: Sowenig es für Adam und Eva einen – plausiblen – Grund gab, nach der verbotenen Frucht zu greifen (der „Apfel“ stammt aus der Vulgata: pomum = sowohl „Baumfrucht“ als auch „Apfel“), so wenig gab es einen (uns) einleuchtenden Grund für Christus, statt „herrlich und in Freuden“ zu leben, sich selbst zu entäußern, außer dem, daß er es so wollte. Der vorangehende Vers aber sagt dabei indirekt: Es geschah dies in Übereinstimmung mit Gott dem Vater.

Jesus Christus also wollte sich entäußern; das, das allein ist hier der Grund. Warum er es wollte und tat, wird nicht gesagt – entsprechend geben unsere Glaubensbekenntnisse keine Begründung an. Man hat das kritisiert, hat deswegen etwa das Apostolische Glaubensbekenntnis der Lieblosigkeit geziehen (so ein theologischer Pädagoge vor etwa zwanzig Jahren). Ich erwähne das nicht, um dem Mann etwas am Zeuge zu flicken, sondern weil sein Einwand mir als charakteristisch erscheint für unsere Ungeduld, Egozentrik und das Unvermögen, es zu ertragen, daß etwas noch nicht gesagt ist, sondern sich erst erschließen soll. Es soll eben alles auf der Stelle für uns klar und einleuchtend und faßlich und, vor allem, ohne Geheimnis sein; wo nicht, da gilt es als lieblos, wo nicht als „Herrschaftswissen“, o pfui! Wie anders die frühe Kirche und Paulus, der ihren Hymnus zitiert: Der Blick saugt sich geradezu an Jesus Christus fest und läßt uns von uns selber frei werden (der Grund der Gewißheit „unserer Theologie“ nach Luther: …quia ponit nos extra nos). Wer je verliebt war und sich am geliebten Menschen nicht satt sehen konnte und über seinem Anblick sich selbst und alles vergaß, der weiß, daß in einem solchen Blicken, das uns uns selbst entnimmt, wir gerade ganz und gar wir selber werden!

Die Entäußerung lag darin, daß er Knechtsgestalt annahm. Damit ist nicht eine Verkleidung gemeint – wie etwa bei einem Schauspieler oder wie vor dreißig Jahren in „Einer wird gewinnen“ am Ende der Sendung der Produzent als Diener auftrat und dem großen Meister Hut und Mantel brachte. Was hier ausgesagt und gemeint ist, überbietet alle Vorstellung und Sprache. Wir können es daher nur in der Symbolsprache der Märchen ausdrücken: Er wurde ein völlig anderer und blieb doch identisch, so wie der Prinz Prinz war und blieb, obschon er zu einem „garstigen Frosch“ geworden war. In der Tat, was hier geschah, ist nicht nur – wie wir im Überschwang sagen – „sagenhaft“, sondern wahrlich „märchenhaft“, also unglaublich und zutiefst wahr. Kurzum: Als er selber wurde er zum Knecht und war es dann auch.

Er wurde nämlich einem Menschen gleich – manchmal wünschte ich mir die Ohren der Christen damals. Dann wüßte ich, ob die bei allem immer schon mithörten, daß Jesus Christus also exakt den umgekehrten Weg der Menschen ging, nämlich Adams und Evas. Ich meinerseits kann nicht umhin, hier daran erinnert zu werden: Jene wollen sich erhöhen und werden darüber zu beschädigten Menschen, zu „verblasenen und unglücklichen Göttern“ (Luther); er jedoch erniedrigte sich zu einem Knecht und war als dieser ein Mensch, uneingeschränkt, unbeschädigt, ohne Tadel. Als dieser Mensch wurde er wahrgenommen – und als bloßer Mensch, und zwar ein Mensch, der nicht herrschte, sich entfaltete, die Dinge einmal so richtig in die Hand nahm, sondern der da diente. Er wurde zu einem unter vielen Milliarden Menschen vor und vor allem nach ihm; zu einem der Milliarden kosmischer Staubkörner, als die wir uns in den Weiten des Alls fühlen und erkennen. Luther denkt ganz aus dem Zusammenhang dieses Hymnus, wenn er dichtet:

Den aller Welt Kreis nie beschloß,
der liegt in Marien Schoß.
Er ist ein Kindlein worden klein, 
der alle Welt erhält allein.

Was das heißt, wird erst deutlich, wenn wir uns klar machen: Damit wird er einer von denen, die namenlos unter der Transsib, im Archipel Gulag, in den Öfen von Auschwitz, im Feuerblitz von Hiroshima, in den Todeslagern in Argentinien, im Busch von Afrika… ihr Leben verloren. Wurde er einer von denen, die in unseren Innenstädten abgewrackt und zuinnerst beschädigt dahinvegetieren. Wurde er einer von denen, die wir als „bürgerlich“, als „Mittelstand“, als „etabliert“ bezeichnen. Wurde er einer auch von denen, die arriviert sind, die reüssiert haben, deren zu Geld und Macht konvertierte Asozialität und Hybris im einschlägigen Auto Ausdruck wie Symbol gefunden hat. Wurde einer von den Edlen, den Vornehmen, den Beeindruckenden, sie seien reich oder arm. Wer den Stammbaum Jesu nach dem Matthäus-Evangelium einmal in Ruhe bedenkt, wird hier vielfältige Spuren der so buntscheckigen Wirklichkeit menschlichen Lebens finden als Teil seines Geblüts.

Als Menschen werden wir nackt und hilflos geboren, einerlei, ob hinein in Armseligkeit oder Reichtum. Und ob wir dann reich oder arm, vermögend, oder hilflos, mächtig oder dazu verdammt sein werden, herumgeschubst und kujoniert zu werden, das soll sich erst mit unserem Leben und dessen Verlauf und dabei nicht zum letzten auch dadurch ergeben, wie wir selber ihm uns stellen – übrigens eines der hauptsächlichen Märchen-Motive. Will sagen, das Kind in der Krippe hatte gleichsam alles vor sich; ob es dermaleinst ganz oben oder ganz unten oder irgendwo in der Mitte sein würde, das lag mit der armseligen Geburt durchaus noch nicht fest.

Sondern das legte er selber fest, indem er sich selber demütigte. Um es noch einmal im Zusammenhang des Märchens zu verdeutlichen: Aus dem Prinzen wurde hier nicht einfach ein „garstiger Frosch“, sondern als dieser Frosch begab er sich von sich aus in die Position eines Unterfroschs, eines, an dem alle anderen sich die Stiefel abputzten oder das zumindest konnten. Er demütigte sich: Nein, er hörte nicht einfach auf, er selbst zu sein, zerfloß nicht in Frömmigkeit oder Menschenfreundlichkeit oder Sentimentalität; er warf sich nicht einfach weg wie einer, der aufgibt, noch gab er sich aus der Hand, gleichsam in freiwillige Selbstversklavung. All dergleichen gibt es, hat es gegeben und wird es geben, oft genug auch unter Berufung auf Jesus Christus. Er ist und bleibt er selbst, und das ganz und gar. Gerade als dieser nun aber wiederholt er als Mensch, was er in seiner Gottgleichheit tat: Er gibt preis, was ihm gehört und auch zusteht, und nimmt als er selber Geschick und Los sozusagen des hinterletzten Menschen auf sich.

Lapidar wird das darin zusammengefaßt, daß er gehorsam bis zum Tod wurde. Wem er gehorsam wurde, wird nicht gesagt; weil’s nicht gesagt wird, versteht sich, daß nur gemeint sein kann: Er wurde Gott gehorsam. Das paßt nicht in den Zusammenhang. Nachdem er gleichsam von Gott Abschied genommen und sich seiner Gottgleichheit entäußert hatte, scheint er allein in die Sphäre des Vorfindlichen, der Menschheit zu gehören – so will uns scheinen. Der Hymnus denkt anders: Mit seiner Entäußerung, mit seinem Eingehen in die menschliche Sphäre ist Jesus Christus von Gott nicht getrennt und seinem Willen und Wirken nicht entzogen. Denn natürlich gilt: „Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist“ (Ps. 24,1) – also Entäußerung und Demütigung unvermindert und in gleicher Selbstverständlichkeit bleibend in und unter Gottes Wort und Absicht.

Damit aber wird das Bisherige unversehens doppelbödig: Was Jesus Christus tat, ist nicht einfach sein Entschluß und Vorgehen, aber auch nicht unmittelbar Gottes Werk und Tat. Sondern es geschieht in Willensübereinstimmung zwischen Gott und ihm. Dennoch ist es nicht einfach Identität; Entäußerung wie Gehorsam kennzeichnen Differenzen. Heißt also, platt geredet: Er hätte anders können; er war zu nichts gezwungen; es war – wie es im Gefolge Barths gern gesagt wurde – seine freie Tat. Er selber wollte es so, exakt so. Er wollte Gottes Willen tun. Darin war seine Entäußerung authentisch und sein Gehorsam weder knechtisch noch beiläufig: Er entäußerte sich nicht und wurde nicht gehorsam, um dadurch – per aspera ad astra – göttliche Dignität zu erlangen. Sondern in und aus dieser ihm eigentümlichen – und nur ihm eigentümlichen – göttlichen Dignität heraus entäußerte er sich, wurde er gehorsam und vermochte das.

In ihm und durch ihn geschah Gottes Wille „wie im Himmel, also auch auf Erden“. Und dieser Wille führte ihn – in den Tod. Das ist das nach wie vor Befremdliche, Anstößige, Uneinsehbare, Unerträgliche an dieser Stelle wie beim Tode Jesu Christi überhaupt. Hier versagt entsprechend die Symbolsprache des Märchens; das ist außerhalb dessen, was Sprache ausdrücken kann – jedenfalls ausdrücken kann, ohne darüber entweder sinnlos zu werden oder zu zerbrechen. Und in aller Nüchternheit ist festzustellen, daß hier wie insgesamt im Neuen Testament die Sprache insoweit sinnlos geworden ist und demgemäß auch die Sprache der Kirche und die ihrer Bekenntnisses zumal. Hier wurzelt Tertullians „credo quia absurdum“; denn der Glaube geht von einem Widersinn aus: daß Gott Entäußerung, Gehorsam und Tod Jesu Christi wollte; daß er das Schicksal dessen wollte, der in göttlicher Gestalt und Rechtens gottgleich war.

Ein Hymnus der frühen, möglicherweise der frühesten Christenheit: Das ist ihre Erfahrung, das ihre Erkenntnis im Blick auf Jesus Christus. In ihm ist von Gottes wegen die bisherige unverbrüchliche Ordnung unserer Welt und Zeit zerbrochen; denn in ihm und durch ihn geschah das Unausdenkbare, was dann mehr als eineinhalb Jahrtausende später Johann Rist so pointierte: „O große Not, Gott selbst liegt tot.“ – in unseren Gesangbüchern vorsichtshalber getilgt. Das Unausdenkbare ist hier Ereignis geworden und hat diesen Hymnus hervorgetrieben. Unausdenkbarkeit impliziert die Unmöglichkeit einer rationalen, einer plausiblen, einer glatten, überhaupt einer Auflösung. Hier löst sich nichts.

Gehorsam bis zum Tod – es ließe sich außerhalb des Zusammenhangs deuten als eine verdoppelnde Aussage der Menschwerdung, gehört doch zum Menschsein Sterben und Tod. Es wäre dann die Aussage eines wahrhaften Menschenlebens und -geschicks, gleichsam die Nagelprobe darauf. Und das würde durchaus in einen hymnischen Stil passen – nicht allein einen semitischen bzw. semitisch geprägten mit seinem parallelismus membrorum, sondern überhaupt in ihn, tendiert er doch an ihm selber zu Überschwang und Redundanz. Darum der vorgebliche Zusatz, von dem behauptet – und aus Rekonstruktionen bewiesen – wird, er wäre von Paulus eingefügt: „…nämlich dem Kreuzestod“. Diese Vermutung mag zutreffen oder nicht (Was trägt das eigentlich aus?), jedenfalls erfolgt hier eine Präzisierung, ja Pointierung: Nicht Teilhabe an der uns eigenen Sterblichkeit, nicht also Teilhabe am Menschenlos mit Einschluß des schließlichen Sterbens. Sondern gemeint ist dieser sein spezifischer Tod, sein Kreuzestod: Dieser spezifische Tod, ist Ziel und Ergebnis seiner Demütigung und seines Gehorsams – sprich: ist Ziel seines Weges. Oder, deutlicher: Ihn erkennt die Gemeinde im nachhinein als dieses Ziel.

Faßt man Anfangs- und Endpunkt des bisherigen Hymnus zusammen, so ergibt sich als Aussage: Der gottgleiche Jesus Christus entäußerte sich, demütigte sich und wurde gehorsam gegen Gott, um am Kreuz den Tod zu erleiden. Aus der Distanz des Betrachters heraus würden wir heute sagen: Sein Kreuzestod war somit eine, wenn auch blutig ernste, so doch: Inszenierung, eine Inszenierung Gottes und Jesu Christi. Strukturell mag man Christi Kreuzestod so auffassen können, und faktisch ist er zumal in Dogmatiken oft genug entsprechend dargestellt worden, mit Abaelard angefangen. Dabei besteht freilich die – regelmäßig realisierte! – Gefahr, daß zum einen das Unausdenkbare überspielt und daß zum anderen darüber faktisch verdrängt wurde, daß hier ein Mensch elendiglich eines grausamen Todes starb. Das in Strukturen zu verdampfen, heißt es um seinen Ernst und damit um seinen Inhalt bringen.

Freilich, die Unausdenkbarkeit drängt schier dazu. Denn hat man es strukturell erfaßt, so kann man es hantieren, ggf. sogar verrechnen und in Plausibilität und Stimmigkeit überführen. Dann, dann können wir dem auch standhalten. So jedoch – Ich verharre hier noch: Das also die Matrix des Christenlebens: Selbst-Entäußerung, Selbst-Demütigung, Gehorsam bis zum Tod, dem vorzeitigen, ungerechten, grausamen. Das alles aber ohne Abpufferungen, Glättungen, hintergründige Plausibilität, sondern einfach so, faktisch, in der vollen Härte des unableitbaren – „kontingenten“ bzw. „emergenten“ – Faktischen. Darin steckt die Absenz von Sinn, um von der Verweigerung von so etwas wie Erfolg nicht zu reden. Darin steckt das uneingeschränkte, ungeschminkte, unverstellte Wahrnehmen der Realität, die da brutal ist und „ohne Wahl…die Gaben“ und zudem „ohne Billigkeit“ verteilt, ohne daß darob resigniert würde. Darin steckt die Einsicht, daß Selbstentäußerung, Selbstdemütigung und Gehorsam gegen Gott in der Regel im besten Fall Fußtritte und Prügel ernten, wahrscheinlicher jedoch als Einladung verstanden werden, zuzuschlagen und zu beseitigen.

Spätestens hier wird die Matrix des Christenlebens, des christlichen Lebens, abstoßend, provokativ, zur Zumutung. Sie wird es zumal dann, wenn es als Normalfall gilt, daß das die Bestimmung bzw. Vorgabe für den einzelnen sei, der – wie einstmals Daniel Boone – seine einsamen Pfade sucht (Von ihm erzählt man sich in Kentucky, er habe, als er zweimal in einer Woche in den Wäldern einen Menschen traf, beschlossen, weiterzuziehen, da es hier zu voll werde). Und sie wird es insbesondere für jeden, der, eingelebt in die Zusammenhänge, dahinein er geboren und gewachsen ist, innerhalb dieser Zusammenhänge leben will und d.h. u.a.: seinen Platz und seine Rolle finden und behaupten, seinen Lebenszusammenhang – persönlich, wirtschaftlich und gesellschaftlich – gewinnen und bewahren, seine Möglichkeiten und seine Ziele erarbeiten und verteidigen. Spätestens hier wird darum entsprechend Verständnis erwachsen für die bis in unsere Zeit gewahrte Entscheidung in der Alten Kirche, eine Zwei-Stufen-Ethik einzuführen: für die Vollkommenen, die dieser Matrix folgen, und die Übrigen, die innerhalb der vorhandenen Strukturen zumindest Gottes Gebote halten (und den Weisungen der Kirche folgen). Wird darum auch die Versuchung schier übermächtig, sich dieser Matrix gegenüber in die bloße aisthäsis zurückzuziehen: fromm, dogmatisch, künstlerisch, aszetisch, meditativ… oder aber pelagianisch-pädagogisch an den guten Willen und daran zu appellieren, daß wir Christen doch wüßten, daß wir wie Bruder Jesus lieb sein sollen…

An dieser Stelle wird greifbar, was die Differenz des Herangehens erbringt. Paulus geht eben mitnichten vom einzelnen Menschen aus, den dieses Matrix nur bis zum Erschlagen überlasten kann. Er geht von der Gemeinde aus: Was ist es, das die christliche Gemeinde ausmacht und daraufhin die zu ihr Gehörenden bestimmt? Welches ist ihre Lebensform, an der somit alle Zugehörenden teilhaben? Was also kennzeichnet das Leben der zur Gemeinde Gehörenden als christlich? Die Antwort ist mit dem Bisherigen deutlich: das Eingefügtsein in einen Lebenszusammenhang, der seine Matrix in Leben und Weg Jesu Christi hat, „der in göttlicher Gestalt war…“ Mir persönlich wird an dieser Stelle als wie gemalt oder auf die Bühne gebracht deutlich und unmittelbar einleuchtend, wieso der Christenmensch in der Gemeinde der Christenmenschen ist, lebt, auf sie angewiesen und mit ihr verbunden, nur im besonderen Fall im defizienten modus des einzelnen Glaubenden bzw. des Privatchristen existierend. Es möchte sein, daß ein Hauptschade in der gegenwärtigen Christenheit unseres Landes darin besteht, daß einerseits das Ausgehen vom einzelnen selbstverständlich ist: Daraufhin nämlich wird andererseits die Gemeinschaft naturgemäß eine Angelegenheit von Organisation und Struktur, woraus folgerichtig resultiert, daß die einzelnen distanziert bleiben, sich vorbehalten, über ihre Privatsphäre wachen, womit dann unvermeidlich die Notwendigkeit und Macht der kirchlichen Apparate schier wie von selbst legitimiert, ja zur Notwendigkeit wird, woraus sich als unvermeidliche Konsequenz ergibt…. Und so immer fort, bis an einem Endpunkt die einzelnen Glaubenden „wie Spreu“ „vom Winde verweht“ werden und zugleich der kirchliche Apparat unter der Überlast der steigenden Beschäftigung mit sich selbst an den Rand des Kollabierens gerät.

Ich breche ab und blicke auf den Hymnus zurück, der bis hierher den schlechterdings singulären und unableitbaren Weg einer singulären Person skizziert hat. Sie ist mit dem „Tode am Kreuz“ an den End- und Zielpunkt von Entäußerung, Demütigung und Gehorsam gelangt. Mit diesem Tod hat dieser Weg sein Ende, endet „das Leben Jesu“ – im Dunkel, im Nichts, im Grauen des Kreuzestodes. Entäußerung, Demütigung und Gehorsam waren also umfassend und unüberbietbar. Sie endeten mit der Auslöschung dessen, der sie geleistet hat. Da war kein Silberstreif am Horizont, kein Ausblick auf eine bessere Zukunft, keine verbürgte Unbsterblichkeit – und mit dem Fehlen von alledem waren da entsprechend weder Sinn noch erkennbare Wirkung, weder jener Glanz, der uns ein „Immerhin…“ entlockt, noch auch nur das Ahnen von etwas, „wozu es gut sein möchte“; nein nichts. Mir kommt darüber der Kalauer meiner Schülerzeit in den Sinn, als wir frotzelten über die „Autobiographie des Rennfahrers Ferdinand Sauer: „Bruch – das war mein Leben““: Bruch, Scheitern, Tod, das sind Ende und Summe dieses Lebens. Das also ist der Peilpunkt, der perspektivische Fluchtpunkt der christlichen Gemeinde: verbraucht, verschlissen, verheizt zu werden, ohne daß darin irgendein Sinn, Nutzen, Zweck oder zumindest erkennbarer Vorteil steckte, das aber aufgrund eines Weges und einer Haltung, die einem nicht von außen aufgezwungen werden, sondern die man selber eingenommen hat.

Das klingt, das klänge heroisch, führe der Hymnus nicht weiter und eröffnete damit eine unerwartete und nicht minder unableitbare Prospektive: „Darum genau hat Gott ihn erhöht…“ Derb geredet: Jesus Christus hat bei seinem Weg nicht geschielt und nicht von Belohnung oder womöglich Verdienst zumindest geträumt; ein „besseres Jenseits“ war nicht im Blick. Jedenfalls sagt der Hymnus dergleichen nicht noch gibt er irgendwo Anlaß, gar Anhalt, dergleichen zu vermuten. Darin steckt die unüberbrückbare, bleibende Differenz zwischen ihm und uns, zwischen dem Meister und den Brüdern, zwischen dem Haupt und dem Leib. Wir nämlich, wir haben Privileg und Begnadung, einen Hoffnungsgrund vor Augen gestellt zu bekommen: „Darum… – Darum genau hat ihn Gott erhöht…“ Dieses „Darum“ wäre nicht allein mißverstanden, sondern regelrecht verfälscht, ja pervertiert, faßte man es auf, legte man es aus im Sinne einer Belohnung, des Anerkenntnisses eines Verdienstes oder einer Akzeptanz – letzteres etwa im Sinne eines „Probe bestanden“ oder „gut gemacht“ oder auch (nominalistisch) eines freien Annehmens „als…“.

Wir stoßen hier vielmehr nach der Entäußerung Jesu Christi und seinem Kreuzestod auf die dritte „schlechthinnige“ Unableitbarkeit – und entsprechend: Unausdenkbarkeit, Unbegründbarkeit, Nicht-Plausibilität: Gott hat ihn „darum genau…“ erhöht, und zwar nicht irgendwie oder allgemein, sondern indem er ihn zum Herrn gesetzt hat: über den Himmel und seine Heerscharen und Mächte, über die Erde mitsamt dem römischen Kaiser und allen Machthabern, über die Teufel samt ihren Schergen sowie die Dahingegangenen samt allen Zombies und Geisterwesen. Will sagen, Gott selbst hat ihn auf seinen, auf Gottes, Thron erhoben und ihm „gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“. Er hat sie ihm gegeben „darum auch…“, wobei ich dieses „auch“ mit Lohmeyer als Verstärkung auffasse: „Exakt darum…“, also, wie ich’s gefaßt habe: „Darum genau…“ Will sagen, gerade wegen der Vollkommenheit seiner Hingabe (vgl. Mt. 5,48!), die als solche weder kalkuliert noch etwas anderes mit ihm Auge hat, erhöht ihn Gott. Recht gesehen, ist damit – so ja auch grammatikalisch betrachtet – etwas von und über Gott ausgesagt: Er läßt den, der ihm einfältig gehorsam ist und sich bedingungslos in diesem Gehorsam dahingibt, nicht in Dunkel, Tod und Nichts. Sondern gerade weil er absichtslos in der schieren Hingabe dort endete, „exakt darum“ anerkennt Gott ihn als ganz und gar ihm und darum zu ihm gehörig und drückt das dadurch aus, daß er ihm seine Herrschaft überträgt.

Ich bin kein Platoniker und hab’s nicht mit den Analogien; doch hier wird eine Analogie unübersehbar. Ich hole aus: Gott der Vater ehrt den Sohn um seiner Entäußerung, Demütigung und Gehorsam willen, also aufgrund der völligen Hingabe, und findet nunmehr seinerseits seine Ehre darin, ihm alle seine Macht und Prärogativen zu übertragen, so daß in Jesus Christus er selbst geehrt, angebetet, gelobt wird. Gott der Vater findet also darin seine Ehre, daß er auf die Selbstentäußerung Jesu Christi hin seinerseits sich entäußert und seine Herrlichkeit ihm verleiht. Um es ebenso platt wie pointiert zu sagen: Der Ruhm und die Ehre werden von Christus nicht erworben als Lohn für geschehene Entäußerung oder verliehen als Anerkennung für geleistete Selbstpreisgabe oder gleichsam als durch eine bestimmte Leistung erworbenes Verdienst – so (in zahllosen Varianten) unsere abendländische Tradition seit Cur deus homo: die Satisfaktion gegen die Strafe, auf die erbrachte Leistung hin der verdiente Lohn. Nein, hier liegt gerade kein Vertragsverhältnis vor. Sondern Gott verleiht seine Ehre; er selber findet und empfängt sie dort, wo man nicht nach sich selbst noch hiernach noch nach einem möglichen Vorteil oder Gewinn fragt, sondern selbstvergessen im Gehorsam gegen ihn demütig sich entäußert. Wer hier nichts – für sich – zu erlangen sucht, findet und empfängt weit über Bitten und Verstehen hinaus.

Das ist es, was insoweit die Matrix ebenfalls ergibt – und die christliche Gemeinde hat es in ihrem Herrn vor Augen, muß es nicht vage erträumen, bänglich hoffen, sehnend wünschen noch dreist verlangen oder beflissen sich er- und verdienen. Sie kann und darf ihren Weg gehen – anders als der Herr – in Gewißheit und Zuversicht: Gott selbst sorgt für uns, wie unselig wir auch scheitern und wie unsäglich wir dabei auch draufgehen mögen; Gott selbst, und zwar gerade dort, wo für uns nur noch Finsternis, Zerbrechen und Verlöschen herrschen. Insoweit hat Manfred Hausmanns Oxymoron Klang und Grund:

Wo kein Sinn mehr mißt,
Waltet erst der Sinn.
Wo kein Weg mehr ist,
Ist des Wegs Beginn.

Der Haken ist nicht, die Sinnlosigkeit auszuhalten in der Gewißheit, daraufhin werde Sinn sich schon einfinden – sprich: sich zu entäußern bis hin zum Verlöschen, um hieraufhin erhöht und mit neuem Leben begabt zu werden. Das ist die übliche Machart: um…zu. Sondern darum geht es: diese Hingabe, diese völlige Hingabe an Gott und in und für seinen Willen zu vollziehen, die nicht mehr nach sich selbst, nach Lohn, Sinn, Vorteil etc.etc. fragt. Dabei und dazu mag die in der Matrix begründete Gewißheit stärken und Halt geben: Wer sich Gott ganz und gar hingibt, der wird von ihm nicht verlassen, gerade auch dann nicht, wenn er in Gottverlassenheit und entsprechender Verzweiflung endet.

Was also ist christliches Leben? Nachfolge in der Zugehörigkeit zur Gemeinde Jesu Christi. Und was macht die aus? Ganz einfach: Die nicht schielende, die nicht berechnende, die keine Hintergedanken hegende, sondern einfältige und völlige Hingabe an Gott und in und für seinen Willen.


Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
kschwarzwaeller@foni.net

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