Philipper 4,4-7

Philipper 4,4-7

Frieden und Freude in Krieg und Leid | 4. Advent | 18.12.2022 | Phil. 4,4–7 | Dietz Lange |

Liebe Gemeinde!

„Freut euch im Herrn allezeit“ heißt es in dem biblischen Text. Das passt hervorragend zum heutigen Sonntag. Advent ist eine Zeit der Freude – genauer: eine Zeit der Vorfreude auf Weihnachten. In den nächsten Tagen gutgelaunt die letzten Geschenke kaufen, vielleicht auch noch einmal mit Freunden über den Weihnachtsmarkt bummeln. Dann kommt der Gottesdienst am Heiligen Abend und eine stimmungsvolle Feier im vertrauten Kreis. So kennen die Meisten von uns das seit der Kindheit: Weihnachtsfreude als Höhepunkt des christlichen Festkreises im Kirchenjahr. Christentum erscheint da nicht als etwas Miesepeteriges, sondern als etwas Fröhliches und Lebensbejahendes.

Es ist durchaus richtig, dass Freude die Grundstimmung des christlichen Glaubens ist. Die Predigt hat nicht die Aufgabe des Spaßverderbers. Aber Sie haben sich vielleicht schon selbst gefragt: Waren diese ersten Sätze nicht doch reichlich oberflächlich, vielleicht sogar Ausdruck einer weichgespülten Wohlfühl-Religion? Weihnachten kann ja leicht zu einem Fest des Verdrängens bei Kerzenschein und Gänsebraten werden. Wenn das so ist, dann hätte uns spätestens am 27. Dezember der Alltag wieder mit den täglichen schlechten Nachrichten über den Krieg in der Ukraine, die steigende Inflation, die uns finanziell ins Schleudern bringt, die Befürchtung, im Laufe des Winters in der Wohnung frieren zu müssen. Unser Glaube wäre dann bestenfalls ein Betäubungsmittel. Christentum als Flucht vor der harten Wirklichkeit des Lebens?

Um zu verstehen, was Paulus mit dem Trompetenstoß „Freut euch in dem Herrn allezeit“ gemeint hat, müssen wir uns zunächst die Situation vor Augen zu führen, in der er diese Sätze geschrieben hat. Er saß nicht in einem vom Adventskranz mild erleuchteten Wohnzimmer, sondern als Häftling in einer kargen Gefängniszelle. Die befand sich wahrscheinlich in Ephesus. Die Gemeinde in Philippi, an die der Brief gerichtet ist, lag zwar nicht in umittelbarer Nachbarschaft, war aber in ein paar Tagereisen erreichbar. Sie kümmerte sich sehr um Paulus; mehrere ihrer Mitglieder haben ihn im Gefängnis besucht. Andererseits war aber völlig unklar, wie sein Gerichtsurteil ausfallen würde. Andeutungen in dem Brief zeigen, dass er sogar mit der Möglichkeit der Todesstrafe rechnen musste. Er hoffte zwar, bald herauszukommen und nach Philippi reisen zu können. Aber einstweilen befand er sich in quälender Ungewissheit und Wehrlosigkeit. Das bot ihm Anlass zu intensivem Nachdenken über sein ganzes bisheriges Leben und über die mögliche Zukunft. Das bezeugt der Brief. Auch die Gemeinde war nicht frei von Problemen. Ein etwas späterer Brief von Paulus, der in den ursprünglichen Philipperbrief eingeschoben wurde und jetzt dessen drittes Kapitel ausmacht, warnt in scharfem Ton vor Irrlehrern. Das waren Leute, die meinten, sie könnten Gottes Güte als Freibrief nutzen für ein Leben herrlich und in Freuden und frei von jeglicher Verantwortung.

Die Freude, die Paulus uns ans Herz legt, hat natürlich mit solchem Leichtsinn nichts zu tun. Aber sie ist sehr wohl gekennzeichnet durch eine bemerkenswerte Freiheit von Angst vor einem möglicherweise kurz bevorstehenden Tod. „Ich hätte Lust, aus diesem Leben zu scheiden und bei Christus zu sein,“ heißt es an einer Stelle. Solche Sehnsucht nach endgültiger Unbeschwertheit bei Gott ist kein Lebensüberdruss. Sie ist ebenso wenig Ausdruck einer Flucht vor der Verantwortung. Denn Paulus macht sich sofort selbst den Einwand: „Aber ihr braucht mich ja noch.“ Gerade auf die dabei noch bevorstehenden Aufgaben soll sich ja die Freude an Gott auswirken.

Offenbar sind das zwei verschiedene Ebenen: die Freude an Gott und das Leiden an dem Unglück und der Bosheit in der Welt. Aber beides ist nicht voneinander zu trennen! Es kann also nicht sein, dass wir heute Morgen hier in der Kirche uns der Freude an Gott hingeben und dabei die Menschen anderswo in der Welt ausblenden, die schrecklich leiden müssen und allem Anschein nach überhaupt keinen Anlass zur Freude haben. Dann würde unsere Freude sich an der Gleichgültigkeit für das Geschick anderer Menschen nähren. Ja, sie wäre geradezu zynisch. Die Themaformulierung für diese Predigt „Frieden und Freude in Krieg und Leid“ ist so gemeint, dass uns Frieden und Freude mitten im Leid zuteil wird, in fremdem ebenso wie eigenem Leid. So hat es auch Paulus gedacht. Er verfügte nicht über eine seelische Teflonschicht. Unter der Unfreiheit im Gefängnis und den unsicheren Zukunftsaussichten hat er natürlich gelitten, auch wenn er in seinem Brief nicht davon redet. Aber wie ist das zu verstehen: wir sollen uns überschwänglich an Gott freuen mitten im Leiden, und dann auch Frieden haben mitten unter der Drohung von Krieg?

Man kann sich das so zurechtlegen: Die Kraft des Glaubens liegt im Trotz. So könnte man schon den alten Psalmdichter verstehen, der aus seinem Unglück heraus zu Gott ruft: „Dennoch bleibe ich stets an dir“. So hat man das vielfach in der wilhelminischen Zeit aufgefasst, wenn man Paulus einen Glaubenshelden genannt hat. Nun war Paulus sicherlich ein mutiger Mann. Aber gegen jegliche Heldenverehrung hätte er leidenschaftlich protestiert. Nicht aus Bescheidenheit – so bescheiden war er gar nicht. Nein: um Christi willen zu leiden, das ist für ihn der Weg, dem gekreuzigten Christus nachzufolgen. Als jemand, der diesen Weg geht, ist er kein religiöser Kraftprotz, sondern einer, der sich vertrauensvoll von der Liebe Gottes führen lässt – auch wenn es so aussieht, als ob dieser Gott vor dem drohenden Unheil kapituliert hätte.

Nun haben wir heutigen Christen allerdings in unserem Land nicht zu befürchten, wegen unseres Glaubens verhaftet und mit dem Tode bedroht zu werden. Insofern können wir uns mit Paulus und seiner Generation nicht vergleichen. Wenn wir dagegen anführen, immerhin würden uns doch manche von unseren Bekannten mitleidig dafür belächeln, dass wir uns noch zur Kirche halten, dann ist das ein ziemlich schiefer Vergleich, der grobes Unverständnis für das ausdrückt, was die alten Christen durchzumachen hatten.

Andererseits ist aber auch unser Leben nicht von Leiden frei, auch wenn die Gründe dafür andere sind als für Paulus damals im Gefängnis von Ephesus. Sogar das Leiden der Menschen in der Ukraine betrifft uns zumindest indirekt, dann nämlich, wenn wir nicht einfach darüber hinweggehen, sondern es uns zu Herzen gehen lassen und – hoffentlich – praktische Konsequenzen daraus ziehen. Aber auch unmittelbar sind wir immer wieder einmal selbst betroffen, sei es durch Krankheit, durch schmerzliche Trennungen und Verluste oder durch das Scheitern eines Lebensplanes. Dann fällt es uns schwer, an Gottes Liebe zu glauben. Sie ist dann auch für unsere Augen verborgen. Insofern ist die Situation des Paulus dann doch nicht so fern, wie es zunächst aussieht.

Was kann da helfen? Lebensmut kann man dann sicher gut gebrauchen, ohne ihn wird es nicht gehen. Aber wo kommt der her? Heroen sind die Meisten von uns vermutlich nicht. Heldentum trägt im Übrigen nicht selten Züge der Verzweiflung am Leben und gerade nicht der Freude, die Paulus uns ans Herz legt. Wie also soll das gehen, im Leiden, wenn Gott so weit weg zu sein scheint, dennoch Freude an ihm zu haben, die uns das Ertragen ermöglicht?

Kehren wir noch ein letztes Mal zu den Worten des Paulus zurück. Er sagt uns: „Sorgt euch um nichts, sondern bringt in aller Anbetung mit Dank eure Bitten vor Gott“. Offenbar ist das Gebet hier der Schlüssel. Freilich funktioniert der nicht wie ein Wohnungsschlüssel, den man nur im Schloss herumzudrehen braucht, und schwups, springt die Tür auf. Oft genug passiert ja rein äußerlich gar nichts von dem, was wir von Gott erbitten. Beten heißt vielmehr: sich vertrauensvoll der Liebe Gottes ausliefern und alle Sorgen ihm anheimstellen. Nicht umsonst fügt Paulus hinzu, das solle „mit Dank“ geschehen. Das unterscheidet unser Beten von einer Forderung. Unser Dank gilt all dem Guten, das Gott uns bereits gewährt hat – aber auch den schweren Zeiten, die uns innerlich vorangebracht haben. Darin liegt eine Fülle von Zeichen dafür, dass er es gut mit uns meint.

Wer sich so der Liebe Gottes anvertraut und nicht mit ihm hadert, wird sich von dieser Liebe auch im täglichen Leben antreiben und leiten lassen. Der Friede Gottes soll unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus bewahren, heißt es in dem berühmten Segenswort am Ende des Textes. Das heißt: Er hat seinen Ort zwar in unserem Inneren, drängt aber sogleich darüber hinaus auf Frieden mit anderen Menschen. Das gilt durchaus auch für den politischen Frieden. Zwar können wir als Einzelne nichts für ein Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine tun. Aber jedenfalls können wir Flüchtlingen von dort in ihrer Not praktische Hilfe leisten. Frieden mit Gott schafft Lichtblicke und Freude für Menschen in jeder Form von realem Leid, sei es durch einfühlsame Begleitung eines Trauernden oder durch ein Weihnachtsgeschenk für ein krebskrankes Kind.

Das Gebet um den Frieden Gottes in unserem Herzen ist also nicht zu trennen von der Arbeit und dem Streit für den Frieden in der Welt. Luther hat das einmal so auf den Punkt gebracht: „Bete so, als ob alles Arbeiten nichts nützt, und arbeite so, als ob alles Beten nichts nützt.“

Amen.


Prof. em. Dr. Dietz Lange

E-Mail: dietzclange@online.de

Dietz Lange, geb. 1933, Prof. für Systematische Theologie in Göttingen 1977–1998, Prediger an St. Marien, Göttingen, seit 1988

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