Prediger 11,9-10; 12,1-2a.3-7

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Prediger 11,9-10; 12,1-2a.3-7

Verherrlichung der Jugend? Hoffnung über den Tod hinaus! | 20. Sonntag nach Trinitatis | 17.10.2021 | Prediger 11,9-10; 12,1-2a.3-7 | verfasst von Dr. Rainer Stahl |

 

 

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

 

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

 

Das hätten wir vielleicht nicht erwartet: Wirklich, es gibt in unserer Bibel eine Aussage, die die Jugend verherrlicht, sie als etwas Erstrebenswertes anpreist, sie als die eigentlich einzige Lebensspanne identifiziert, in der wir uns freuen könnten:

 

„Freue dich, junger Mann / junge Frau an deiner Jugend

und lass es deinem Herzen / deinem Verstand gut sein in den Tagen deiner Jugendblüte.

Und geh auf den Wegen deines Herzens / deines Verstandes und in der Sicht deiner Augen.

Und wisse,

dass dich Gott über dies alles kommen lassen wird ins Gericht.

Und lasse fernbleiben Gram von deinem Herzen / deinem Verstand

und lasse vorüberziehen das Böse an deinem Fleisch,

denn die Jugend und das Schwarzhaar sind nichtig.

Und gedenke deines Schöpfers in den Tagen deiner Jugendblüte

solange noch nicht gekommen sind die Tage des Bösen

und eingetroffen sind Jahre, von denen du sagen wirst: »Keinen Gefallen habe ich an ihnen«,

solange sich noch nicht verfinstert haben die Sonne und das Licht und der Mond und die Sterne […]“

(11,9-10; 12,1-2a).

 

Denn das Gedicht, mit dem unser Buch abschließt, beginnt eigentlich mit Vers 9 von Kapitel 11, also mit Worten, die wir nicht unterschlagen sollten. Außerdem habe ich in meiner Übersetzung bewusst dem jungen Mann, von dem im hebräischen Original wie von einem zu einer Elitetruppe Berufenen geredet wird, noch die junge Frau zur Seite gestellt. Natürlich konnten sich die Denker der Jahre 230 bis 200 vor Christus, aus deren Jerusalemer Gesprächsschule unser Buch hervorgegangen war[i], nicht vorstellen, dass in der Anrede auch die Frauen zu berücksichtigen seien – aber wir können uns Gott sei Dank unser Leben, unsere Gesellschaft, unser Nachdenken über Glück und Unglück im Leben ohne sie nicht mehr vorstellen! Das besonders angesichts der aktuellen Entwicklungen in Afghanistan, in denen wieder durchgesetzt werden soll, was zum Beispiel um die Wende vom dritten zum zweiten Jahrhundert vor Christus Normalität war! Vor diesem großen Hintergrund habe ich schon in diesem biblischen Wort alle benannt – damit sich auch heute alle angesprochen fühlen können.

 

Alle Menschen, egal welcher geschlechtlichen Identität, sind angesprochen: Hier sind wir als Jugendliche angesprochen, als solche, denen ihre Jahre wirklich gefallen, sind wir angesprochen!

 

Dazu darf ich einen Gang des Nachdenkens einschieben, denn unser biblisches Wort ist ja nicht naiv: Alle, die ihre Jugendzeit genießen – wir alle, als wir unsere Jugendzeit genossen –, haben trotz aller Freude immer die Verantwortung im Blick zu behalten, der wir nie entkommen können: die Verantwortung für die Folgen unseres Verhaltens, die Verantwortung über uns hinaus für die Menschen neben uns:

 

Deshalb auch habe ich den öfter vorkommenden Begriff „lew“, der „Herz“ bedeutet, auch mit dem Begriff „Verstand“ wiedergegeben. Denn nach den Anschauungen der damaligen Denker war das Herz nicht nur »Ort« des Gefühls, sondern auch des Verstehens. Schon dadurch wird auf die Verantwortung angespielt, die den Verfassern unseres Gedichtes wichtig ist.

Deshalb ist der folgende Satz so wichtig: „lasse vorüberziehen das Böse an deinem Fleisch“ (11,10b). Dazu darf ich fragen: Welches Maß an Verantwortung nehmen diejenigen wahr, die mit ihren hochgezüchteten Autos Rennfahrten unternehmen und dabei in Kauf nehmen, dass sie Unbeteiligte überfahren, ja: töten? Welches Maß an Verantwortung nehmen diejenigen wahr, die sich immer wieder Alkoholexzessen ergeben, die sich von Drogen abhängig gemacht haben und ihr Leben der Beschaffung von diesen Drogen widmen?

Diese und andere Gefahren hatte unser Gedicht schon in folgende Zeile zusammengefasst: „Und wisse, dass dich Gott über dies alles kommen lassen wird ins Gericht“ (11,9d-e) – in die Pflicht, Rechenschaft abzulegen.

 

Beim mehrmaligen Lesen und Durchdenken unseres Predigtwortes kam bei mir sehr schnell die Frage auf, was eigentlich gepredigt werden könnte, was die Botschaften dieses biblischen Wortes sein könnten. Aber hatten wir eben nicht schon die erste Botschaft gefunden? Übrigens – das darf ich als bewusster Lutheraner unterstreichen – in dieser besonderen Abfolge:

Erst „Evangelium“: Werdet der Chancen Eurer Jugendzeit bewusst. Sie kommen in dieser Weise nie mehr wieder!

Dann „Gesetz“: Vergesst nie Eure Verantwortung für Euch und für Eure Mitmenschen!

Unser biblisches Wort will uns das Leben nicht madig machen, denn dieses „Gesetz“ ist keine Spaßbremse! Aber es warnt uns, trotz aller Freude nicht über die Stränge zu schlagen. Es weist uns auf diejenige Freude hin, die Bestand und Zukunft haben wird.

Das alles wäre doch eine wichtige Botschaft, die zu hören sich wirklich lohnt! Halten Sie also Maß zwischen Freude und Begeisterung und dann Verantwortung und Rücksicht!

 

Was aber sagt unser biblisches Wort noch? Je mehr ich über dieses Wort nachdenke, desto mehr empfinde ich, dass es jetzt die gehörte Grundbotschaft vertiefen will, den Ernst der Botschaft hervorheben will, die Entschiedenheit seiner Botschaft unterstreichen will. Dabei wendet sich unser biblisches Wort den anderen Menschenaltern zu, besonders dem Alter:

 

„An dem Tag, an dem zittern die Bewacher des Hauses            – zittern die Arme,

und sich krümmen die Männer der Kraft                                      – sich krümmen die Beine,

und ohne Arbeit sind die Mühlensklavinnen,

weil sie wenige geworden sind,                                                      – die Zähne verloren gehen,

und sich verfinstert haben, die durch die Fenster sehen           – die Sehkraft der Augen erlahmt,

und verschlossen sind die Doppeltüren zur Straße“                   – sich die Hörkraft der Ohren verliert.

(12,3-4a).

 

Als dieses Gedicht geschrieben worden war, gab es ja alles noch nicht, was wir nutzen können:

Medikamente, die Beschwerden wirklich lindern – außer damals für Reiche die Hoffnungen auf Linderungen der Schmerzen in Bädern, wie für Herodes den Großen im Bad bei den warmen Quellen von Kallirrhoe nordöstlich des Toten Meeres im Jahr 4 vor Christus.

Die gute Versorgung durch Zahnärztinnen und Zahnärzte, die es für uns gibt.

Die modernen Brillen und Augenoperationen: ja, die Möglichkeiten künstlicher Linsen und die Rückgängigmachung der Ablösung der Netzhaut.

Das Ausgleichen der Abschwächung des Gehörs durch Hörgeräte von unterschiedlichsten Firmen.

Die Rollatoren, mit denen auch Menschen mit unsicheren und schwachen Beinen doch gehen können.

 

Über das hier Angedeutete muss ich gar nicht hinausgreifen. Aber ich möchte doch die Möglichkeiten der Transplantationsmedizin andeuten:

Die Transplantation einer Niere (dabei denken wir an unseren Bundespräsidenten, der mit einer seiner Nieren seiner Frau geholfen hatte – denken also an die Hilfe von Lebenden zu Lebenden);

die Transplantation sogar des Herzens (dabei denken wir also an Lebenschancen, die auch Tote geben können).

Ich habe in meinem Leben einmal eine Hornhaut von einem anderen Menschen erhalten, der vor der Entnahme seiner Hornhaut natürlich schon tot war. In meinem konkreten Fall kann ich trotzdem nicht besser sehen, aber diese Erfahrung hat mich dazu gebracht, auch aus Glaubensgründen für Transplantationen zur Verfügung zu stehen. Seit vielen Jahren steckt in meiner Brieftasche ein Organspendeausweis. Gerade als Theologe verstehe ich die Gegnerschaft gegen Organspenden nicht. Wozu braucht Gott meine gestorbenen Überreste, um mich zu ewigem Leben aufzuerwecken?

 

Vertiefen darf ich diese Position, indem ich auf einen gemeinsamen evangelisch/römisch-katholischen Text aus dem Jahre 1990 – also auf eine schon recht alte Übereinkunft – verweise: „Wir wissen, daß unser Leben Gottes Geschenk ist, das er uns anvertraut hat, um ihm die Ehre zu geben und anderen Menschen zu helfen. Diese Bestimmung unseres Lebens gilt bis zum Sterben, ja möglicherweise über den Tod hinaus. […] Wer darum für den Fall des eigenen Todes die Einwilligung zur Entnahme von Organen gibt, handelt ethisch verantwortlich, denn dadurch kann anderen Menschen geholfen werden, deren Leben aufs höchste belastet oder gefährdet ist. […] Aus christlicher Sicht ist die Bereitschaft zur Organspende nach dem Tod ein Zeichen der Nächstenliebe und Solidarisierung mit Kranken und Behinderten.“[ii]

 

Und damit sind wir bei der Schlusspassage unseres Bibelwortes. Dort wird wohl nicht von Auferweckung in christlichem Sinn geredet. Aber es wird eine dafür wichtige Grundlage gelegt:

 

„Denn gehend ist der Mensch zu seinem ewigen Haus. […]

Und zurückgekehrt ist der Staub auf die Erde, wie er war,

und der Atem / der Geist zurückkehrt zu Gott, der ihn gab“

(12,5f.7a-c).

 

Was in die Erde gelegt wird, wird Staub, ist Staub. Für die Reichen damals galt: Sie wurden in ein Felsengrab gelegt. Aber etwa ein Jahr später, wenn alles Organische verwest war, wurden die Knochen (die natürlich auch organisch sind) in einer tieferen Felshöhle gesammelt. Damit waren sie für das Verstehen jener Menschen aus ihrem menschlichen Blick hinausgegeben, ja sogar entsprechend ihrer Ahnungen von Gott auch aus dessen Blick und Macht hinausgefallen.[iii] Aber der Gestorbenen Atem, ihr Geist – der war nicht verloren, der war zu dem „gegangen“, der ihn gegeben hatte, zu Gott! Also: Unser Atem, unser Geist – der wird nicht verloren gehen, der wird „gehen“ zu dem, der ihn gab, zu Gott!

 

Mir ist eine Vorstellung sehr wichtig: Der Name, die Identität jedes Menschen wird von Gott erinnert. In dieses Erinnern darf ich mich – Rainer – vertrauensvoll fallen lassen. Das ist ja das Wesentliche, was ich „Gott“ nennen kann: So wie ich mich seinem Schöpfungshandeln verdanke, so weiß ich mich bei ihm aufgehoben und bewahrt: Er weiß mich weiterhin, denn zu ihm, „der ihn mir gab“, wird mein Atem, mein Geist zurückkehren.

 

Aus der längst vergangenen Zeit der Deutschen Demokratischen Republik habe ich mir eine Erfahrung bewahrt: Die Kommunisten haben immer an den Gräbern gesagt, dass sie die verstorbene Person in Erinnerung behalten würden. Aber das ist doch keinerlei Hoffnung: Dass selbst sterbliche Menschen die Erinnerung an einen Gestorbenen bewahren würden. Wie weit reicht das Erinnerungsvermögen von Menschen? Wenn wir wirklich ein Erinnerungsvermögen an verstorbene Menschen denken wollen, dann müssen wir Gott denken – und Gott glauben. Denn nur Gott ist die Macht, die jede einzelne Person erinnern wird. Deshalb glaube ich weiterhin an Gott. Deshalb lade ich Sie jetzt ein, Gott zu glauben:

Denn zu ihm ist der Atem, ist der Geist jeder verstorbenen Person gewechselt, zu dem nämlich, „der ihn gab“!

Zu ihm wird Ihr Atem, Ihr Geist einmal wechseln, zu dem nämlich, „der ihn gab“!

Zu ihm wird mein Atem, mein Geist einmal wechseln, zu dem nämlich, „der ihn gab“!

Amen.

 

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“

 

Dr. Rainer Stahl

Erlangen

rainer.stahl.1@gmx.de

 

[1951 geboren, Studium der Theologie in Jena, Assistent im Alten Testament, 1981 ordiniert, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, zwei Jahre lang Einsatz beim Lutherischen Weltbund in Genf, dann Pfarrer in Altenburg, Alttestamentler an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, Referent des Thüringer Landesbischofs in Eisenach, seit 1998 Dienst für den Martin-Luther-Bund (das lutherische Diasporawerk) in Erlangen, seit 2016 im Ruhestand.]

 

[i]   Hier muss ich andeuten, dass ich 2004 / 2005 für eine Vorbereitungskonferenz in Thüringen zu den Bibelwochentexten der Bibelwoche 2005/2006 aus dem Buch Prediger intensiv gearbeitet hatte. Jetzt sei nur kurz darauf hingewiesen, dass der Bezug zu „Salomo“ – „Prediger Salomos“ – natürlich eine redaktionelle Identifikation darstellt, ist doch z.B. auch das Hebräisch dieses Buches viel jünger als das Hebräisch, das Salomo 600 Jahre früher gesprochen hätte.

Bei der Vorbereitung auf jene Konferenz in Thüringen waren z.B. folgende Arbeiten wichtig:

Renate Brandscheidt: Weltbegeisterung und Offenbarungsglaube. Literatur-, form- und traditionsgeschichtliche Untersuchung zum Buch Kohelet, Trierer Theologische Studien 64, Trier 1999.

Jetzt leben. Sieben Texte aus Kohelet, mit Einführung und Auslegungen von Franz-Josef Ortkemper, Redaktion: Rosemarie Micheel und Waldemar Wolf, Texte zur Bibel 21, Neukirchen-Vluyn 2005.

Als jüngere Literatur nenne ich noch:

Alain Bühlmann: Kohelet, in: Einleitung in das Alte Testament. Die Bücher der Hebräischen Bibel und die alttestamentlichen Schriften der katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirchen, hg. von Thomas Römer, Jean-Daniel Macchi und Christophe Nihan, Zürich 2013, S. 605-613.

[ii]  „Organtransplantationen. Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gemeinsame Texte 1, Hannover und Bonn 1990, S. 22-23.

[iii]   Hierzu sei ein wichtiger Aufsatz zu den beiden Silberröllchen, die in Ketef Hinnom südlich der Altstadt Jerusalems gefunden worden waren, genannt: Angelika Berlejung: Ein Programm fürs Leben. Theologisches Wort und anthropologischer Ort der Silberamulette von Ketef Hinnom, Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft (ZAW) 120, 2008, S. 204-230. Ich zitiere hier: „Zwischen den einzelnen Stadien des Todes eines Menschen muss genauer differenziert werden, da nach vorderorientalisch-palästinischer Vorstellung ein Mensch mit Tod/Grab/Unterwelt verschiedene Stadien der postmortalen Existenz durchlief. In die Existenzform des Toten im Grab während seiner Verwesungszeit reichte die portative Gottespräsenz der Amulette sehr wohl, in die der Unterwelt jedoch nicht hinein. […] Die Antwort, die wir in Ketef Hinnom vor uns haben, ist für das 6./5. Jh. v.Chr. eindeutig. Sie lautet unter den auf das Grab (!) eingeschränkten Bedingungen: JA!“ (a.a.O., S. 228 und 230).

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