Predigt

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Predigt zu Psalm 139 | verfasst von Pfarrer Dr. Rainer Oechslen |

Für meine Predigt heute wähle ich den Psalm 139, der mich seit vielen Jahren beschäftigt. Der Psalm ist eine wunderbare Einheit, viel zu schade, um sie zu zerreißen – aber auch zu lange, um sie in einem Stück auszulegen. Deshalb möchte ich jeweils einen Abschnitt besprechen. Ich beginne mit den Versen 1 bis 4:

HERR, du erforschest mich

und kennest mich.

Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es;

du verstehst meine Gedanken von ferne.

Ich gehe oder liege, so bist du um mich

und siehst alle meine Wege.

Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge,

das du, HERR, nicht alles wüsstest.

 

Liebe Schwestern und Brüder,

„HERR, du erforscht mich“, sagt der Beter.

Bibelkenner merken: Der Psalm stammt aus der Spätzeit des Alten Testaments. In früherer Zeit hätten die Beter gesagt: HERR, du erforscht uns. Da prüfte Gott sein Volk, ob es in seinem Gesetz wandelte oder nicht(2. Mose 16,4) Nun steht ein einzelner Mensch vor Gott. Und dieser einzelne ist uns Heutigen nah. Vorsichtiger gesagt: Er ist mir nah.

In der Mitte meines Lebens, als ich 40 wurde, wünschte ich mir eine Auszeit und fuhr ohne große Vorbereitung nach Mittelamerika. In Quetzaltenango, im Hochland von Guatemala, wollte ich ein wenig Spanisch lernen. Dort, am Fuß des Vulkans Santa Maria, kam ich nach der aufregenden Reise über New York nach Guatemala-Stadt und mit dem Bus hinauf in die Berge wieder zur Ruhe. So dachte ich. Tatsächlich schlief ich eine Woche lang erst um fünf oder sechs Uhr morgens ein. Alles, was in meinem Leben nicht in Ordnung war, ging mir durch den Kopf; alle meine Fehler standen um mein Bett herum. Ich wurde konfrontiert mit meiner dunklen Seite. Gott hat mich erforscht.

Ich vermute: Jetzt, da ich an der Schwelle des Alters stehe, erforscht Gott mich wieder. Und ich frage mich: Will ich das wirklich, dass der Herr alles von mir weiß, dass er meine Gedanken von ferne versteht? Sollte nicht besser manches verborgen bleiben? In einem anderen Psalm steht ein Satz, den ich sehr gut verstehe: „Wohl dem, dem die Sünde bedeckt ist.“ (Psalm 32,1) Das ist die eine Seite.

Es gibt auch eine andere. Eine Studentin schrieb mir: „Ich finde es immer entlastend, dass der Herr sowieso schon alles weiß.“ Der Satz passt zu ihr, zu der Freude und Freundlichkeit, die sie ausstrahlt. Sie hat recht: Der Vers von dem guten Hirten, „der mich liebet, der mich kennt und bei meinem Namen nennt“ (EG 593,1) klingt kindlich – und ist doch Trost auch für Erwachsene, die wissen, dass sie nicht immer liebenswert sind.

Lesen wir weiter in Psalm 139:

Wohin soll ich gehen vor deinem Geist,

und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?

Führe ich gen Himmel, so bist du da;

Bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.

Nähme ich Flügel der Morgenröte

und bliebe am äußersten Meer,

so würde auch dort deine Hand mich führen

und deine Rechte mich halten.

 

Die Flügel der Morgenröte – wer es noch nicht bemerkt hätte, der wüsste es jetzt: Die Psalmen sind Dichtung. Sie sind Poesie, die uns den Blick öffnet für ein Leben, das in der Sprache der Wissenschaft allein nicht beschrieben werden kann.

 

Wissenschaft würde fragen – und hat tatsächlich immer wieder so gefragt: Wie ist es möglich, dass der große Gott, der die Sterne geschaffen hat und das Weltall lenkt, auf mein Leben achthat? Wie ist es möglich, dass er meine kleinen Sorgen kennt? Mögen mir meine Sorgen groß erscheinen, für ihn sind sie winzig. Mag ich hundert Jahre alt werden, in der Geschichte der Welt ist das weniger als ein Wimpernschlag.

In der Sprache der Philosophie wird die Frage so gestellt: Der Gott, der die großen Gesetze der Natur gegeben hat, wie kann der Einzeldinge kennen? Genügt es nicht, dass die Welt seinen Gesetzen folgt?

 

In der Sprache des Glaubens antworten wir: Gott ist nicht nur unendliche Weisheit, er ist auch unendliche Liebe. Mit jedem Atemzug nehmen wir die Liebe des Gottes in uns auf, der das Leben gewollt hat, der das Leben auch heute will. Nähmen wir Flügel der Morgenröte und flögen wir ans äußerste Meer, wir würden doch immer bleiben in der Welt, die Gott zur Erlösung, zur Vollendung bestimmt hat. Und weil wir immer in Gottes Welt bleiben, deshalb sind auch unsere Krankheiten, unser Kummer, unsere Sorgen zur Erlösung, ist unser Leben zur Vollendung bestimmt.

 

Vielleicht beten wir: „Unser tägliches Brot gib uns heute“, und denken dabei nur an unser Marmeladebrot und die Tasse Kaffee zum Frühstück. In Wahrheit aber beten wir darum, dass Gott alle Menschen und seine ganze Schöpfung mit allem Notwendigen versorgt und mitten in dieser Welt auch uns nicht verkommen lässt, euch nicht und mich auch nicht.

 

Vielleicht kann ich es mit einem Gleichnis sagen: Liebe ist ein großes Gefühl, weit und tief wie ein Ozean. Aber Liebe ist nicht nur ein Gefühl. Sie zeigt sich in Taten und kann sich äußern auch in der kleinen Geste, mit der du deiner Geliebten einen Regenschirm in die Hand drückst, wenn sie aus dem Haus geht. So ist Gott: weit und tief wie ein Ozean und gegenwärtig in dem Igel in meinem Garten, der mir Freude macht und den ich nun füttere, damit er gut durch den nächsten Winter kommt.

 

Lesen wir weiter:

 

Denn du hast meine Nieren bereitet

und hast mich gebildet im Mutterleibe.

Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin;

Wunderbar sind deine Werke;

Das erkennt meine Seele.

 

Ich war noch am Anfang meines Studiums, als ein Buch erschien, das meine Freunde und mich sehr erregte: „Gottesvergiftung“ von Tilmann Moser. Der Psychotherapeut Moser lehnte sich auf gegen einen Gott, der alles sieht und alles weiß. So ein Gott macht krank, meinte Moser. Dieser Gott verhindert, dass Menschen den aufrechten Gang lernen, sich in Selbstvertrauen entfalten. Moser schrieb: „Was meinst du, wieviel Drohung und Unentrinnbarkeit unter der Oberfläche dieser Lobpreisung liegen? … Sind Menschen je warmherziger zur Selbstaufgabe ermuntert worden?“ Gott, der große Bruder, der uns beobachtet, soll endlich wegschauen, damit die Menschen zu sich selbst finden. Das ist Mosers Forderung.

Neu war Mosers Aufschrei nicht. Schon Hiob sagte in seiner Verzweiflung: „Was ist der Mensch, dass du ihn groß achtest und dich um ihn bekümmerst? Jeden Morgen suchst du ihn heim und prüfst ihn alle Stunden. Warum blickst du nicht einmal von mir weg und lässt mir keinen Atemzug Ruhe?“ (Hiob 7,17-19)

In den Versen aus Psalm 139 aber schaut nicht Gott auf den Menschen. Der Beter schaut auf Gott, der ihn gemacht hat. In einer Art Vision sieht der Beter, wie Gott ihn als Embryo geformt hat und ruft aus: „Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin.“ Ich weiß nicht, wie ein Mensch mehr Selbstvertrauen gewinnen kann als durch die Erfahrung: Ich bin ein Wunder. Seelsorge besteht nicht nur darin, dass ein Mensch von seinen dunklen Seiten reden darf. Seelsorge heißt auch: den niedergedrückten und enttäuschten Menschen von dem Wunder ihrer Existenz erzählen. Ich habe in meinem Freundeskreis ein paar Ärzte. Sie alle haben auch nach vielen Jahren in ihrem Beruf nicht aufgehört, über das Wunder des Lebens zu staunen. So staunt auch der Beter dieses Psalms: Es ist ein Wunder, dass es mich gibt.

Lesen wir noch einmal weiter:

Ach, Gott, wolltest du doch den Frevler töten!

Dass doch die Blutgierigen von mir wichen!

Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen,

und verabscheuen, die sich gegen dich erheben.

Ich hasse sie mit ganzem Ernst;

sie sind mit zu Feinden geworden.

 

Wer jetzt meinen würde, dass dieser Abschnitt doch nicht in den wunderbaren Psalm 139 gehört, der hätte den Psalm noch nicht verstanden.

Ich will es zuerst sagen mit den Worten von Otmar Keel, einem Kenner des Alten Testaments, dem ich viel verdanke: „Der Beter von Psalm 139 kann im Gegensatz zu vielen sonntäglichen Kirchgängern, den engen Zusammenhang zwischen Gottverbundenheit und Politik nicht übersehen. Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft verderben die Verbundenheit mit Gott. Das Bewusstsein davon und die Angst davor brechen hier allerdings wie ein Vulkan über eine friedliche Landschaft herein.“

Wir in dieser Kirche gehören zur Gattung der sonntäglichen Kirchgänger. Uns ist dennoch klar, glaube ich, was Keel meint. Mit meinen Worten: Wer erkannt hat, dass er von Gott wunderbar gemacht ist, wer verstanden hat, dass Gottes Liebe diese Welt durchwirkt und sie versorgt, der kann sich nur auflehnen gegen alle, die diese Welt verkommen lassen.

Eine Freundin schrieb mir vor einigen Tagen einen langen Brief. Bis vor einem Jahr hat sie mit ihrer Familie in Beirut gelebt. Auch ich habe sie dort einmal besucht. Jetzt schreibt sie: „Unsere Jungs habe ich meist bei der Antonius-Kirche getroffen, auf deren Hof sie spielten, 200 m Luftlinie von dem unseligen ‚Warenhaus 12‘ mit seinen Tonnen von Ammoniumnitrat entfernt. Die Explosion hätte uns alle aus nächster Nähe getroffen … Die Ohnmacht, dass keiner Verantwortung übernimmt, keiner aus der politischen Elite auch nur eine Geste der Solidarität vollbringt – die Hoffnung auf Gerechtigkeit weicht, der Wunsch nach Rache wächst.“

Ich denke, ich muss diesem Brief nichts hinzufügen. Auch Hass ist nicht nur ein Gefühl. Es ist  in der Sprache der Bibel die klare politische Ablehnung von Leuten, die ein ganzes Land zugrunde richten.

Der Psalm ist noch nicht zu Ende. Die wichtigsten Verse kommen am Schluss:

Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz;

Prüfe mich und erfahre, wie ich’s meine.

Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin,

und leite mich auf ewigem Wege.

 

Wir sind am Ziel des Psalms angelangt. Das Ziel heißt: Gott, lass mich nicht bei denen sein, die diese Welt zugrunde richten. Lass mich zu denen gehören, die die Wunder deiner Schöpfung bestaunen und bewahren. Prüfe meine Worte und Taten. Zeige mir das Böse, das ich getan habe – nicht damit ich mit schlechtem Gewissen herumlaufe, sondern damit ich künftig deinen Weg gehe, den Weg, der bestehen bleibt, den ewigen Weg.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

Amen

 

Pfarrer Dr. Rainer Oechslen (rainer.oechslen@elkb.de)

Sudetenstraße 4, 91578 Leutershausen

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