Predigt über Matthäus 6,12

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Predigt über Matthäus 6,12

Verantwortung übernehmen | Predigt über Mt. 6,12 | von Frank Jehle |

Liebe Gemeinde!

Das Unservater – oder wie Lutheraner und Katholiken sagen: das Vaterunser – ist zweifellos der bekannteste Text der Bibel. Von Millionen und Abermillionen wird es auch heute noch jeden Tag gebetet. Allerdings: Ob es auch wirklich in seiner Tragweite und Tiefe von allen verstanden wird? Ich wage dies zu bezweifeln und nehme dabei mich selbst nicht aus. Für heute greife ich nur eine einzige Bitte heraus. Sie steht fast im Mittelpunkt: «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.» Je älter ich werde, und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr gerate ich ins Staunen. Denn: Wird hier nicht unsere Erfahrungswelt geradezu auf den Kopf gestellt? Sowohl in unserem persönlichen Bereich als auch in der Welt der Politik verhalten wir uns und verhält man sich in der Regel genau umgekehrt: Wir entschuldigen uns, und wir beschuldigen die andern. Wenn man uns bei einem Fehler ertappt – oder wenn andere uns ertappen –, reden wir uns heraus. Wir machen mildernde Umstände geltend und versuchen, uns zu rechtfertigen. «Die andern sind schuld» oder «Die Umstände sind schuld». «Wir konnten doch gar nicht anders» und «Wir habe es doch mindestens gut gemeint».

Und dann die andere Seite: Vor kurzem habe ich wieder von Hans Christian Andersen das Märchen «Die Schneekönigin» gelesen, das wohl viele von Ihnen kennen. Im ersten Kapitel erzählt die weitgespannte Dichtung vom Zerrspiegel des Teufels. Das Schöne und Gute sieht verzogen und hässlich aus. Und dann zerbricht dieser Spiegel. Winzig kleine Glassplitterchen fliegen zu Tausenden durch die Luft. Der kleine Junge Kay wird von einem ins Auge und von einem zweiten ins Herz getroffen. Die Splitter haken sich fest, und von da an ist der an und für sich sympathische Kay fundamental verändert: Vor ihm steht ein wunderbarer Rosenstock, an dem er sich vorher freute. «Pfui!», ruft er plötzlich, «die Rose da ist von einem Wurm angenagt! Und schau, die dort ist ja ganz schief! Es sind im Grund eklige Rosen!»[1] Und er reisst die beiden Blumen ab.

Etwas später heisst es vom gleichen Kay: «Er wollte sein Vaterunser beten, aber er konnte sich nur des grossen Einmaleins erinnern.»[2]

Liebe Gemeinde!

Natürlich hat dieser Kay auch die Bitte «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern» vergessen. Und die Welt wird kalt. In den vergangen Wochen haben wir einiges erlebt: Ich denke an die gegenseitigen Schuldzuweisungen in der Corona-Krise. Oder wie war es im Zusammenhang mit Afghanistan? Niemand will schuldig sein. Alle rechtfertigen sich. Man habe schliesslich die sich überstürzenden Ereignisse nicht voraussehen können! Schuldig sind nur die Taliban. Das ist natürlich nicht ganz falsch. In der Geschichte vom kleinen Kay wurde die Rose ja ebenfalls wirklich von einem Wurm angenagt. Aber man vergisst, dass die Taliban nicht hätten entstehen können, wenn die Politik nicht entscheidende Fehler gemacht hätte. Zur Zeit des Kalten Kriegs sind die anfänglich unbedeutenden Taliban vom Westen als «Waffe» gegen die Russen gefördert worden.

Doch ich will jetzt nicht weiter politisieren. Auch ich laufe sonst Gefahr – oder ich bin ihr schon erlegen –, andere anzuschwärzen. «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.» Wo so gebetet wird, sieht die Welt verwandelt aus. Wo so gebetet wird, gilt nicht mehr nur das grosse Einmaleins mit seiner kalten Rationalität. Es geht um etwas anderes und mehr: Menschen übernehmen Verantwortung. Menschen stehen zu ihren Schwächen und Fehlern. Und umgekehrt: Menschen nehmen bei den andern in der Nähe und in der Ferne auch das Positive wahr. Auch die schlimmsten Bösewichte haben irgendwo auch gute Eigenschaften. Und auch der schlimmste Bösewicht ist in der Regel nicht allein daran schuld, dass er so geworden ist.

In den vergangenen Wochen hatte ich den Auftrag, einen Lexikonartikel über den seinerzeit weltberühmten Zürcher Theologen Emil Brunner zu verfassen, dessen Biografie ich vor einigen Jahren publizierte. In diesem Zusammenhang befasste ich mich wieder einmal mit Brunners bedeutendstem Buch, seiner Ethik «Das Gebot und die Ordnungen» aus dem Jahr 1932. Und ich staunte einmal mehr darüber, was alles keineswegs Veraltetes darin steht. Unter anderem denkt Brunner aus christlicher Sicht über das Strafrecht nach. Und hier wendet er sich gegen die «alte Sühnepraxis»; diese sei leider «tatsächlich vom Racheinstinkt diktiert» gewesen und habe sich als «ein Nährboden des widerwärtigsten und unbarmherzigsten Pharisäismus» erwiesen.[3]

Brunner schreibt:

«Gewiss, der Schuldige soll sühnen. Aber wer ist der Schuldige? […] Der erste und Hauptschuldige jedes Verbrechens ist: die Gesellschaft. Denn sie züchtet das Verbrechen durch die Brutalität ihrer wirtschaftlichen ‹Ordnungen›, durch die Mangelhaftigkeit ihrer Fürsorge für den in sittlich unmöglichen Verhältnissen Aufwachsenden, durch die Härte, mit der sie den weniger Begabten und Erfolgreichen auf die Strasse wirft, durch die Lieblosigkeit, mit der sie im grossen Ganzen dem weniger Angepassten begegnet. Eine Gesellschaft, die die grauenhafteste Kriegstechnik erfindet und durch die allgemeine Dienstpflicht jedem Volksgenossen den Gebrauch dieser Technik dem Bruder Mensch gegenüber, der zufällig ‹zum Feind› gehört, zur Pflicht macht – eine solche Gesellschaft hat kein moralisches Recht, sich über den einzelnen Verbrecher zu entrüsten, sondern nur [die Pflicht], über sein Verbrechen als unser Verbrechen zu erschrecken.»

Brunner forderte eine «Humanisierung des Strafwesens»: «Der Schuldige muss sühnen» – dieser Satz müsse in der Praxis immer heissen: «die Schuldigen alle müssen sühnen», der Straftäter natürlich auch, aber ebenso – oder sogar noch mehr – die «Gesellschaft, indem sie an dem Schuldiggewordenen das Versäumte, so gut als dies noch möglich ist, nachholt». Dieses Strafsystem werde in mannigfacher Hinsicht teurer sein als das jetzige; das sei aber recht so, denn darin gerade bestehe die «Sühne der Gesellschaft».

Das schweizerische Strafrecht kannte bis zur Inkraftsetzung eines neuen Strafgesetzbuchs im Jahr 1942 noch die Todesstrafe. Für viele Ohren wohl provozierend, formulierte Brunner 1932: Die Todesstrafe könne innerhalb der von ihm vertretenen theologisch-ethischen Auffassung «keinen Platz mehr haben».

Nun, Brunner war nicht unfehlbar. Man müsste über seine Thesen diskutieren. Unter der Bedrohung durch den Nationalsozialismus fand er später wohlwollendere Sätze gegenüber der schweizerischen Landesverteidigung. Er war nicht für eine «Schweiz ohne Armee». Wesentlich für uns – und deshalb zitierte ich sie – sind aber seine grundsätzlichen Gedanken.

Liebe Gemeinde!

«Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.» Meine Predigt über diese Bitte, die unsere Alltagswirklichkeit gewissermassen auf den Kopf stellt – ich nehme die Verantwortung auf mich und versuche, den anderen oder die andere zu entschuldigen –, beende ich mit der Erinnerung an eine andere Geschichte, die viele von Ihnen wohl ebenfalls kennen und die etwas von dieser neuen Welt in der Nachfolge Jesu ins tägliche Leben übersetzt, in der Nachfolge jenes Jesus, der gemäss dem Lukasevangelium am Kreuz «Vater, vergib ihnen! Denn sie wissen nicht, was sie tun», gebetet hat. (Lk 23,34) Ich meine die Kurzgeschichte «Das Brot» des deutschen Erzählers Wolfgang Borchert, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Vielleicht kommt sie Ihnen wieder in den Sinn:

Es herrscht Lebensmittelrationierung. Für jeden und jede ist eine genau abgezählte Portion Brot bestimmt. Eine Frau wacht mitten in der Nacht auf und nimmt wahr, dass ihr Mann vom Hunger gequält in der Küche heimlich vom Brot isst, das eigentlich für sie reserviert ist. Sie legt sich ganz still wieder ins Bett – ohne irgendwelche Vorwürfe gegenüber ihrem Mann.

Und so hört die Geschichte auf:

«Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei essen können.

‹Du kannst ruhig vier essen›, sagte sie und ging von der Lampe weg. ‹Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen. Iss doch man eine mehr. Ich vertrag es nicht so gut.›

Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr leid.

‹Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen›, sagte er auf seinen Teller.

‹Doch. Abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iss man. Iss man.›

Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.»[4]

Lassen wir dies in uns nachklingen. Amen.


Gottesdienst in St. Laurenzen am 26. September und im Linsebühl am 24. Oktober 2021

Frank Jehle, Pfr. Dr. theol.

Speicherstrasse 56

9000 St. Gallen

Telefon 071 244 32 90

frank.jehle@unisg.ch

Gemeindelied 572,1–3: «Morgenglanz der Ewigkeit.»

Gemeindelied 287,1 und 4–6: «Vater unser im Himmelreich.»

Gemeindelied 813: «Ubi caritas et amor.» 4x

Gemeindelied 332: «Verleih uns Frieden gnädiglich.»

[1] Hans Christian Andersen: Gesammelte Märchen. Erster Band. Zürich o. J., S. 385.

[2] A. a. O., S. 388.

[3] Emil Brunner: Das Gebot und die Ordnungen. Tübingen 1932, dieses und die folgenden Brunner-Zitate S. 463f.

[4] Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk. Hamburg 1949, S. 322.

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