1. Korinther 12,4-11

1. Korinther 12,4-11

Freiheit davor, alles leisten zu müssen | Pfingstmontag, 24. Mai 2021 | 1. Korinther 12,4-11, | 

verfasst von Dr. Rainer Stahl | 

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen!“

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

Heute können wir eine der bekanntesten Briefstellen aus dem Neuen Testament hören:

4        Es gibt unterschiedliche Gnadengaben,

aber es gibt [nur] den einen / denselben Geist,

5        und es gibt unterschiedliche Formen des Dienstes,

und es ist [immer] derselbe Herr,

6        und es gibt unterschiedliche Kräfte / Wirksamkeiten,

und es ist [immer] derselbe Gott der Wirksamkeiten von allem in allem.

7        Jedem ist gegeben die Offenbarung zum Nutzen aller:

8        +  Einem nämlich ist durch den Geist das Wort der Weisheit gegeben,

+  einem anderen aber das Wort der Erkenntnis gemäß desselben Geistes,

9        +  einem dritten (aber) der Glaube  in demselben Geist,

+  einem anderen aber die Gnadengabe zu heilen in dem einen (in demselben)

Geist,

10        +  einem anderen aber die Kraft der Wunder,

+  einem anderen aber das Prophezeien,

+  einem anderen das Unterscheiden der Geister,

+  einem weiteren (aber) das Hervorbringen von Zungen[reden],

+  einem anderen aber das Auslegen von Zungen[reden][i].

11        Dies alles aber bewirkt der eine und derselbe Geist – jedem Unterschiedlichen

das Eigene, wie er will.[ii]

Liebe Schwester und Brüder!

Ist das nicht ein großartiges Statement für die Freiheit in der Gemeinde, in der Kirche?! Solch ein Statement für Freiheit, das Paulus vor 1965 Jahren geschrieben hat! In der weltlichen Gesellschaft seiner Zeit, in Korinth, galt als allerwichtigste Voraussetzung für Freiheit, für die Mitwirkung in der Volksversammlung zum Beispiel, im „Démos“ – einem Begriff, von dem unser Wort Demokratie herkommt –, Folgendes: Ob man – und ich sage jetzt bewusst „man“, weil „frau“ weithin daran gar nicht beteiligt war (aber siehe unten!) –, ob man selbständig lebte, vollständig auf der Basis des eigenen Einkommens oder Vermögens existierte. Alle Abhängigen, alle Sklaven, waren nicht eingeschlossen. Sie konnten in selbständiger Weise keinerlei Aufgaben für die Gemeinschaft übernehmen. Nie vergesse ich, dass mein alttestamentlicher Professor in Jena, Rudolf Meyer, einmal gesagt hat, dass er in der Antike Sklave gewesen wäre, denn nur so hätte er die ökonomische Basis für die wissenschaftliche Arbeit gewinnen können. Und – so meinte er das –: Auch im Sozialismus war er doch eigentlich eine Art Sklave. Mit einem guten Gehalt, mit der Möglichkeit, in den Semestermonaten zusammen mit seiner Frau Studierende zum sonntäglichen Mittagessen einzuladen und, wenn sich die Stimmung gut entwickelte, noch eine zweite Flasche Wein heraufzuholen…

Merken Sie etwas? Am Verhalten meines Professors ist schon viel über eine Annäherung an die Vision des Paulus zu ahnen – und zugleich an dieser Selbsteinordnung meines Lehrers der entscheidende Unterschied wahrzunehmen: Paulus erwähnt diese ökonomische, diese pekuniäre Voraussetzung für die Mitwirkung in der Kirche, in der Gemeinde überhaupt nicht. In der Gemeinschaft der Christinnen und Christen bilden die wirtschaftlichen und die finanziellen Voraussetzungen, die ein Mitglied mitbringen kann, keine Bedingungen für das Mitwirken. Obwohl er ja wusste, wie wichtig gerade die Witwen in den Gemeinden waren. – Einmal als Personen, die Unterstützung durch die anderen Gemeindeglieder brauchten. Und dafür hatte Paulus ja auch Kollekten gesammelt. Dann aber auch als Personen, die als Wohlhabende das Gemeindeleben mit ermöglichten! Die ihr ererbtes Haus, die ihren Betrieb mit einsetzten zur Organisation der Gemeinde am Ort. Stellen wir uns einmal vor, solche Frauen hätte es nie gegeben. Dann hätten die jungen Gemeinden kaum Zukunft gehabt. Aber beide Möglichkeiten erwähnt Paulus in seiner überraschenden Liste gar nicht!

Und – liebe Schwestern und Brüder! –: Erst in solcherart grundlegend gesicherten Gemeinden kann nun dieses Freiheitskonzept entwickelt werden: Jede und jeder, die mitwirken, sind davon befreit, alles tun zu müssen, alles am Laufen zu halten, für alles Verantwortung zu übernehmen. Das Geheimnis unseres Projektes liegt in den immer wieder herausgestellten: „einem“, „einem anderen“, „einem dritten“, „einem weiteren“!

Wir sehen uns als Gemeinde, als Kirche vielfältigen Herausforderungen gegenüber. Aber Gott, der Geist Gottes, sorgt dafür, dass für jede Aufgabe Personen gefunden werden – hier spitzt Paulus jeweils auf eine Person zu. Ich habe ja Theologie studiert. Ich bin Pfarrer geworden. Aber in der Zeit der aktiven Arbeit war ich am glücklichsten, wenn ich zusammen mit anderen wirken konnte, wenn ich nicht alles alleine machen musste! In diesem Sinne sei nun auf die verschiedenen Möglichkeiten eingegangen, die Paulus hier nennt:

Dass es „das Wort der Weisheit“ sei, das von mir erwartet wird, das nehme ich gern an. Aber ich weiß, dass ich mich an dieses Wort nur annähern kann. Als sicherer Besitz „gegeben“ ist es mir jedenfalls nicht. Dankbar bin ich, wenn immer wieder Weisheitliches bewusst wird, das bei konkreten Entscheidungen hilft. Wie es Thomas Lebkücher, dem Polizeichef in Worms, gelungen war: In der Auseinandersetzung mit denjenigen, die gegen aktuelle Freiheitseinschränkungen demonstrieren, hob er hervor: „Ein Grundrecht kann nie uneingeschränkt gelten.“ – Wir müssen also die Interessen und Nöten derer neben uns im Blick behalten: „Denken Sie an das christliche Gebot der Nächstenliebe.“ Und: „Jesus würde sagen: ‚Betet so, dass ihr keinem anderen schadet‘.“[iii]

Damit hatte Herr Lebkücher zugleich die Gabe des „Wortes der Erkenntnis“ unter Beweis gestellt! Es kann also sein, dass einer, dass einem mehr als nur eine der Fähigkeiten geschenkt wird, die Paulus beschreibt. Aber nie für immer, nie sozusagen »gebucht«. Jedes Mal ist es ein besonderes Geschenk!

„Einem dritten aber der Glaube“. Was hat da Paulus geschrieben? Wollen wir nicht, dass jede Christin, jeder Christ glauben kann?! Ich will es einmal so sagen: Mit dieser scheinbaren Begrenzung auf „einen dritten“ ist gemeint: Dass jede Person alle Aspekte der christlichen Sicht zwar ungekürzt für sich gelten lassen sollte, aber nicht jeden Aspekt selber vertreten muss. Wir dürfen also nicht alle Möglichkeiten und Dimensionen der christlichen Religion von jeder Person verlangen. Wenn hier „einem dritten“ der Glaube verheißen ist, sind Ketzertribunale gegen „einen zweiten“, gegen „einen achten“ unmöglich! Aber wir dürfen die Hoffnung lebendig halten, dass jeder und jedem die Gewissheit geschenkt wird, sich in der Geborgenheit Gottes gehalten zu wissen. „Glauben leben zu können“, heißt doch: Sich trotz aller Unsicherheiten und Fragen existentiell in Gott gehalten zu „glauben“. – Anders kann ich das nicht sagen.

„Die Gnadengabe zu heilen“ habe ich nie als Ergebnis von kräftigem Auflegen von Händen zum Beispiel erlebt, aber als Ergebnis des Einsatzes medizinischer Möglichkeiten – von Medikamenten, von operativen Eingriffen – erlebt. Und auch erlebt von der Bereitschaft her, die eigenen Einschränkungen zu akzeptieren. Dann aber vor allem erlebt als das Durchhalten der Hoffnung auf das eigene Beten für andere und für sich selbst!

Nun muss ich etwas gestehen: „Die Kraft der Wunder“, „das Hervorbringen von Zungenreden“, „das Auslegen von Zungenreden“ – das alles habe ich auch noch nie erlebt, selbst in meiner Gemeindeerfahrung noch nie erlebt. Hier empfinde ich besonders diese Freiheit, die Paulus eröffnet: Etwas nicht leisten zu können – darunter muss niemand leiden. Das kann jede und jeder zugeben. Und gleichzeitig zulassen, dass es dieses nicht selber Leistbare durchaus geben mag.

Aber „das Prophezeien“ – das habe ich einmal erlebt:  Im zeitlichen Umfeld des Weihnachtsfests 1979, am 27. Dezember, wurde eine weltpolitisch einschneidende Entscheidung getroffen: Die Führung der Sowjetunion entschied, eine linke Herrschaftsgruppe in Afghanistan militärisch zu unterstützen, und sie befahl Teilen der Sowjetarmee, in dieses Land einzumarschieren. Als ich durch die Nachrichten von dieser Entwicklung erfuhr, dachte ich: „Das ist der Anfang vom Ende der Sowjetunion.“ Wieso konnte ich das damals denken? Weil ich bei Professor Meyer gelernt hatte, dass sich jedes Imperium einmal überdehnt – und dann zerfällt. Am 24. Januar 1980 musste eine Gewerkschaftssitzung an der Sektion Theologie in Jena durchgeführt werden, und ein Kollege musste dort darlegen, wie klug und weitsichtig die Entscheidung von Leonid Iljitsch Breschnjew und den anderen Politbüromitgliedern in Moskau sei. Ich saß in dieser Sitzung und dankte Gott still dafür, dass dieser Kelch an mir vorbeigegangen war. Aber laut gesagt, hatte ich damals meinen Gedanken nicht, hatte also das „Prophezeien“ gerade unterlassen… Viele Jahre später, im April 2014, habe ich einmal evangelisch-lutherische Gemeinden in Moldawien und in dem schmalen Landstreifen der »Pridnjestrowskaja Moldawskaja Respublika«, aus unserem westlichen Blickwinkel: in dem Landstreifen »Transnistrien«, besucht. Da ist mir in Tiraspol zum ersten und einzigen Mal auf dem Territorium der früheren Sowjetunion ein Denkmal für die in Afghanistan gefallenen Soldaten aufgefallen!

„Das Unterscheiden der Geister“, das bleibt für jede und jeden von uns eine entscheidende Herausforderung. Gerade in unserer Kirche laufen wir nicht allen Ideen und Vorstellungen nach. Ich habe erlebt, dass es wichtig ist, einen eigenen Glaubensweg gefunden zu haben – und bei ihm zu bleiben. Nicht dauernd zu wechseln. Die anderen Wege lasse ich gelten, über sie urteile ich nicht. Aber ich bleibe bei dem Weg, den ich gefunden hatte. Vor vielen Jahren habe ich einmal an evangelischen Einkehrtagen teilgenommen, die damals im Eichsfeld in einem römisch-katholischen Haus, bei den Redemptoristen, stattfanden. Da habe ich den evangelischen Pfarrer, der die Tage leitete, angesprochen und ihn um Rat gefragt: Denn die römisch-katholische Kirche hatte auf mich immer große Anziehungskraft ausgewirkt. Er hatte mir empfohlen, nicht zu konvertieren, das sei ein zu einschneidender Schritt. Aber das, was einem wichtig ist, auch in der eigenen Kirche zu leben. Dem bin ich gefolgt – und damit sehr glücklich geworden. Ich bleibe bei dem für mich Bewährten, bei dem für mich Begründeten. Dazu ermutige ich heute. Wir müssen nicht allen Angeboten und Anschauungen folgen – auch besonders heute gerade nicht allem, was im Internet zu finden ist. Sondern wir können bei dem bleiben, was sich für uns bewährt hat.

Amen.

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“

Als Lied zur Predigt schlage ich das Lied Dieter Trautwein’s aus dem Jahr 1976 vor, das auf ein schwedisches Original zurückgeht:

„Strahlen brechen viele aus einem Licht. Unser Licht heißt Christus. […]

Gaben gibt es viele, Liebe vereint. Liebe schenkt uns Christus. […]

Dienste leben viele aus einem Geist, Geist von Jesus Christus. […]“ (EG 268,1-5).

Dr. Rainer Stahl

Erlangen

rainer.stahl.1@gmx.de

[1951 geboren, Studium der Theologie in Jena, Assistent im Alten Testament, 1981 ordiniert, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, zwei Jahre lang Einsatz beim Lutherischen Weltbund in Genf, dann Pfarrer in Altenburg, Alttestamentler an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, Referent des Thüringer Landesbischofs in Eisenach, seit 1998 Dienst für den Martin-Luther-Bund (das lutherische Diasporawerk) in Erlangen, seit 2016 im Ruhestand.]

[i]   Zu dieser Deutung vgl. Sie bitte 1. Korinther 12,30!

[ii]   Wieder sei festgehalten: Das in runden Klammern (  ) Gegebene markiert textkritische Varianten, das in eckigen Klammern [ ] Gegebene Erläuterungen von mir und das nach / Gegebene Varianten des Verstehens.

[iii]   Vgl.: Nils Sandrisser: Nächstenliebe erklärt, in: Glaube & Heimat, Nr. 18, 2.5.2021, S. 2.

de_DEDeutsch