Predigt zu 2. Mose 19, 1-6

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Predigt zu 2. Mose 19, 1-6

Glauben in der Entsprechung | 10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag) | 8. August 2021 | Predigt zu 2. Mose 19, 1-6 | verfasst von Matthias Wolfes |

Im dritten Monat nach dem Ausgang der Kinder Israel aus Ägyptenland kamen sie dieses Tages in die Wüste Sinai. Denn sie waren ausgezogen von Raphidim und wollten in die Wüste Sinai und lagerten sich in der Wüste daselbst gegenüber dem Berge. Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge und sprach: So sollst du sagen dem Hause Jakob und verkündigen den Kindern Israel: Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern getan habe, und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und habe euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein priesterlich Königreich und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Kindern Israel sagen sollst. (Jubiläumsbibel, Stuttgart 1912) 

Liebe Gemeinde,

der heutige „Israelsonntag“ – wie in jedem Jahr der zehnte Sonntag nach Trinitatis – gibt uns erneut die Gelegenheit, unsere christlichen Gedanken auf das Thema „Christen und Juden“ zu richten. Wir wollen das tun. Es ist das Ausdruck unserer Verantwortung für ein nachdenkendes Verstehen unseres eigenen Glaubens, der doch nun einmal nicht vom Himmel gefallen ist und sich auch seither stets nur innerhalb der einen Geschichte des Menschen hat entfalten und entwickeln können. Seine Beziehung zur jüdischen Frömmigkeit zur Zeit Jesu, der selbst ein Jude war, ist unauflösbar, und zwar nicht allein als historisches Faktum, sondern auch im Sinne einer gegenständlichen Bindung. Der „Gegenstand“, an den das Christentum in allen seinen geschichtlichen Erscheinungsformen über seine Beziehung an das Judentum gebunden ist, ist Gott. Derjenige Gott, der in der Frömmigkeit des Judentums verehrt, gelobt und angebetet wird, ist derselbe Gott, an den wir Christen unsere Verehrung, unser Lob und unser Gebet richten.

Der diesjährige Israelsonntag lässt uns diesen selbstverständlichen Zusammenhang in die Worte fassen, „dass der christliche Glaube nur so lange christlich ist, als er den jüdischen in seinem Herzen trägt“ (Ernst Lohmeyer). Wir sind uns dessen bewusst, dass die Einsicht, die damit ausgesagt ist, lange Zeit im christlichen Raum verdunkelt gewesen und verleugnet worden ist. Es mag ihr auch heute noch nicht in ganzer Breite die Bahn geöffnet sein. Für uns aber ist sie, wie gesagt, eine Selbstverständlichkeit. Und es ist angemessen und gut, wenn sich im Durchgang durch jedes Kirchenjahr wieder ein Ort findet, an dem sie dann auch in aller Entschiedenheit so genannt werden kann und soll.

I.

Unser Text aus dem zweiten Buch Mose schließt mit den Worten: „Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein priesterlich Königreich und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Kindern Israel sagen sollst.“

Diese Worte sind an Mose gerichtet, der sie dem Volk Israel sagen soll, wie es da gerade am Beginn seiner langjährigen, beschwerlichen Wanderung durch die Wüste Sinai sich befindet. Sie gelten insofern nicht uns, und es wäre nur als ein Resultat auslegerischer Gymnastik zu betrachten, wenn wir diese schlichte Tatsache zu unseren Gunsten umformen wollten.

Wir wollen es aber auch gar nicht. Wir lesen und lassen stehen, was in dem Bericht berichtet wird: Es handelt sich um die zentrale Zusage Gottes an eine Menschengruppe in extremer Lage. Die Worte, die Gott an Mose richtet, sind Teil einer Schilderung, die sich als Beschreibung von Ereignissen gibt, wie sie ehedem vor sich gegangen sind. Sie will etwas Geschehenes in Erinnerung rufen und dieses Geschehen durch die Erinnerung erneuern und aktualisieren.

II.

Erneuerung und Aktualisierung, vergegenwärtigende Erinnerung, das ist es, worum es uns heute geht. Dieser Vorgang ist uns ja nicht fremd. In jedem unserer christlichen Gottesdienste – und zumal dann, wenn wir das Abendmahl feiern – erneuern wir wesentliche Stücke unserer religiösen Überlieferung. Wir heben sie aus der Summe dessen, was geschehen ist, in unsere eigene, heutige Gegenwart hinein.

Der Sinn der Sache ist dabei, dass wir uns klar machen: Wir können in diesem Heute nur deshalb sein, weil es ein gewordenes Heute ist. Nichts, was wirklich ist, ist nicht auch geworden. Das gilt auch für unseren christlichen Glauben. Das Thema „Christen und Juden“ oder auch „Christentum und Judentum“ ließe sich leicht auf eine noch viel weitere Dimension hin öffnen, wenn wir den geschichtlichen Charakter des christlichen Glaubens ernsthaft in den Blick nehmen wollten.

Es ist immer noch ein großes Problem in vielen unserer evangelischen Gemeinden, dass das historische Bewusstsein so außerordentlich schwach ausgeprägt ist, ja, dass dem historischen Denken in religiösen Dingen nach wie vor ein tief empfundener Widerstand entgegengesetzt wird. Besonders dann, wenn es um die biblischen Texte geht, ist oft unglaublich viel Mühe erforderlich, um die Bereitschaft zu einem historisch einigermaßen aufgeklärten Lesen zu wecken. Dabei würde es, das ist jedenfalls meine eigene Erfahrung, genügen, wenn man in den Bibelgruppen anstatt der üblichen Lutherbibel einmal eine Synopse benutzen würde. Der einfache Paralleldruck der drei ersten Evangelien macht in der Regel aus sich selbst heraus einen so starken Eindruck, dass man es dann im weiteren Fortgang der Arbeit oftmals viel leichter hat.

Doch die Geschichtlichkeit des Glaubens ist nur das eine. Wenn wir ernst damit machen wollen, dass es zu einem recht verstandenen christlichen Glauben gehört, sich seiner elementaren und unlöslichen Beziehung zum Judentum bewusst zu sein, dann muss sich das auch auf unser gegenwärtiges christliches Glauben erstrecken. Dann ist zu fragen, was es aus christlicher Perspektive bedeuten soll, dass der christliche Glaube nur so lange christlich ist, als er den jüdischen in seinem Herzen trägt.

III.

Von jeder Übergriffigkeit und Traditionsbeschlagnahmung wollen wir uns tunlich freihalten. Das ist angesichts der jahrhundertelangen ganz anders verlaufenden Praxis viel leichter gesagt als getan. Unsere christliche Gottesdienstkultur bis hin zur liturgischen Gestalt, Perikopenordnung und Auslegungsweise, erst recht aber die christliche Theologie als solche weisen aus der Tiefe der christlichen Überlieferung Wege, auf denen, und sei es unbemerkt, auch wir gehen. Um so wichtiger ist es, dass wir alle Überlegungen zu diesem Thema zunächst einmal unter jene Maxime stellen, derzufolge wir den Übergriff und die Fremdbeanspruchung als Problem erkannt haben und uns von ihnen fernhalten wollen.

Aber ist das überhaupt möglich? Kann es denn ein christliches Selbstverständnis überhaupt geben, ohne eine Gegenüberstellung zur jüdischen Glaubenswelt?

Nun, wir wollen an diesem Tag das Thema auch nicht zu groß machen. Meine Behauptung ist, dass es eine solche Gestaltung des christlichen Glaubens geben kann und gibt. Seine „Stellung“ wird das Christentum immer und stets in irgendeiner Weise im Blick auf und auch „gegenüber“ dem Judentum haben. Es kommt aber auf die Art und Weise an, in der diese Verflochtenheit sich geltend macht. Das gilt im Prinzip für jede einzelne Glaubensvorstellung, und es gilt auch für das Ganze des christlichen Glaubens.

Heute haben wir es mit einem Text zu tun, der eine Erwählungsaussage enthält. Gott hat sich dieses Volk Israel erwählt. Dieses Israel soll „ein priesterlich Königreich und ein heiliges Volk“ sein. Es wäre nun wiederum krass unhistorisch gedacht, wenn wir diese Aussage schlicht und einfach als Gotteswort in objektiver Gegebenheit betrachten wollten. Im Wort Gottes an Moses spricht sich nicht die Erwählung oder Erwähltheit als solche aus, sondern vielmehr das Bewusstsein, erwählt zu sein. Es handelt sich um den Glauben daran, die Wahrnehmung derer, die das erwählende Handeln Gottes auf sich selbst beziehen.

Darin aber kommt ein Glaube zur Geltung, eine Gewissheit, wie er dem christlichen Verständnis von der Beziehung Gottes auf uns ganz genau entspricht. Nicht die Gegenüberstellung also ist das Modell, sondern die Entsprechung. Unsere Beziehung zu Gott entspricht an dieser Stelle – und an vielen anderen auch demjenigen, was die alttestamentlichen Berichterstatter von der Gotteserscheinung am Sinai im Blick auf die Beziehung Gottes zu dem dort versammelten Volk ausgesagt haben.

Auch wir, auch ich weiß mich als von Gott erwählt. Er hat mich als der, der ich bin, in diese Welt hineingestellt. Er trägt mich auf meinem Weg; und als glaubender Mensch kann ich diesen Weg gar nicht anders gehen als im Vertrauen darauf, dass es sich so verhält.

Mir scheint das nähere christliche Nachdenken über jene Begebenheit am Sinai mit innerer Folgerichtigkeit auf ein solches Modell der Entsprechung hinzuführen. Und ich bin – als Christ, als Prediger, als Theologe – durchaus entschlossen, daraus die Konsequenz zu ziehen. Diese Konsequenz lautet: Im Modell der Entsprechung lässt sich die tatsächliche Natur des Verhältnisses von Christentum und Judentum beschreiben. Der christliche Glaube ist hervorgegangen aus der jüdischen Glaubenswelt. Alle seine wesentlichen Bestandteile geben davon Zeugnis. Ohne den Grund der jüdischen Gottesverehrung und Gotteserkenntnis wäre das christliche Bekenntnis zum dreieinigen Gott undenkbar. Es ist ein und derselbe Gott, der Herr über alles Dasein, der sich am Sinai offenbart hat, der sich für uns im Wirken Jesu gezeigt hat und dessen Heilszusage wir auf uns selbst beziehen.

Amen.

Herangezogene Literatur:

Martin Noth: Das zweite Buch Mose. Dritte Auflage (Das Alte Testament Deutsch. Teilband 5), Göttingen 1965.

Das Zitat im Einleitungsabschnitt entstammt einem Brief des Breslauer Neutestamentlers Ernst Lohmeyer an Martin Buber vom 19. August 1933 (Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Band II: 1918 – 1938, Heidelberg 1973, S. 499-500).

Dr. Dr. Matthias Wolfes ist Pfarrer der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO).

Pfarrer Dr. Dr. Matthias Wolfes

wolfes@zedat.fu-berlin.de

Herderstraße 6, 10625 Berlin

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