Predigt zu Jesaja 42,1-4

Home / Kasus / 1. So. n. Epiphanias / Predigt zu Jesaja 42,1-4
Predigt zu Jesaja 42,1-4

Bleibende Chancen | 1. Sonntag nach Epiphanias | 09.01.2022 | Predigt zu Jesaja 42,1-4 | verfasst von Udo Schmitt |

Das Rohr

Das Rohr, das pflanzliche Rohr, insbesondere das Bambusrohr hat fantastische Eigenschaften. Es ist leicht und dennoch sehr stabil und belastbar. Zugleich ist es flexibel und elastisch. Es hat beides: Härte und Biegsamkeit, Kraft und Widerstandsfähigkeit. So könnten, so sollten auch wir sein. Zumindest ist dies in China, beim Kung-Fu ein Ideal: Fest stehen, mit beiden Beinen auf dem Boden, und zugleich im Oberkörper beweglich und biegsam sein. So trotzt man jeder Anfechtung.

Der Docht

Ein Docht macht eine Kerze erst zu einer Kerze. Ohne Docht ist eine Kerze lediglich ein Klumpen Wachs und kann auch nicht brennen. Jedenfalls nicht so schön wie eine Kerze. Der Docht ist das Wichtige, die Mitte. So auch bei uns. Auch wir brauchen ein Rückgrat für unseren Körper, einen roten Faden für unser Leben – einen Sinn, ein Geländer, eine Aufgabe. Denn so können auch wir Lichtträger sein – das Licht, die Hoffnung zu anderen Menschen weitertragen: „Ihr seid das Licht der Welt“, sagt Jesus zu seinen Jüngern (Matthäus 5, 14). Doch dazu brauchen sie Jesus als Mitte und Ziel ihres Lebens. Denn auch das sagt er zu seinen Jüngern: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Johannes 15,5).

Der Knacks

Das geknickte Rohr steht für die Erfahrung der Beschädigung, für Brüche in unserem Leben, in unserer Biographie. Wenn wir einen Knacks weghaben, dann sind wir nur noch teilweise stark, flexibel, nur noch eingeschränkt brauchbar und verwendungsfähig. Als junger Mensch ahnt man noch nicht viel davon. Aber irgendwann kommt man dann doch ins knackige Alter. Es knackt. Mal laut mal leise. Mal ist es ein Zerbrechen unter Macht- und Gewalteinwirkung von außen. Ein Unfall, eine Krankheit. Aber nicht nur das. Es kann auch ein Urteil sein, etwa eine betriebsbedingte Kündigung: Du bist unbrauchbar, du bist zu alt. Oder wenn einem schon früh und immer wieder eingeredet wird: „Du kannst nichts!“ Und man trägt es mit sich herum, das Urteil. Eine alte Verletzung, innerlich und unsichtbar und doch ein Knacks, den man fortan mit sich schleppt.

Das Verlöschen

Manchmal ist es nicht laut. Es ist vielleicht eher ein leises Verlöschen: Wie eine Pflanze, die zu wenig Sonne und zu wenig Wasser kriegt, so ist ein Mensch, der zu wenig Aufmerksamkeit kriegt, zu wenig Anerkennung und Achtung. Es kann die Atmosphäre am Arbeitsplatz sein, die Lieblosigkeit in der Familie, das Fehlen von Nähe oder von überhaupt jemandem, der da ist. Ohne dass etwas Lautes und Besonderes es auslöst, kann es dennoch sein, dass so Lebensflamme langsam und leise verlöscht. Sie erstickt an zu viel oder zu wenig und wird immer schwächer, es dunkelt in mir.

Bleibender Schaden

Manchmal gibt es Schäden, die nicht wieder gut gemacht werden können. Kein „Heile Gänschen“ hilft, auch kein „Glaube an Gott, dann wird alles gut.“ Mein Papa kann alles – glaubte ich, bis ich merkte, dass auch er nicht alle Spielzeuge „heile machen“ kann. Auch Gott heilt nicht alle Schäden. Manches bleibt gebrochen und der Hilfe bedürftig. Manchmal bleiben Schaden, Knacks, Geknicktes eben das: ein bleibender Schaden. Und doch… nicht immer, nicht immer ist das geknickte Rohr deshalb ganz kaputt. Es kann dennoch wachsen, darüber hinaus wachsen. Und der glimmende Docht, der zu verlöschen droht, kann neu entfacht werden, wenn abfließt, was erstickt.

Bleibende Chance

Auch wenn Gott nicht alle Schäden restlos beseitigt, er kann mir doch Zuversicht schenken, bei ihm kann ich Regeneration erfahren, Wiederbelebung erfahren – und Kraft schöpfen, neu und immer wieder, im Glauben und in Gebeten. Denn hier bin ich im Kontakt mit dem, der anders ist. Die Gesellschaft schreibt einen schnell ab. Krankes, Schwaches kann keiner brauchen: Weg damit! Gut, dass einer anders ist! Jesus, der selbst die Mitte ist, die Kraft und das Ziel, gerade er ist es, der sich nach außen wendet, den Schwachen zuwendet, den Außenseitern, und der dafür die Mächtigen und Starken kritisiert. Um die Schwachen aufzurichten und den Kaputten eine neue Chance zu geben, geht Jesus ein Risiko ein. Das Risiko, selbst schwach zu werden und kaputt zu gehen. So sehr stellt er sich an die Seite der geknickten Rohre und der glimmenden Dochte, dass er selber geknickt wird und schließlich verglimmt. Er, die Mitte, ist nicht Insider geblieben, hat sich nicht mit Insiderhandeln begnügt, sondern ist in den Außendienst gegangen, in den Dienst an den Menschen, gerade an den Schwachen und Genickten. Er hat sich selbst entäußert, hat alles riskiert. Und so gibt der Höchste, denen, die ganz unten sind, eine Chance. Eine bleibende Chance.

Mildes Urteilen

Und gerade so hat er es uns gelehrt, sie anders zu sehen, die Geknickten um uns und auch die Brüche in uns, die Geknickten, die wir selber manchmal sind. „Seid barmherzig, wie auch euer himmlischer Vater barmherzig ist!“ (Lukas 6, 36), hat Jesus gesagt. Habt ein Herz, seid weise und seid milde in eurem Urteil. Wenn jemand schwach ist, Fehler hat, Fehler gemacht hat, urteilt ihn nicht ab, verhaftet ihn nicht bei diesem Schaden, stempelt ihn nicht ab mit seiner Schwäche. Besonders und auch dann, wenn ihr selbst es seid. Die Schwäche der anderen kann ich ja manchmal gut ertragen. Meine eigene Unzulänglichkeit und Fehlerhaftigkeit wurmt mich manchmal sehr viel eher und sehr viel mehr. Mit den anderen kann man ja gerne Mitleid haben, mit den anderen, O.K., von mir aus. Aber bei mir – bei mir selbst – da bin ich gnadenlos! Nein, seid weise und seid milde in eurem Urteil! Auch dann wenn ihr selbst es seid, die nicht perfekt, nicht makellos durchs Leben gehen und nicht bruchlos in diese Welt passen.

Jesus, der das geknickte Rohr nicht bricht, der den glimmenden Docht nicht verlöscht, er sagt zu euch: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Johannes 8,12), und: „Ich lebe, und auch ihr sollt leben!“ (Johannes 14,19).

Liedvorschläge:

Licht, das in die Welt gekommen (EG 552)

Strahlen brechen viele (EG 268)

Licht bricht durch die Dunkelheit (HuE 322)

Wo Menschen sich vergessen (HuE 2 / EG.E 29)

Udo Schmitt, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland, von 2005-2017 am Niederrhein, seit 2017 im Bergischen Land.

Dorfstr. 19 – 42489 Wülfrath (Düssel)

udo.schmitt@ekir.de

 

de_DEDeutsch