Predigt zu Jesaja 42,1-9

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Predigt zu Jesaja 42,1-9

Wer ist der Knecht? | 1. Sonntag nach Epiphanias | 9.1.2022 | Jesaja 42,1-9 | verfasst von Dr. Rainer Stahl |

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

Eine ganz merkwürdige Beobachtung bestimmt mich: Ich habe – glaube ich – noch nie diesen großen Bibeltext in Jesaja 42 gepredigt. Unter den noch aufgehobenen Predigten finde ich eine solche jedenfalls nicht. Nur im Januar 2019 hatte ich bei einer Predigt auf den Satz vom „geknickten Rohr“ hingewiesen, so auch im August letzten Jahres. Darüber hinaus aber habe ich zu diesem Text schon oft nachgedacht und gearbeitet: Denn dieses Wort ist im Rahmen der Einheit zu den Propheten im Kirchlichen Fernunterricht, in dem sich Frauen und Männer für die Freie Wortverkündigung ausbilden lassen, natürlich ein ganz entscheidendes. Außerdem waren die Texte des Abschnittes ab Jesaja 40 in der Bibelwoche 1999/2000, also vor 23 Jahren (!), den Gemeindegruppen aufgegeben. Und damals hatte ich für meine Thüringer Landeskirche ein Arbeitsheft für diese Bibelwoche unter dem Titel „Zukunft für Verzagte“ erarbeitet.[i] Deshalb darf ich jetzt eine eigene Übersetzung des hebräischen Textes an den Anfang stellen.

1     [Jakob,] mein Knecht ist  hier – ihn unterstütze ich.

[Israel,] mein Erwählter – Gefallen hat (an ihm) meine Seele.

Gegeben habe ich meinen Geist auf ihn.

Recht für die Völker wird er hervorbringen.

2     Nicht schreit er, und nicht wird er (seine Stimme) erheben.

Und nicht wird er hören lassen in der Gasse seine Stimme.

3     Ein geknicktes Rohr – nicht wird er es zerbrechen.

Und einen glimmenden Docht – nicht wird er ihn auslöschen.

Wahrhaftig wird er das Recht hervorbringen.

4     Nicht verglimmt er, und nicht knickt er ein –

bis er auf Erden das Recht aufgerichtet hat,

und seine Tora / seine Weisung die Inseln erreicht.

5     So hat gesprochen der Gott Jahwe,

der der Schöpfer des Himmels ist und ihn ausspannte,

der der Gründer der Erde ist und ihrer Gewächse,

der der Geber des Lebensodems für das Volk auf ihr ist

und des Geistes derer, die auf ihr gehen.

6     Ich, Jahwe, habe dich in Gerechtigkeit gerufen,

und ich halte dich fest an deiner Hand.

Und ich werde dich behüten und dich machen:

Zu einem Bund des [einen] Volkes, zum Licht der / (aller) Völker.

7     Um zu öffnen die Augen der Blinden,

um herauszuführen Gefangene aus Kerkern,

aus dem Gefängnishaus die in Finsternis sitzen.

8     Ich, Jahwe – er ist mein Name.

Und meinen Glanz – einem anderen gebe ich (ihn) nicht.

Und meinen Ruhm – (nicht) für die Gottesbilder.

9     Das Frühere – siehe, es kommt.

Und Neues – ich vermelde es.

Bevor es hervorsprosst, werde ich es euch hören lassen.“

Nun muss ich aber eine grundlegende Voraussetzung offenlegen: Ich werde versuchen, diesen Text als Christ zu predigen. Denn, wenn ich kein Christ wäre, sondern ein Jude zum Beispiel, würden meine Gedanken sicher in ganz andere Richtungen gehen…

Die entscheidende Frage, die uns dieses Bibelwort vorlegt, lautet: Wer ist der Knecht? Auf der Basis des hebräischen Originals werden viele Fähigkeiten und Wirkungsmöglichkeiten dieses Gottesknechts bewusst. Wer er aber sein wird – das bleibt offen.

Als Christ kann ich, ja: muss ich das christliche Neue Testament zu Rate ziehen. Dort wird mehrmals auf unser Bibelwort angespielt: Bei der Darstellung des Babys Jesus im Tempel (Lukas 2), bei der Taufe Jesu (Markus 1; Lukas 3), bei der Verklärung Jesu (Lukas 9), bei der Antwort auf die Frage von Johannes dem Täufer (Matthäus 11; Lukas 7). Hier überall hatten die Evangelisten an Formulierungen angespielt, die sie aus Jesaja 42 kannten! Und dann hatte Matthäus sogar die Frage nach Jesus mit dem Bekenntnis beantwortet, dass er nämlich der Gottesknecht sei – dabei aus Jesaja 42 wörtlich zitierend:

Matthäus 12,18  „Siehe, das ist mein Knecht, den ich erwählt habe,

 mein Geliebter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat;

ich will meinen Geist auf ihn legen,

 und er soll den Völkern das Recht verkündigen.

19    Er wird nicht streiten noch schreien,

 und man wird seine Stimme nicht hören auf den Gassen;

20    das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen,

und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen,

bis er das Recht zum Sieg führt;

 21   und die Völker werden auf seinen Namen hoffen.“[ii]

Wenn ich Christ zu sein versuche, kann ich an dieser so differenzierten Antwort auf die Frage danach, wer der Gottesknecht sein mag, nicht vorübergehen: Der Gottesknecht war, er ist Jesus aus Nazareth, der Gekreuzigte und der Auferweckte, der Auferstandene!

Gehen wir dieser Einsicht noch genauer nach. Nutzen wir dabei die Aussagen des alten hebräischen Wortes:

V.2:      „Nicht schreit er, und nicht wird er (seine Stimme) erheben.

Und nicht wird er hören lassen in der Gasse seine Stimme.“ – Jesus hat überzeugend gepredigt und gelehrt. Aber er hat die Werbetrommel nicht geschlagen. Er hat von der inhaltlichen Bedeutsamkeit seiner Aussagen her überzeugt.

  1. 3a: „Ein geknicktes Rohr – nicht wird er es zerbrechen.

Und einen glimmenden Docht – nicht wird er ihn auslöschen.“ – Jesus hat auch beim Reden Gewalt nicht genutzt. Er hat die Menschen in Not aufgenommen, begleitet, ermutigt und auf neuen Weg gestellt.

  1. 3b.4: „Wahrhaftig wird er das Recht hervorbringen.

Nicht verglimmt er, und nicht knickt er ein –

bis er auf Erden das Recht aufgerichtet hat,

und seine Tora / seine Weisung die Inseln erreicht.“ – Jesus hat neue Regeln verkündigt, die jedem Leben neue Bedeutsamkeit geben. Er hat die alten Regeln von Macht und Sieg beiseitegelegt, ersetzt durch die Regeln der Liebe, die dazu helfen, auch die Gegnerin, den Gegner als Menschen wahrzunehmen.

  1. 6a.c: „Ich, Jahwe, habe dich in Gerechtigkeit gerufen,

und ich halte dich fest an deiner Hand.

Und ich werde dich […] machen:

[…] zum Licht (aller) Völker.“ – Jesus ist es, der allen Hoffnungen und Sehnsüchten nach

Frieden und guter Ordnung einen Grund gibt.

Viele Jahre meines Lebens habe ich im realexistierenden Sozialismus der DDR gelebt. Gegen alle enttäuschenden und zerstörenden Erfahrungen jener Zeit müssen wir in Erinnerung behalten, dass zum Fundament jenes Sozialismus auch Anregungen aus dem Christentum gehörten. Wenn ich das recht sehe: Seit den 20-iger Jahren des 20-igsten Jahrhunderts gab es die sogenannten „Religiösen Sozialisten“. Vom Vater meines praktisch-theologischen Lehrers, Prof. Dr. Klaus-Peter Hertzsch, nämlich von Prof. em. Dr. Erich Hertzsch, habe ich gelernt: Als Sozialist muss man eigentlich Gott nicht leugnen, kann man vielmehr am Glauben an Gott festhalten und von diesem Glauben her aktiv in der Gesellschaft, in der Stadt und im Dorf, mitwirken, in kleiner Münze mitgestalten, was in unserem Bibelwort Großartiges von Gott gesagt wird:

V.5:      „So hat gesprochen der Gott Jahwe,

der der Schöpfer des Himmels ist und ihn ausspannte,

der der Gründer der Erde ist und ihrer Gewächse,

der der Geber des Lebensodems für das Volk auf ihr ist

und des Geistes derer, die auf ihr gehen. […]

V.8:      Ich, Jahwe – er ist mein Name.

Und meinen Glanz – einem anderen gebe ich (ihn) nicht.

Und meinen Ruhm – (nicht) für die Gottesbilder.“

Noch einen Schritt mehr können wir gehen: Die jüdischen Übersetzer unseres Bibelwortes in die griechische Sprache etwa im 2. Jahrhundert vor Christus in Alexandria in Ägypten haben eine ganz neue Verstehensmöglichkeit in das biblischen Wort eingefügt – vielleicht damit eine Verstehensmöglichkeit verschriftet, die möglicherweise schon länger wenigstens in ihrer Gemeinschaft diskutiert und unterstützt wurde: Nicht eine Einzelperson ist dieser Gottesknecht, sondern die Gemeinschaft der Glaubenden ist es:

V.1:      „Jakob, mein Knecht ist hier – ihn unterstütze ich.

Israel, mein Erwählter – Gefallen hat (an ihm) meine Seele.

Gegeben habe ich meinen Geist auf ihn.“

Können wir uns darauf einlassen? Jetzt wage ich einen Schritt, den ich gegen Missverständnisse absichern muss: Ich sagte, dass ich zu diesem Bibeltext nicht als Jude arbeiten kann. Dass ich zu ihm als Christ arbeiten muss. Darf ich dann auch diese großartige Anregung aufnehmen und sie – ohne sie unseren jüdischen Freunden wegzunehmen – auf meine Gemeinschaft in der Gemeinde, in der Kirche beziehen? Meine Gemeinde, meine Kirche, die Gemeinden, die ich besuchen kann – diese sind auch solch ein Knecht, solch ein Erwählter.

Ein Erlebnis tritt vor mein inneres Auge: Am 4. September 2018 in der Gemeinde der Evangelisch-Lutherischen Kirche Ingriens in der Russischen Föderation in Syktyvkar – weit im Norden Russlands – waren mehrere russlanddeutsche Frauen eine halbe Stunde vor Beginn der Andacht gekommen und begannen, Lieder aus ihrem russlanddeutschen Gesangbuch „Liederschatz“ zu singen. Ich habe mich natürlich zu ihnen gesetzt und mit ihnen gesungen, um zu zeigen, dass ich auch zu ihnen gehöre. Wir haben mit unserem Singen bezeugt, dass Gott der wahre Herr unseres Lebens ist – dies für uns alle gemeinsam: für die Russlanddeutschen, für die Russen und für die Menschen anderer Nationalitäten dieser Komi-Republik: Wir gemeinsam vertrauen Gott, wir gemeinsam glauben (!) diesen Gott!

Amen.

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“

 

Als Lied empfehle ich EG 425 aus dem Jahr 1963:

„Gib uns Frieden jeden Tag! Lass uns nicht allein.

Du hast uns dein Wort gegeben, stets bei uns zu sein.

Denn nur du, unser Gott, denn nur du, unser Gott, hast die Menschen in der Hand.

Lass uns nicht allein.

Gib uns Freiheit jeden Tag! Lass uns nicht allein.

Lass für Frieden uns und Freiheit immer tätig sein.

Denn durch dich, unsern Gott, denn durch dich, unsern Gott, sind wir frei in jedem Land.

Lass uns nicht allein.

Gib uns Freude jeden Tag! Lass uns nicht allein.

Für die kleinsten Freundlichkeiten lass uns dankbar sein.

Denn nur du, unser Gott, denn nur du, unser Gott, hast uns alle in der Hand.

Lass uns nicht allein.“

 

Dr. Rainer Stahl

Erlangen

rainer.stahl.1@gmx.de

 

[1951 geboren, Studium der Theologie in Jena, Assistent im Alten Testament, 1981 ordiniert, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, zwei Jahre lang Einsatz beim Lutherischen Weltbund in Genf, dann Pfarrer in Altenburg, Alttestamentler an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, Referent des Thüringer Landesbischofs in Eisenach, seit 1998 Dienst für den Martin-Luther-Bund (das lutherische Diasporawerk) in Erlangen, seit 2016 im Ruhestand.]

 

[i]   Vgl.: Rainer Stahl: Zukunft für Verzagte, hg. durch den Arbeitskreis Missionarische Dienste in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, o.J., besonders S. 12-15.

[ii]   Entsprechend der Lutherbibel, revidiert 2017, Stuttgart 2016. Dass dieser Text hochinteressante Unterschiede zum hebräischen Original und auch zur griechischen Übersetzung, der Septuaginta, aufweist, sei jetzt nur benannt – ohne dass dies in einer Predigt diskutiert werden kann. Die besondere Änderung in der Septuaginta (siehe unten) wird im Zitat im griechischen Neuen Testament gerade nicht aufgenommen!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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