Predigt zu Matthäus 28,16-20

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Predigt zu Matthäus 28,16-20

Der Glaube – eine Bergtour | 6. Sonntag nach Trinitatis | 11. Juli 2021 | Predigt zu Mt 28,16-20 | verfasst von Thomas Muggli-Stokholm |

Text Matthäus 28,16-20:

Die elf Jünger gingen nach Galiläa, auf den Berg, wohin Jesus sie befohlen hatte. Und als sie ihn sahen, warfen sie sich nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat zu ihnen und sprach: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden. Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe. Und seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Begleiten wir die elf Jünger auf ihrem Weg, hoch hinauf auf den Berg. Leider finden wir bei ihnen absolut keine frohe Wanderstimmung. Das liegt nicht am mühsamen und schweisstreibenden Pfad. Die elf haben generell keinen Grund zum Jubeln, schauen sie doch zurück auf schwere Zeiten: Jesus, ihr Herr und Meister, auf welchen sie ihre ganze Hoffnung setzten, für den sie alles zurückliessen, was ihnen lieb und teuer war, dem sie nachfolgten in der Erwartung, mit ihm, dem Messias zusammen den glanzvollen Gipfel der Macht zu erreichen. Jesus wurde verhaftet, verurteilt und gekreuzigt. Zwar behaupten unterdessen einige Frauen, er sei von den Toten auferweckt worden und sie seien ihm sogar begegnet. Doch wer glaubt schon einer Frau? Und ihr einziges stichhaltiges Argument, das Grab sei leer, wird ohnehin von den Hohepriestern in Frage gestellt. Sie verbreiten das Gerücht, die Jünger hätten den Leichnam Jesu gestohlen, um das Osterwunder vorzutäuschen.

Nein, die elf, welche da unterwegs sind, haben absolut keinen Grund zur Freude. Dabei sah vor kurzem alles ganz anders aus: Noch vor zwei Wochen jubelten die Massen Jesus zu, als er in Jerusalem einzog. Die Welt war in Ordnung. Der Sieg schien gewiss. Und nun dieser mühsame, endlose Aufstieg in drückender Mittagshitze, irgendwohin ins Ungewisse.

Und wir, haben wir mehr Grund zu Hoffnung und Freude? Eigentlich können wir uns gut einfühlen in das, was die elf Jünger bewegt. Unsere Lage hat sich zwar nicht in so dramatischem Tempo verschlechtert wie jene der elf. Doch schauen auch wir mit Wehmut auf bessere Zeiten unserer Kirchen zurück, auf Zeiten, wo wir noch in der Mehrheit waren, wo alle selbstverständlich dazugehörten und es kaum jemandem in den Sinn kam, auszutreten, Zeiten, wo wir noch ernst genommen wurden und Einfluss hatten. Heute stehen wir am Berg wie die elf Jünger in Galiläa. Schritt für Schritt kämpfen wir uns voran, mit ungewissem Ziel und schwindendem Mut. Und zogen einst die Hohenpriester Jerusalems das Osterwunder ins Lächerliche mit ihrer Schauergeschichte vom Leichenraub. So verhunzen heute die Hohenpriester des Marktes Ostern und andere Feste der Christenheit, indem sie daraus Anlässe für hemmungslose Konsumorgien machen.

Immerhin haben die elf Jünger noch nicht völlig resigniert. Sie sind unterwegs zu dem Ort, wohin der Auferstandene sie durch die Frauen hin befohlen hat, trotz ihrer Krise, trotz ihrem Zweifel. Und es ist kein Zufall, dass sie auf einen Berg steigen müssen.

Der Berg spielt im Matthäusevangelium eine zentrale Rolle. Ganz bewusst platziert der Evangelist die längste und gewichtigste aller Reden Jesu auf einem Berg. Gott offenbarte seinerzeit Mose die Tora, die Weisungen des Gesetzes, auf dem Berg Sinai. Jesus erfüllt und überbietet diese mit seiner Bergpredigt. Das macht er schon in der Einleitung deutlich: Meint nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Nicht um aufzulösen bin ich gekommen, sondern um zu erfüllen (Mt 5,17).

Später erleben Petrus, Jakobus und Johannes auf einem hohen Berg die Verklärung: Jesus begegnet Mose, dem Kronzeugen des Gesetzes und Elija, dem Urbild des Propheten. Und Gott ermahnt die drei Jünger, auf Jesus zu hören, seinen geliebten Sohn, welcher das Werk Moses und Elijas vollendet (Mt 17,1-13).

Auf einem Berg betet Jesus, während sich seine Jünger im Boot auf dem See Genezareth mit dem heftigen Gegenwind abmühen. Schliesslich steigt Jesus herab und geht über den See, um den Seinen beizustehen. Dabei kommt es zu jener Episode, welche nur Matthäus überliefert: Petrus steigt aus dem Boot und geht über den See, Jesus entgegen. Ich komme später nochmals auf diese Geschichte zurück.

Jetzt, am Ende des Evangeliums, kommt der Berg wieder in den Blick, als Ziel und Höhepunkt all dessen, was Matthäus uns über Jesus berichtet. Vom Gipfel aus schauen wir mit den Jüngern zusammen zurück auf die Verkündigung und das Wirken des Sohnes Gottes. Und wir schauen voraus auf die Zukunft mit dem Auferstandenen.

Denn als die Jünger nach ihrem mühsamen, endlos scheinenden Aufstieg endlich auf dem Gipfel stehen – geschieht das Wunder: Sie sehen ihren auferstandenen Meister! Es ist nichts als logisch, dass sie sich völlig überwältigt vor ihm auf den Boden werfen. Wir alle wären hin und weg, würde uns eine solche Begegnung mit Christus geschenkt.

Doch ausgerechnet jetzt, beim Höhepunkt der Geschichte, bei diesem unübertrefflichen Gipfelerlebnis, lässt Matthäus einen hässlichen Misston erklingen, eine Dissonanz, die alle Euphorie zerstört:

Einige aber zweifelten.

Was soll das – Zweifel, beim Anblick des Auferstandenen, im Moment dieses Einsseins mit Christus?

Einige aber zweifelten.

Für «zweifeln» steht im griechischen Urtext das Wort «distazein», ein Begriff, der ausschliesslich bei Matthäus begegnet und auch hier lediglich zweimal. Wörtlich übersetzt bedeutet er «hin- und hergerissen sein». «Distazein» begegnet uns auch in der Geschichte vom Seewandel des Petrus. Hier wächst der Jünger zunächst über sich selbst hinaus. Beherzt steigt er bei hohem Wellengang aus dem Boot, und es gelingt ihm, Jesus über den See entgegenzugehen. Im Moment jedoch, wo er den Wind spürt, packt ihn die Angst. Er versinkt und schreit panisch um Hilfe. Jesus zieht ihn aus den Fluten und sagt ihm: Du Kleingläubiger, warum hat du gezweifelt? Petrus ist hin- und hergerissen zwischen dem Vertrauen in Jesus und seiner Angst vor Wind und Wogen – als Bild der Mächte und Gewalten, welche diese Welt zu regieren scheinen.

Den elf Jüngern auf dem Berg geht es gleich: Sie werfen sich auf den Boden, als sie den Auferstandenen sehen – und bleiben doch Kinder dieser Welt, hin- und hergerissen zwischen Vertrauen und Angst, Hoffnung und Verzweiflung, Zuversicht und Ohnmacht. Matthäus bringt dies nicht einfach als hässlichen Misston ins Spiel, sondern als Grundbedingung der Existenz aus dem Glauben.

Ein Glaube, welcher die Fragwürdigkeit dieser Welt und alles, was uns bedroht und mit Angst erfüllt, ausblendet, ist kein Glaube, sondern ein Rausch, eine Flucht vor der Wirklichkeit. Weil er sich auf das Unsichtbare und Unfassbare ausrichtet, bleibt der Glaube zerbrechlich, gefährdet, stets unbedingt angewiesen auf den Zuspruch Christi. So sagt der Auferstandene den elf, welche hin- und hergerissen vor ihm liegen:

Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden.

Verrückt, was Jesus seinen elf verbliebenen Jüngern und uns allen, die nicht mehr wissen, wie es mit der Kirche weitergehen soll, zumutet: Ihm, der als Verbrecher am Kreuz starb, ihm gibt Gott alle Macht im Himmel und auf der Erde. Wer kann so etwas Verrücktes glauben?

Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden.

Jesus stellt die Verhältnisse klar: Er erhält seine Macht nicht von uns. Er ist nicht angewiesen auf unsere Bewunderung und unseren Jubel. Er ist nicht mächtig, weil wir ihn für mächtig erklären und ihn als Herrn der Welt propagieren.

Als geliebter Sohn Gottes erhält er die Vollmacht von seinem Vater. Die Elf Jünger auf dem Berg und wir alle sollen hören auf ihn und seinen Willen tun, nicht um ihn ins Recht zu setzen, sondern weil er uns ins Recht setzt, weil er uns rettet und festhält, wenn wir in unserem Hin- und Hergerissen-Sein untergehen.

Nachdem die Verhältnisse klargestellt sind, verkündigt Jesus den elf Jüngern seinen Auftrag:

Geht hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe.

Jesus holt die Hin- und Hergerissenen aus ihrer Lethargie. Geht! Hockt nicht mehr länger da und trauert besseren Zeiten nach! Besinnt euch auf meinen Ruf zur Nachfolge. Vertraut mir und folgt mir nach auf meinem Weg zu den Menschen. Ich gebe euch die Vollmacht, meinen Auftrag zu erfüllen: Macht alle Völker zu meinen Jüngern.

Der Auferstandene bringt wieder Dynamik ins Leben seiner Jünger. Und sein Auftrag ist in sich dynamisch, indem er jene, die ihn ausführen, verändert. So befiehlt Jesus seinen Jüngern nicht, dass sie den Völkern das Evangelium verkünden müssen. Sie sollen vielmehr die Menschen zu Mit-Jüngern machen. Ein Jünger kann niemals von sich behaupten, er habe die Erleuchtung erreicht und sei für immer im Besitz der Wahrheit. Er bleibt ein Lernender, angewiesen auf den ständigen Kontakt zum Meister. Die Jünger sollen nicht in die Welt gehen und den Menschen das, was sie für wahr und richtig halten, um die Ohren schlagen, womöglich noch mit Gewalt und Schrecken, wie es leider später in der Kirchengeschichte immer wieder geschieht. Sie sollen den Menschen auf Augenhöhe begegnen und sie als Mit-Jüngerinnen und Jünger in die Gemeinschaft mit Jesus Christus einladen. Die Taufe ist das Symbol dieser Gemeinschaft: Wer sich taufen lässt, anerkennt den Gekreuzigten als Herrn der Welt und trachtet nach dem Reich und der Gerechtigkeit seines Vaters.

Jesus schliesst seinen Auftrag ab mit dem Befehl: Lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe.

Auch dieser Teil des Auftrags verknüpft die Mission eng mit der Solidarität. Als Hin- und Hergerissene sind die Jünger weit entfernt vom Ideal, dass sie alles halten können, was Jesus ihnen in der Bergpredigt geboten hat. Kein Mensch wird je ans Ende kommen mit der Ethik der Liebe und Vergebung. Täglich bleiben wir gefordert. Auf Schritt und Tritt stellt uns jener, der gekommen ist, um das Gesetz und die Propheten zu erfüllen, in Frage mit unserer Lauheit und unseren Kompromissen. Damit bleiben wir bis an unser Lebensende Übende. Ja, eigentlich beginnen wir stets von vorne: Immer wieder muss sich das, was Jesus uns mit seinem Wort bietet, durchsetzen: Gegen unseren Kleinglauben und Egoismus, gegen unser Hin- und Hergerissen-Sein zwischen dem Willen Gottes und unseren eigenen Interessen.

So gesehen bildet die Kirche eine Lerngemeinschaft, wo Menschen das neue Leben, welches Jesus schenkt, miteinander einüben. Im Namen des Auferstandenen laden wir alle Völker ein, sich an dieser Lerngemeinschaft zu beteiligen.

Kehren wir zurück zu den Jüngern auf dem Gipfel des hohen Bergs: Wie geht es ihnen mit dem Auftrag des Auferstanden? Wie geht es uns, die sie begleiten? In menschlicher Sicht scheint der Auftrag Jesu unmöglich, damals wie heute. Alle Völker zu Jünger machen, das ist ein unerreichbares Ziel. Wir können doch schon froh sein, wenn wir heute nicht allzu rasch ärmer, älter und kleiner werden!

Jesus nimmt unsere Zweifel, unser Hin- und Hergerissen-Sein zwischen Vertrauen und Resignation ernst. So verheisst er zum Schluss seinen elf Jüngern und uns allen: Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Mit dieser Zusage erdet Jesus seine Vollmacht. Er ist nicht der souveräne Weltherrscher, welcher auf dem Reissbrett Strategien entwirft, Armeen verschiebt, Völker die Macht ergreifen und wieder untergehen lässt und aus der Distanz über Heil und Unheil, Leben und Tod bestimmt. Jesus ist und bleibt jener, der sich auf dem Berg Golgatha hingibt für uns bis in den Tod. Er sucht und findet auch als Auferstandener jeden einzelnen Menschen, um ihn zu retten, zu begleiten und zu leiten, immer und überall.

Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Die elf Jünger vertrauen den Worten ihres Meisters. Sie stehen auf, steigen herab vom hohen Berg und beginnen damit, Menschen zu Jüngerinnen und Jüngern zu machen. Und Jesus erreicht mit ihnen Unglaubliches: Aus ein paar Frauen und elf frustrierten Männern wird eine Weltreligion mit heute 2.3 Milliarden Jüngerinnen und Jüngern, Menschen, die auf Jesus schauen und hören und aus seinem Wort handeln.

So mühsam und beschwerlich unser Weg im Moment auch scheint: Wir heutigen Christinnen und Christen sind ein Teil dieses Wunders. Halten wir darum fest am Vertrauen in Christus und seine Verheissungen für uns. Lassen wir uns von ihm aus den Wogen von Zweifel und Anfechtungen ziehen. Und steigen wir mit ihm herab von den Bergen aus Ausflüchten und Träumen zu den Menschen von heute. Jesus beruft uns, dass mir mit ihnen zusammen den reichen Schatz des Evangeliums ans Licht heben und gemeinsam das Leben aus Glauben, Liebe und Hoffnung einüben. Amen.

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