Predigtbeitrag

Predigtbeitrag

Predigt über Jesaja 40,24-31 | Pfr. Bernd Giehl |

Liebe Gemeinde!

Ich möchte Ihnen gern eine Geschichte erzählen. Eine erfundene Geschichte, die in genau einem Jahr spielen wird. Wie gesagt: eine erfundene Geschichte. Ich bin kein Wahrsager. Ich habe keine Kristallkugel, mit der ich in die Zukunft schauen kann. Auch aus den Teeblättern, die unten in der Tasse bleiben, kann ich nicht erkennen was kommt. Schon allein deshalb, weil ich keinen Tee trinke.

Wir schreiben den 19. April 2021. Es ist ein schöner Frühlingstag. So lang ist es noch nicht her, dass der Winter dem Frühling Platz gemacht hat. Die Magnolien fangen jetzt an zu blühen, ebenfalls die gelben und weißen Narzissen. Eigentlich müsste der herrliche Frühling die Leute in Scharen vor die Tür locken. Aber draußen im Park sind keine Menschen. Die grünen Holzbänke stehen verlassen da. Die Fahrradfahrer, die sonst alle Augenblicke klingeln, damit man ihnen Platz mache, sind auch nicht auf den Wegen. Nicht einmal ein Jogger ist unterwegs, dem man Platz machen müsste.

Den einsamen Mann dort im Park mutet das alles fremd an, geradezu außerirdisch. Wo sind sie alle hin, die sonst hier joggten, Fahrrad fuhren, Ball spielten oder einfach nur Spazieren gingen? Das muss er jetzt herausfinden. Also verlässt er jetzt den Park und macht sich auf den Weg in die Innenstadt. Auch hier ist kaum jemand zu sehen. Vor den Geschäften, den Cafés, den Restaurants und Bars sind die Rollgitter heruntergelassen. An vielen hängt jetzt ein Schild: „Zu verkaufen“ oder „zu vermieten.“ Nur ein paar Supermärkte sind offen, aber auch in denen sind nur wenige Kunden. Er wartet bis eine Frau herauskommt; er will sie ansprechen und fragen, was da eigentlich gespielt wird, aber die Frau macht eine abwehrende Handbewegung und läuft weg. Ebenso ergeht es ihm mit einem Mann, der mit einem Einkaufswagen aus dem Supermarkt kommt. Der dritte sieht sich lachend um und fragt, wo die versteckte Kamera sei.

Erst die fünfte, die er fragt, gibt Antwort. Auch sie sieht ihn an, als ob er nicht ganz bei Trost wäre. Sie fragt ihn, wo er denn bitte im letzten Jahr gelebt hätte und er sagt: „In der Wildnis. Da wo es keine Zeitungen gibt.“ Sie schaut immer noch misstrauisch, aber dann erzählt sie von dem tödlichen Virus, der seit Anfang des letzten Jahres unterwegs sei. Von den Maßnahmen der Regierung, die Menschen voneinander zu isolieren und dass die im Sommer des letzten Jahres gelockert worden wären. Ma habe geglaubt, ein großer Teil der Bevölkerung sei jetzt immun gegen die Krankheit. Da könne man eine Lockerung der Ausgangsbeschränkungen riskieren. Den Leuten sei schon seit Monaten die Decke auf den Kopf gefallen. Zu Tausenden seien die Menschen ins Freie, in die Restaurants und Bars geströmt; allen Warnungen zum Trotz. Sie hätten es einfach sattgehabt, so eingeschränkt zu leben. Aber dann habe das Virus erneut zugeschlagen. Viele hätten sich infiziert und seien gestorben. Daraufhin seien neue, noch strengere Beschränkungen erlassen worden. Mittlerweile sei sogar das Spazierengehen streng verboten. Nur noch zum Einkaufen dürfe man die Wohnung verlassen. Aber das müsse er doch wissen. Nein, sagt der Fremde. Er sei, wie gesagt, lange in der Wildnis gewesen.

Der Mann hatte nicht die ganze Wahrheit gesagt. Die hätte die Frau auch nicht verstanden. Er kam von einem fernen Stern an der Grenze des Sonnensystems und auf seiner Reise durch die Galaxis hatte er nun zum zweiten Mal die Erde besucht.

 

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Manchmal hilft der fremde Blick. Hilft dabei Ereignisse oder auch Texte zu verstehen, die uns andernfalls fremd bleiben.

Dabei ist dieser Text aus dem Jesajabuch uns ja eigentlich nicht fremd. Wir haben ihn vermutlich schon öfter gehört und manche Verse haben sich eingeprägt, weil sie von großer Kraft sind. „Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel sagst: „Mein Weg ist dem Herrn verborgen und mein Recht geht an meinem Gott vorüber? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt; sein Verstand ist unausforschlich. … Männer werden müde und matt und Jünglinge straucheln und fallen, aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler …“ Diese Worte sprechen unmittelbar zu uns; wir empfinden etwas bei ihnen, auch wenn wir sie noch nicht ganz verstehen. Sie reizen uns dazu, Stellung zu nehmen; sie zu bejahen oder ihnen zu widersprechen. Aber zuerst einmal sind sie ja gar nicht zu uns gesagt, sondern sie sprechen zu Menschen, die vor 2500 Jahren gelebt haben. Menschen die unter ganz anderen Umständen gelebt haben als wir. Versuchen wir uns in Empfinden hineinzuversetzen. Und versuchen wir es erneut mit einer Erzählung.

 

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Wir schreiben das Jahr 550 vor Christus. Oder nach jüdischem Kalender das Jahr 3230 nach Erschaffung der Welt. Die nach Babylon geführten Juden allerdings rechnen anders. Sie schreiben das Jahr 40 nach der Zerstörung des Tempels. Das ist der Punkt, an dem ihr Leben aufgehört hat, einen Sinn zu haben.

Sie leben im fremden Land. Man kann eine fremde Sprache lernen, fremde Gewohnheiten annehmen, sich mehr oder weniger integrieren. Anders sieht es aus, wenn man nicht freiwillig in einem Land lebt. Wenn man gezwungen wurde, dem eigenen Land den Rücken zu kehren und ins fremde Land zu gehen. Am Schwersten ist es, wenn die Religion, der man angehört, verbunden ist mit dem Besitz des verlorenen Landes. Wenn man in jedem Gottesdienst als Glaubensbekenntnis die Worte spricht: „Ein umherirrender Aramäer war mein Vater und nahe dem Umkommen und zog hinab nach Ägypten“ und dann geht es weiter mit der Unterdrückung durch die Ägypter und der Befreiung von ihr. Wenn man in jedem Gottesdienst daran erinnert wird, was für ein großes Werk Gott getan hatte, als er den Vorfahren das Land Israel gegeben hatte, in dem Milch und Honig floss und gleichzeitig daran denken muss, dass man dort nicht mehr lebt. Das lässt die Wunde jedes Mal aufs Neue bluten. Da fragt man sich, wo Gott ist, ob er gerade verreist ist oder Besseres zu tun hat.

Dabei feierten sie ja noch ihre Feste. Feierten Passa als Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Sagten vielleicht auch „Dieses Jahr feiern wir hier in Babylon. Mögen wir Passa nächstes Jahr  in Jerusalem feiern.“

Und so stelle ich mir nun vor, der unbekannte Prophet, von dem wir nicht einmal den Namen wissen, sei mit seiner Botschaft zum ersten Mal bei einer solchen Passafeier aufgetreten. Vielleicht hat er am Ende gesagt: „Ihr habt jetzt Worte gesprochen, an die ihr selbst nicht glaubt. Ein paar fromme Worte zum Abschluss. ‚Mögen wir nächstes Jahr in Jerusalem feiern.‘ Gibt es irgendjemanden unter euch, der das glaubt?“ Allgemeines betretenes Schweigen. Wer konnte schon daran glauben, dass die Babylonier sie freiwillig zurückkehren ließen in ihr Land? „Ich dachte es mir“, fährt der Mann fort. „Es war nur ein Spruch. Etwas, was man eben sagt. Ich sage euch: Ihr werdet es noch erleben, dass ihr Passa in Jerusalem feiern könnt. Vermutlich nicht nächstes Jahr. Aber im Jahr darauf.“

„Wie soll das gehen?“ fährt ihm einer in die Parade. „Gott selbst wird uns herausführen“, erwidert der Mann ruhig. „Er wird einen Befreier senden. Damals hat er Mose gesandt. Diesmal wird er uns einen neuen Mose erwecken.“

Die Leute sehen ihn an wie einen Außerirdischen. Sie möchten gern glauben, was sie hören, aber sie können es nicht.

 

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Selten ist mir ein biblischer Text so nah gekommen wie dieser. Selten hat einer so von Hoffnung gesprochen. Aber er gibt auch den Zweifeln seiner Hörer Raum. Nicht dass er das unbedingt will. Wenn es nach dem Sprecher ginge, gäbe es keinen Raum für Zweifel. Für ihn ist ganz klar. Gott hat die Macht, den Müden wieder neue Kraft zu geben, Die Gefangenen aus ihrem Exil zu führen. Und er wird damit auch nicht mehr lang warten, sondern er wird Israel befreien.

Aber zugleich weiß der Verfasser auch, dass sein Glauben etwas Visionäres hat. Und Visionen werden bekanntlich nicht von allen geteilt. Manchmal ist die Verzweiflung zu groß, manchmal die Resignation. Resignation kann auch schützen. Erwartungen, die geweckt und dann nicht erfüllt werden, tun weh. Irgendwann kann man den Schmerz nicht mehr ertragen.

In diesem Jahr haben wir etwas getan, was wir noch nie erlebt haben. Wir haben Ostern nicht im Gottesdienst gefeiert. Wir haben nicht erlebt, wie das erste Licht durch die Dunkelheit dringt, während die Osterkerze in die Kirche getragen wird. Wir haben nicht gemeinsam  „Christ ist erstanden“ gesungen, sondern bestenfalls vor dem Fernseher mit Musik von der Tonkonserve. Vielleicht war die Familie um uns, aber viele werden auch allein vor dem Fernseher gesessen und eine leere Kirche gesehen haben, mit einem einsamen Pfarrer oder einer einsamen Pfarrerin vor dem Altar sowie ein paar Sängerinnen und Sängern. Die Pfarrerin hat sich viel Mühe gegeben den Gottesdienst lebendig zu gestalten, aber die leeren Bänke waren nicht zu übersehen.

Manchmal wird uns erst bewusst, was wir gehabt haben, wenn es uns fehlt. So ist es wohl auch mit den Gottesdiensten. Wir konnten sie besuchen, gemeinsam beten und Lieder singen, der Predigt zuhören oder sie verschlafen. Manchmal haben wir den Gottesdienst geschwänzt, weil wir zu müde waren oder lieber spazieren gehen wollten. Am nächsten Sonntag konnten wir ja wieder hingehen. Dass es am nächsten Sonntag wieder einen Gottesdienst geben würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Und plötzlich ist alles anders.

 

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Noch ist es nicht vorüber. Wir leben immer noch in der Welt, in der der Tod mit Macht zuschlagen kann. Aber auch die Botschaft von der Auferstehung Jesu Christi ist unter uns. „Er ist wahrhaftig auferstanden.“ Vielleicht hat es etwas leiser geklungen als in früheren Jahren, weil es von den Bildschirmen kam und wir es zum Bildschirm sagten, aber wahr bleibt es dennoch. Oder um es mit den Worten unseres Predigttextes zu sagen: „Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde und matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke dem Unvermögenden. Männer werden müde und matt und Jünglinge straucheln und fallen, aber die auf den Herrn hoffen, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler.“

Ich kann es glauben. Auch wenn ich mich manchmal davor fürchte, zu viel Hoffnung zu haben.

de_DEDeutsch