Psalm 25, 6

Psalm 25, 6

Gott schenke uns ein Herz für
sein Wort und ein Wort für unser Herz.

Liebe Gemeinde,

manche Dinge gehen vor. Da kann
das, was dran ist, noch so wichtig sein. Es muß dann erst mal warten.
Vor vier Wochen mußte ich mit meiner Tochter zur
Schulärztin. “Schuleingangsuntersuchung“ hieß der Termin, zu dem wir
eingeladen waren, und das war wirklich wichtig. Aber kaum, daß wir die
Etagentür hinter
uns zugezogen hatten, kam etwas, das ging einfach vor. Ein riesengroßer
Nachtfalter flatterte nämlich durchs Treppenhaus, er war aufgescheucht
und verstört, er
knallte an die Wand und donnerte dann gegen die Fensterscheibe. Der dumpfe
Schlag tat weh im Ohr. Im Herzen auch. Das arme Tier mußte befreit werden,
da waren wir uns sofort einig. Das Problem war nur: Um den Schmetterling
zu befreien, mußten wir ihn erst mal einfangen. Nun mußte also die Tür
wieder aufgeschlossen werden, eine große Leiter wurde geholt, und die
war auch nötig,
denn so ein Treppenhaus hat Höhen. Fast eine halbe Stunde dauerte es,
bis wir den armen Falter in einem Einmachglas gefangen hatten, um ihn
dann
durchs Flurfenster
hinauslassen zu können ins Freie. Meine Tochter und ich, wir waren so
glücklich,
als wir ihn darußer fliegen sahen, daß uns der anstehende Schulreife-Test
gar nicht mehr so wichtig war. 

Was sind das für Dinge, die andere,
viel wichtigere Sachen, so zurücktreten
lassen? Es sind Dinge, wo es ums Leben geht. Ums lebendige Leben.
Das lebendige Leben kommt glücklicherweise nicht immer plötzlich oder
gar ungelegen. Meist kündigt es sich an, es klopft an die Tür, es wartet,
ob wir aufmachen und fragt uns, was wir brauchen. Es fängt also ganz
behutsam an. 

Am Anfang der Geschichte, die wir heute gehört haben,
klopft dieses Leben bei dem Fischer Simon Petrus an: es bittet ihn
um seine Hilfe.               

Jesus
ist gefangen ist von einer großen Menschenmenge, die ihn bedrängt.
Ein paar hundert sind es vielleicht, und bis ans Ufer des Sees haben
sie ihn schon getrieben.
Alle wollen ihn hören, viele möchten ihn auch berühren. Das wird zu
eng. Das ist zu viel. Jesus braucht Distanz. Ohne einen vernünftigen
Abstand kann er den Leuten am See nichts sagen. Und gerade deshalb
waren sie doch gekommen, “um
das Wort Gottes zu hören“, wie es hier heißt. Also ruft der Prediger
aus Nazareth den Fischer vom See Genezareth um Hilfe. Er soll ihn im
Boot ein wenig vom
Ufer wegfahren. Das tut Petrus, und nicht nur das, seine Freunde und
er selbst steigen mit ein. Alle zusammen fahren nun ein Stück hinaus,
gerade so weit, daß Jesus gut zu hören ist bei denen, die am Ufer stehen.
Nicht nur bei ihnen. Die Fischersleute haben Jesus den Abstand verschafft,
den er brauchte. Dafür
sind sie jetzt am nächsten dran an ihm und dem, was er sagt. Jesus “lehrt“,
so steht es hier, die Menge vom Boot aus. Die Leute hören ihm zu. Ob
es das unerhört Neue an seiner Rede ist oder vielleicht einfach seine
Art zu sprechen, was die Menschen hier wie gebannt lauschen läßt? Eins
läßt sich jedenfalls
erkennen: die Fischer fassen Vertrauen. Die Lehre von Jesus muß wirklich
gut sein. Denn sonst könnten wir uns nicht erklären, wie sie dazu kommen,
sich von einem Zimmermann aus Galiläa, der nun wirklich  keine
Ahnung vom Fischfang hat, einen Rat geben zu lassen. Und nicht nur,
daß sie sich den geben lassen.
Es ist überdies ein wirklich unsinniger Vorschlag. Tags, wenn es hell
ist, kommt kein Fisch an die Oberfläche. Da verkriechen sie sich alle
irgendwo in die Tiefen des Sees, dorthin, wo es dunkel ist, und wo
kein Fischernetz jemals
hinkommt. Seit Jahrhunderten bereits wurde deshalb nur nachts gefischt.
Schon die Väter und Großväter dieser Männer waren nachts auf Fang gegangen;
und das nicht aus Pietät, sondern aus dem Wissen: tags fängt man nichts.

Auch
nachts nichts gefangen zu haben, das ist allerdings wirklich schlimm.
Die Fischersfamilien essen selbst viel Fisch, und wenn sie keinen fangen,
ist ihre Mahlzeit knapp.
Solche Familien haben auch keine großen Geldrücklagen. Wenn sie keinen
Fang zum Markt bringen, können sie für sich selbst auch nichts mehr
kaufen. An der Grenze zur Armut leben diese Leute. Aber auch auch frei
und stolz auf das,
was sie wissen und das, was sie können. Man will es also kaum glauben,
wenn man es hört. Sie fahren  tatsächlich bei Tag hinaus auf den
See und werfen die Netze aus. Warum hören die auf Jesus? Petrus gibt
hier die Antwort darauf: “Auf
dein Wort hin will ich die Netze auswerfen“, sagt er zu Jesus. Also
nicht aus Hunger, nicht aus Verzweiflung, und auch nicht, um zu auszuprobieren,
wie es
ist, wenn man es mal ganz anders macht. Auf das Wort von diesem Jesus
hin. Petrus hat offenbar die Erfahrung gemacht: Sein Wort ist stark. 

Ich
stelle mir vor, Jesus hat davon gesprochen, wie Gott es mit uns meint.
Daß er
es über’s Maß hinaus gut meint, und daß er unablässig damit beschäftigt
ist, für uns zu sorgen. Das zu glauben, ist etwas Besonderes, auch
wenn man es schon oft gehört hat. Normalerweise denken wir ja, daß niemand
für uns sorgt, wenn
wir das nicht selbst tun. Wir sagen, das lehrt uns die Erfahrung.  Leider
ist die Erfahrung in solchen Sachen eine denkbar schlechte Lehrmeisterin.
Sie lehrt uns nämlich nicht viel anderes als das, was wir ohnehin erwartet
hatten. Auf diese Art kann es geschehen, daß wir fatalerweise mit unseren
schlimmsten Befürchtungen stets Recht behalten. Der Petrus und die
Fischer hier in der Geschichte sind offenbar bereit, sich auf etwas
ganz Neues einzulassen und
so zu sehen, ob das stimmt, was Jesus gesagt hat. Daß Gott für uns
sorgen will. Dafür riskieren sie nicht nur ihre altgewohnten Erfahrungswerte.
Sie nehmen auch in Kauf, sich gründlich lächerlich zu machen. Die Leute,
die da noch am Ufer stehen und miteinander über das reden, was dieser
Wanderrabbi aus Galiläa
gesagt hat, werden sich die Augen gerieben haben, als sie das sahen:
daß die
Fischer nach beendeter Predigt nicht wieder ans Land zurückgerudert
sind, sondern hinaus auf den See. Und daß sie sich nicht entblöden,
dort die Netze auszuwerfen, am hellerlichten Tage. So übermüdet können
sie doch eigentlich nicht sein, daß sie nicht wissen, daß das nichts
bringt. Gleich werden alle über Petrus
und seine Genossen lachen, wenn sie ihre Netze  einholen, in denen
höchstens
Wasserpflanzen hängen geblieben sind.  Jesus setzt aber auch viel
aufs Spiel. Denn wenn sich herumspricht, daß er derjenige war, der
dazu geraten hatte, auf Fang zu gehen, wird wohl keiner der dort Versammelten
auf seine
Predigt noch etwas geben wollen. “Taugt alles nichts, das ganze Gerede,
kannste mal sehen.“

Das kann schnell dabei herauskommen, wenn auf
die rechte Lehre die falsche Tat folgt. Zur Orthodoxie, zu dem, was
wir
richtigerweise sagen,
gehört die Orthopraxis, also das, was wir dementsprechend tun. Die
beste Lehre verkümmert ohne die rechte Tat. Wenn man hier versagt,
ist man blamiert. In unserer Geschichte könnte man meinen, daß niemand
blamiert ist. Nicht Jesus. Denn daß das, was er sagt, recht behält,
das konnten hier alle verstehen. Noch die Fischer, die sogar andere
herbeirufen müssen, damit ihre Netze nicht reißen
– so einen Fang hatten sie vielleicht noch nie gemacht – da konnten
sie eigentlich stolz sein. Oder nicht? Einer ist nicht stolz. Einer
fühlt sich plötzlich elend.
Wie ein Nachtfalter, dem am Tage plötzlich die Augen aufgehen. Er sieht
nur, daß er geblendet ist von einer sagenhaften Helle. “Herr, geh weg
von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch.“            

“Fürchte
dich nicht“, sagt Jesus hier zu dem geblendeten Nacht-Fischer.  Ich
höre
das so, als wollte er sagen: “Fürchte dich nicht vor dem Heiligen,
wenn es dir begegnet. Wundere dich nicht, wenn es hell ist. So ist
das lebendige Leben.“ – “Fürchte
dich nicht“, daraus spricht für mich auch ein großer Trost. Wenn Jesus
den Simon Petrus so anredet, bedeutet das, daß er ihn kennt, daß er
ihn annimmt und liebt. Und wenn das so ist, braucht Petrus wirlich
nichts zu befürchten
von dem, den er hier “Meister“ nennt.   Als allererstes “fürchte
dich nicht“ zu sagen, ist also sehr gut. Es nimmt viel scharfen Wind
aus den Segeln. Danach kann vieles andere gesagt werden. Was hier daraufhin
gesagt
wird, finde ich allerdings atemberaubend: “Von nun an wirst du Menschen
fangen“.
Menschen fangen – wieso? Petrus ist doch Fischer, eben noch haben wir
gehört,
wie er aus dem Boot ins Wasser sprang und das Netz an Land zog.

In meiner Kinderbibel war ein Bild davon, das
zeigte, wie Petrus und seine Freunde im flachen Wasser des Sees vorsichtig
watend die übervollen Netze zogen. Sie hielten in der einen Hand ihre
langen Gewänder, die sie refften – jeder hatte eins in einer anderen
Farbe: Petrus rot, Jakobus blau und Johannes gelb. Mit der anderen
Hand zogen sie ihr Netz ans Ufer. Sie sahen so glücklich aus, die Fischer,
und ich fand das Bild wunderschön. Warum soll der Petrus nun alles
stehen und liegen lassen und weggehen? Er muß doch seinen Fang feiern
und dann verkaufen und dann die Netze flicken und überhaupt – sollte
er nicht dort bleiben, wo er zuhause ist?  

Manche Dinge gehen einfach vor. Wo es ums Leben
geht, ums lebendige Leben, fällt die Entscheidung manchmal sehr schnell. Petrus geht mit, Menschen zu
fangen.       

Menschen
fangen – das klingt befremdlich, finde ich. Richtig unheimlich. Wenn ich mir
vorstelle, daß meine Tochter vielleicht eines Tages in die Hände irgendwelcher
Menschenfänger geriete, wird mir ganz übel.          

Ich
habe sie gefragt, was ihr bei “Menschen fangen“ einfällt, und da hat sich gelacht
und mich gefragt, ob ich das etwa nicht im Kindergarten gespielt habe, als
ich ein Kind war. Sie sagt, sie spielen dort ganz oft “Fischer, Fischer“. Ein
Kind ist der Fänger, so heißt das, und die anderen sind die Fische. Wenn sie
ausreichend oft gefragt haben, wie tief das Wasser ist und einer von den Fischen
das andere Ufer erreicht hat, geht das Fangen los. Der Fänger versucht, möglichst
viele Kinder zu fangen. Meine Tochter sagt, sie versucht dann natürlich, wegzulaufen.
Aber geschnappt zu werden, ist auch schön. Außerdem ist man, wenn man als erster
geschnappt urde, beim nächsten Mal der Fänger.     

Menschenfänger
zu sein – sich fangen zu lassen, um dann als nächstes andere zu fangen.
Den Nachtfalter, der sich ins Treppenhaus verirrt hatte, mußten wir fangen,
um ihn zu befreien. Jetzt denke ich, mit uns Menschen ist es nicht anders.
Normalerweise sind wir nämlich gefangen. Wir tappen sehr unsicher durch unser
Leben und stoßen ständig gegen Wände, während wir versuchen, unseren Weg zu
finden. Geschnappt zu werden, das könnte also sehr gut sein. Wenn es der Richtige
ist, der uns für sich einnimmt. Und wenn es behutsam geschieht. Und schließllich
ins Freie entlassen zu werden, das ist bestimmt das Beste, was uns passieren
kann.    

Beim
Menschenfangen geht es darum. Menschen für Gottes Sache zu gewinnen, das heißt
als erstes, sie aus den Netzen zu befreien, in die sie sich verstrickt hatten.
Solche Netze gibt es viele, und wer ehrlich ist, kennt auch die, in die er
selbst schon oft geraten ist. Überzogener Ehrgeiz und die Sucht nach Anerkennung
kann so eine Falle sein, in die wir immer wieder hineintappen, oder die Überzeugung,
von anderen Menschen doch nur ausgenutzt zu werden und deshalb am besten allein
zu bleiben. Manche Leute glauben, es allen anderen recht machen zu müssen und
selbst gar nicht vorkommen zu dürfen, während andere ganz selbstverständlich
davon ausgehen, daß es um sie und nur um sie geht, weshalb sich alle nach ihnen
richten müßten. – Ich will jetzt nicht hunderte von solchen selbstgestrickten
Netzen vorstellen, in die wir vorzugsweise hineingeraten, während wir meinen,
frei zu sein. Wir kennen unsere gut, und die von anderen erkennen wir auch.
Wir wissen auch, daß diese Fallstricke uns das Leben schwer bis unmöglich machen.
Daß es einen geben könnte, der uns ganz vorsichtig fängt, um uns dann freizulassen
ins Leben, das ist eine wirklich wunderbare Sache. Eine überwältigende Erfahrung.
Wer sie gemacht hat, wird sich vielleicht daran erinnern, daß man erst mal
wie geblendet dasteht, wenn einem das geschieht. Aber wer bei dieser neuen
Erfahrung bleibt und nicht zurückkehrt zu den alten Netzen, wird sie auch weitergeben
wollen an andere. Es kann sein, daß er ein Menschenfischer wird, so wie Petrus.
Menschen einnehmen für die Sache Gottes, damit sie frei werden können. Früher
nannten wir das in der Kirche “Mission“, also Sendung. Zu anderen hin gesandt
sein, ist damit gemeint, und auch, daß wir das nicht von uns aus tun, sondern
von Gott aus, der uns dahin schickt, wo er uns braucht.

Mission: Selbst frei werden, immer wieder, und
andere zum Freisein ermutigen in Gottes Namen.
Mission, das heißt nicht nur Predigen. Wer auf die rechte Lehre die rechte
Tat folgen läßt, wird mit Gottes Mission ankommen bei den Fischern und bei
anderen Leuten.
Das Beste aber ist; daß Gott zuerst mit seinen guten Taten ankommt bei uns.
Auf sein Wort hin können wir’s getrost wagen.
Amen.      

Elisabet Mester, Hannover
Mester@annastift.de

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