Psalm 46

Psalm 46

„Ein feste Burg ist unser Gott“ | Reformationstag | 31.10.2022 | Psalm 46 | Bernd Giehl |

Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass mir das Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ einfiel, als ich begann, diese Predigt zu schreiben. Nun werden Sie sagen, natürlich ist das kein Zufall. Das Lied ist doch mit dem Reformationstag verbunden, wie kein anderes. Und Menschen mit ein bisschen Hintergrundwissen und Phantasie werden Luther auf der Wartburg sehen, wo er in den Jahren 1521 und 1522 Schutz vor seinen Feinden gefunden hatte: Hier konnte er in Ruhe das Neue Testament übersetzen, weil nur wenige wussten, wer er war und die ihn nicht an den Kaiser verrieten. 1522 kehrte er dann nach Wittenberg zurück, weil er die Bildesstürmer, die die Kirchen verwüsteten, Statuen zerschmetterten und Altarbilder verbrannten, zur Ordnung rufen wollte. Er war buchstäblich in einer festen Burg gewesen, aber er verließ sie, vermutlich weil er der Überzeugung war, Gott werde ihn auch an einem weniger sicheren Ort schützen.

Aber dieses Lied ist vermutlich nicht auf der Wartburg entstanden, auch wenn der Text die Assoziation nahelegt. Wann es gedichtet wurde, wissen wir nicht. 1529 ist es erstmals in einem Gesangbuch abgedruckt. Irgendwann vor diesem Zeitpunkt muss es also geschrieben worden sein, worden sein.

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Aber noch eine ganz andere Erinnerung drängt sich mir auf. Ich bin 1967/68 zum Konfirmandenunterricht in einem kleinen Ort im Westerwald gegangen. Der Unterricht bestand hauptsächlich im Lesen und Rezitieren von Katechismus Texten und Gesangbuchliedern und danach mussten wir das Gelesene auswendig lernen. Auch Psalmen gehörten zum Repertoire.  So natürlich auch Psalm 46. „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einsänken.“ Das Ungestüm konnten wir uns ja noch erklären, das ging aus dem Zusammenhang hervor, aber was bedeutete, dass das Meer „wallte“? Vermutlich hat keiner gefragt und unser Pfarrer hat es uns auch nicht erklärt. Er war schon alt; vermutlich kurz vor der Pensionierung und so konnte er sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass wir Jugendlichen, die gerade von der Kindheit in die Pubertät wechselten, mit diesen Worten wenig anfangen konnten. Wie sollten wir uns auch vorstellen können, dass es in der bedrohten Stadt lustig zuginge? Würden sie in der Stadt Feste feiern, singen, tanzen und vielleicht auch trinken, während draußen die Berge in sich zusammenstürzten? Das musste man sich doch wohl vorstellen bei den Worten: „Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben …“ Singen, tanzen und feiern, das war wohl den Meisten von uns etwas, was wir kannten, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie heute Jugendliche feiern, aber angesichts des Weltuntergangs?

Ob wir überhaupt so tief eingedrungen sind? Ich fürchte, das sind wir nicht. Es reichte schon, dass wir diesen Text bis zur nächsten Konfirmandenstunde auswendig können mussten.

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Wenn ich über diesen Psalm nachdenke, frage ich mich, wie vielen von uns er wohl in Erinnerung geblieben sein mag. Als ich ihn in der Auswahl der „Göttinger Predigten“ gesehen habe, habe ich ihn gleich ausgewählt. Er sprach mich sofort an. Einige Verse kann ich immer noch auswendig, obwohl meine Konfirmation mehr als fünfzig Jahre her ist. Er gehört zu den Texten, die mir wichtig geworden sind. Unser Pfarrer meinte damals, wir sollten diese Worte auswendig lernen, damit sie uns wie ein Licht in dunklen Zeiten leuchten. So ganz unrecht hatte er ja nicht, zumindest nicht bei mir, weil diese alten Worte immer noch zu mir sprechen.  Dennoch habe ich das Rezitieren und das stumpfe Auswendiglernen meinen eigenen Konfirmanden nicht mehr zugemutet. Vielleicht erinnern sie sich hin und wieder an die eine oder andere Geschichte aus der Bibel, die wir gelesen und gespielt haben. Doch das weiß ich natürlich nicht.

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Aber womöglich sind das alles ja nur Vorreden. Auf das Wichtigste bin ich bisher noch gar nicht eingegangen. Das Wichtigste – Sie ahnen es – ist unser eigenes Verhältnis zu diesen Worten. „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht; wenngleich die Welt unterginge, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einsänken.“ Wenn jemand mich bäte, unsere Zeit in einem einzigen Begriff zusammenzufassen, würde ich sagen: Wir leben in einem Meer von Sorge. Vielleicht geht uns dieses Meer vorerst nur bis zu den Knien, aber dass wir es ja nicht vergessen, darum kümmern sich  schon die Medien. Wir sehen die Bilder vom Krieg in der Ukraine, wir hören von den Tausenden von Menschen die nach Westen flüchten. Wir sehen die Bilder aus dem Atomkraftwerk Saporischja und es ist schon fast egal, wer da auf das Kraftwerk schießt, denn wenn einer der Blocks getroffen wird, gibt es vermutlich wieder eine GAU, einen „größtmöglichen anzunehmenden Unfall“ und was dann passiert, möchten wir uns wirklich nicht ausmalen.  Wenn einmal nicht von Saporischja oder der Ukraine die Rede ist, dann bestimmt von den ständig steigenden Gaspreisen, den immer weiter steigenden Lebensmittelpreisen und wenn das nicht gerade Thema ist, dann ist es eben der Klimawandel.  Und davor war es eben die Covid 19 Pandemie, von der Fernsehen und Zeitungen tagaus, tagein berichteten.

Damit will ich nicht sagen, dass uns die Medien Falschnachrichten erzählen. Das tun sie nicht. Aber der Trommelwirbel, den sie seit dem Ausbruch der Corona Pandemie veranstaltet haben, der hat seine Spuren hinterlassen. Vermutlich verstärkt das noch den Eindruck, dass alles immer schlimmer wird und man eigentlich gar nichts machen kann. Da hilft auch kein Bundeskanzler mit seinem ständig wiederholten Slogan “You never walk alone.“

Vielleicht sind das gar nicht die wirklich wichtigen Sorgen, die uns quälen. Oder die Dinge, die uns traurig machen. Vielleicht sind das ganz andere Dinge. Dinge, die privat bleiben, die wir nur unseren besten Freunden erzählen können. Oder vielleicht auch niemandem. Jemand ist von seiner Frau verlassen worden und er kommt nicht darüber hinweg. Jemand anderer ist die Wohnung gekündigt worden und sie hat Angst obdachlos zu werden. Noch einmal jemand anders fühlt sich von ihrer besten Freundin verraten und nach und nach verliert sie das Vertrauen in die Welt.

Und dann fallen uns die Worte des Psalms ein. „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke; eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht …“

Das sind große Worte. Worte, die wir gern so sprechen würden. Aber es fällt uns schwer. Da sind so viele Enttäuschungen.

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Vielleicht müssen wir das erst einmal aushalten. Frühere Generationen haben womöglich noch intensiver geglaubt. Ihnen sind die Worte des Psalms ein Trost gewesen. Selbst wenn die Welt unterginge, so ist Gott dennoch für uns da. Auf ihn können wir uns verlassen. Womöglich haben sie noch viel mehr aus dem Glauben gelebt, als wir das tun. Womöglich hat der Wohlstand und der Glaube, dass es uns in Zukunft noch besser gehe, den Blick auf Gott und seine Hilfe verstellt.

War’s das also? Nein, ich glaube nicht. An dieser Stelle fällt mir Martin Luthers Erklärung zum dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses ein.  „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten …“ Da ist es wieder: Luthers berühmtes „nicht aus eigener Kraft.“ Ich denke. Das gilt auch für den eigenen Glauben. Auch er ist Geschenk. Auch um ihn können wir nur bitten. Und wenn wir merken, dass unser Glaube schwach ist, dann können wir ja immer noch bitten: „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben. So wie der Vater Jesus bittet, seinen kranken Sohn zu heilen und als Jesus ihm antwortet: „Alles ist möglich, dem der da glaubt“ diese Worte ausruft. „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben.“

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Heute feiern wir Reformationstag. Der Grundgedanke der Reformation war, dass es nicht auf uns ankommt: nicht auf unsere Frömmigkeit, nicht auf unsere guten Werke, womöglich nicht einmal auf die Stärke unseres Glaubens. Sondern dass wir auf Gottes Rechtfertigung angewiesen sind.

Womöglich ist unser Glaube ja schwächer als der unserer Vorfahren es gewesen ist. Aber dann fällt mir das berühmte jüdische Gleichnis ein, das etwas ganz Ähnliches erzählt. Wenn sein Volk in großer Not war, ging der berühmte Rabbi an einen ganz bestimmten Ort auf dem Berg, zündete ein Feuer an, hob die Hände und betete um ein Wunder des Allmächtigen, damit sein Volk gerettet würde. Und das Wunder geschah. Ich weiß nicht mehr genau, wie das Gleichnis weiterging, aber ich weiß seine Struktur. Der Nachfolger des Rabbi  kannte den Ort nicht mehr, an dem sein Vorgänger gebetet hatte, aber er kannte den Berg, also ging er, als die Not groß war dorthin, zündete ein Feuer an und gestand Gott, dass er den genauen Ort nicht mehr wisse, aber dass er ein Wunder tun möge. Der nächste Rabbi kannte weder den genauen Ort noch den Berg, also ging er irgendwohin, zündete ein Feier an und bat Gott um ein Wunder, das natürlich auch geschah. So geht es immer weiter bis zum letzten Rabbi, der nirgendwohin ging, kein Feuer mehr anzünden konnte und auch den genauen Wortlaut nicht mehr wusste, aber als er Gott um ein Wunder bat, dass sein Volk retten würde, geschah es auch diesmal.

Bernd Giehl * Hildegardstraße 1 * 55131 Mainz

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