Römer 11, 33-36

Römer 11, 33-36

Staunen, Loben und die Gewissheit, dass Gott da ist | Trinitatis | 12.06.2022 | Röm 11, 33-36 | Martina Janßen |

Lesung Röm 11,33-36:

33 O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! 34 Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13) 35 Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?« (Hiob 41,3) 36 Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

 

  1. Am Ende bleiben diese drei: Staunen, Loben und die Gewissheit, dass Gott da ist. Paulus ist in seinem Römerbrief an die Grenzen des Denkbaren gegangen. Wie kann er seine Überzeugung, allein der Glaube an Jesus rettet und die bleibende Erwählung Israels zusammendenken? Gibt es für Israel einen Sonderweg zum Heil, an Christus vorbei? Diese Frage ist nicht nur für Israel bedeutsam, sondern für Gott selbst. Bleibt Gott seiner Verheißung an Israel treu? Bleibt er seinem Bund, ja: bleibt Gott sich selbst treu? Für Paulus ist das alles nicht nur ein theologisches Rätsel, eine knifflige Logikaufgabe oder ein intellektuelles Gedankenspiel. Diese Fragen betreffen den Kern seiner Person, war er doch selbst Jude bevor er Christ wurde, traute er doch dem alten Bund bevor er den neuen einging. Paulus steht an der Grenze – an der Grenze seiner Identität, an der Grenze seines Glaubens, an der Grenze seines Denkens. In drei Kapiteln seines Römerbriefs versucht er die bleibende Erwählung Israels und den neuen Bund in Jesus Christus zusammenzudenken, in immer wieder neuen Anläufen findet er immer wieder neue Antworten. Ganz löst es sich – so scheint es mir – nicht auf; es bleiben mehr Fragen als Antworten und der Eindruck: Nicht alles lässt sich eben begreifen und erforschen, so sehr es Herz und Kopf auch ersehnen. Dann der Bruch, die Wende, der Sprung. Am Ende argumentiert Paulus nicht mehr, sondern verharrt im Staunen: O welch eine Tiefe des Reichtums! Paulus hört auf abzuwägen, nachzudenken, immer wieder neue Fragen zu bedenken, er beginnt zu lobpreisen und davon zu singen, wie das Erforschbare im Unerforschlichen aufgehoben wird, wie das Begreifbare dem Unbegreiflichen weicht, wie die Weisheit und die Erkenntnis Gottes alles menschliche Denken und Erfahren übersteigen. „Wir können ihn loben, aber nicht erfassen, denn er ist größer als alle seine Werke“ (Sir 43,28). Am Ende hat Paulus keine Fragen und Zweifel mehr, am Ende steht für ihn eine Gewissheit, festgeschrieben in seinem Herzen: Gott ist alles, Anfang und Ziel von allem, Schöpfer von allem: „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen“.

 

  1. Wie Paulus kommen Menschen immer wieder an die Grenzen des Denkbaren, gerade wenn es um Gott geht. Manchmal ist man gezwungen, sich selbst, seinen Gott, ja vielleicht alles, was trägt, in Frage zu stellen. Wie kann Gott zugleich gerecht und barmherzig sein? Wenn er jedem Täter vergibt, wer setzt dann die Opfer ins Recht? Wie kann ein allmächtiger und barmherziger Gott all das Leid zulassen? All den Krieg, die Katastrophen, die Krisen im Leben und die zum Tod? Diese Fragen sind nicht nur für all die Menschen, die Gott erleiden, bedeutsam, sondern für Gott selbst. Muss und kann er sich rechtfertigen? Muss und kann er sich fragen, hinterfragen oder gar widerlegen lassen? In immer wieder neuen Anläufen finden Glaube und Theologie immer wieder neue Antworten. Ganz löst es sich – so scheint es mir – nicht auf. An jeder Antwort entzündet sich eine neue Frage, an jeder Frage eine Gegenfrage. Die Argumentationen bleiben lückenhaft, die Gedankengebäude brüchig und durch die Fundamente gehen Risse. Wenn man die Maßstäbe menschlicher Logik anlegt, bleibt vieles an Gott unverständlich, ja Gott selbst erscheint nicht selbstverständlich. Wenn das passiert, steht man auf der Grenze –des Denkens, des Glaubens, des Aushaltbaren. Dann bleiben entweder die Ablehnung Gottes oder die Anbetung Gottes. Oder beides. Der Holocaustüberlebende Elie Wiesel berichtet von einer Szene im KZ, wo Gott selbst vor Gericht stellt wird, weil er scheinbar seinen Bund mit Israel gebrochen und all das Leid an seinem erwählten Volk zugelassen hat. „Die Verhandlungen des Tribunals zogen sich lange hin. Und schließlich verkündete mein Lehrer, der Vorsitzender des Tribunals gewesen war, das Urteil: Schuldig. Und dann herrschte Schweigen – ein Schweigen, das mich an das Schweigen am Sinai erinnerte, ein endloses, ewiges Schweigen. Aber schließlich sagte mein Lehrer, der Rabbi: Und nun, meine Freunde, lasst uns gehen und beten. Und wir beteten zu Gott, der gerade wenige Minuten vorher von seinen Kindern für schuldig erklärt worden war.“ (Elie Wiesel).

 

III. Ich kenne solche Momente, in denen mein Denken an Grenzen kommt und ich einfach nur weiß: Gott ist da. Trotz allem. Nur diese Gewissheit hält mich, hält mich im Glauben, hält mich in Gott. Diese Momente, in denen alle Widersprüche sich auflösen, in denen ich aufhöre zu rechten und zu richten, zu verstehen und zugrunde zu gehen. Da lasse ich los, lasse alles von mir abfallen, lasse mich fallen in jene Tiefe, die mich nach oben trägt, bin ganz Ohr, ganz Auge, ganz Herz und mir scheint, als trage alles ein Geheimnis in sich, das sich nur den Glaubenden und Liebenden erschließt. Der Schriftsteller und Philosoph Albert Camus hat einmal einen wunderschönen Satz formuliert: „Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter. Sie reden durch die Sonne und durch den Duft der Wermutsträucher, durch den Silberküraß des Meeres, den grellblauen Himmel, die blumenübersäten Ruinen und die Lichtfülle des Steingetrümmers.“ Wie sehr kann ich seine Worte nachempfinden, wie sehr trösten sie mich und wie sehr wecken sie meinen Trotz, trotz allem nicht an den Klippen des Unerforschlichen zu zerschellen und am Unbegreiflichen zu kentern.

Dann staune ich: Wenn Wolken mit Goldrand die vollen Stunden über die Grenze zur Nacht tragen und ein letzter Sonnenstrahl noch einmal den Duft des Tages ins Herz brennt. Wenn alle Blütenkelche weit und offen atmen und samt-goldene Stunden in meine Hände fallen, einfach so von anderswo. Wenn über den Wiesen die Nebel schwinden wie verspätete Träume, die beim Erwachen auseinanderfallen. Dann lobsinge ich – vielleicht mit belegter Stimme und unbeholfenen Worten, vielleicht mit der Faust in der Tasche und Narben auf meiner Haut, vielleicht verborgen und verschüttet wie eine Sehnsucht, die dem Licht entgegenwächst, wenn sie nur Feuer fängt. Dann bin ich gewiss: Gott ist da – trotz der Dinge, die ich nicht begreifen und erforschen kann, trotz der Dinge, die kaum ertragen und tragen kann, trotz aller Fragen, in allem Verzagen: Ich falle in seine Tiefe, die mich zu neuem Leben trägt.

Am Ende bleiben diese drei, Staunen, Loben und die Gewissheit, dass Gott da ist – und ein neuer Anfang wächst hervor, gewebt aus heiligen Trotz und sanftem Trost, ein Hauch, ein Lied, ein Wimpernschlag. Wie genau, bleibt ein Geheimnis.

Amen.

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dr.martina.janssen@evlka.de

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