Römer 11,(32)33-36

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Römer 11,(32)33-36

„Um sich aller zu erbarmen!“ | Trinitatis | 12.06.2022 | Röm 11,(32)33-36 | Rainer Stahl ǀ

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen!“

 

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

Um unseren Predigttext recht zu verstehen, bedarf es meines Erachtens der Kenntnisnahme wichtiger Gedanken, die vor dem Predigttext stehen und leider nicht empfohlen werden. Ich finde, dass wir sie mit Bedacht lesen sollten:

25a      „Ich will euch nicht im Unwissen lassen, Brüder und Schwestern, über dieses Geheimnis,

b      damit ihr euch nicht für Einsichtsvolle haltet:

c       Verhärtung erging über einen Teil Israels / erging übergangsweise für Israel / Teilweise

Verstockung ist Israel widerfahren – bis die Fülle der Völker hinzugekommen ist

26a      und auf diese Weise das gesamte Israel bewahrt werden wird / gerettet werden wird.

b      Wie geschrieben steht:

»Es wird kommen von Zion der Befreier, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob.«[i]

27a      »Und dieser ist der von mir mit ihnen geschlossene Bund,

b      wenn ich ihre Sünden vergebe.«[ii]

28a      Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen / sind sie entfremdet um

euretwillen.

b      Nach der Erwählung aber sind sie Geliebte auf Grund der Väter.

29        Die Gnadengaben und die Erwählung durch Gott lassen (ihn) nie gereuend sein.

[…]

32a      Eingeschlossen nämlich hat Gott sie alle in den Ungehorsam / in den Unglauben / in das

nicht Überzeugt-Sein,

b      um sich aller zu erbarmen.

33a      Oh Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!

b      Wie unbeschreiblich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!

34a      »Wer hat erkannt den Geist des Herrn?

b      Und wer ist sein Ratgeber geworden?«[iii]

35a      Oder: »Wer hat ihm etwas vorausgegeben,

b      dass es ihm [sogar] zurückgezahlt werden wird?«[iv]

36a      Denn aus ihm und durch ihn und zu ihm ist alles.

b      Ihm sei Ehre in Ewigkeiten! Amen.“[v]

 

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

Diesmal war das Finden einer Predigt eine große Herausforderung. Ich musste viel studieren, viel überlegen. Ich glaube, dass die Mütter und Väter der Tradition, die diesen Text heute zu Trinitatis predigen lassen, uns auf das Geheimnis Gottes hinweisen wollen. Wenn wir dieses Trinitatisfest begehen, können keine einfachen Antworten gegeben werden. Alles, was wir von Gott ahnen können, wird im Geheimnisvollen bleiben, wird unser Verstehen überschreiten:

„Oh Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!

Wie unbeschreiblich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“

„Denn aus ihm und durch ihn und zu ihm ist alles.“

Die beiden entscheidenden Fragen, die Paulus in sein Lied integriert hatte, sind Fragen, auf die nur mit „Nein!“ geantwortet werden kann:

„»Wer hat erkannt den Geist des Herrn?

Und wer ist sein Ratgeber geworden?«“ – natürlich: Niemand!

„»Wer hat ihm etwas vorausgegeben,

dass es ihm [sogar] zurückgezahlt werden wird?«“ – wieder: Niemand!

Wir stehen vor Gott nur mit leeren Händen. Wir sind völlig angewiesen auf seine Zuwendung, auf seine Wahl, auf sein Geschenk.

Dieses großartige Lied des Paulus mutet uns aber noch eine weitere Herausforderung zu: Es ging Paulus gar nicht um allgemeine Überlegungen zu Gott. Es ging ihm um eine für ihn existenzielle Herausforderung. Zu ihr hatte er dieses Lied als Zusammenfassung, als Resümee geschrieben: Wie ist das Verhältnis von den Christen – von den Christen aus heidnischen Völkern und von den Christen aus dem Judentum – zu den jüdischen Nachbarn, die sich nicht zu Christus bekennen? Es ging ihm also um seine eigene Herausforderung – für ihn als Juden und als Christ.

Deshalb habe ich einige Verse davor aufgeschlagen, um mir diese Herausforderung deutlich zu machen:

„Verhärtung erging über einen Teil Israels / erging übergangsweise für Israel /

Teilweise Verstockung ist Israel widerfahren – bis die Fülle der Völker hinzugekommen ist

und auf diese Weise das gesamte Israel bewahrt werden wird / gerettet werden wird. […]

Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen / sind sie entfremdet um

euretwillen.

Nach der Erwählung aber sind sie Geliebte auf Grund der Väter.

Die Gnadengaben und die Erwählung durch Gott lassen (ihn) nie gereuend sein. […]

Eingeschlossen hat Gott nämlich sie alle in den Ungehorsam / in den Unglauben / in das

nicht Überzeugt-Sein,

um sich aller zu erbarmen.“

Wieder ist die Schlusserkenntnis ganz entscheidend: Gott zeigt sein Wesen darin, dass er sich erbarmt, dass er niemanden zurückweist, dass er alle aufnimmt – kommen sie als bisher Fremde zu ihm oder als schon Bekannte. Das ist die eigentliche und wesentliche Botschaft dieses Abschnitts des Paulusbriefes: „um sich aller zu erbarmen“. Und darauf können wir nur mit einem Lied, einem Lobgebet antworten, wie Paulus es getan hat:

 

„Denn aus ihm und durch ihn und zu ihm ist alles.“

„Ihm sei Ehre in Ewigkeiten!“

 

Vielleicht vor 40 Jahren hatte mir ein Oberkirchenrat meiner Thüringer Heimatkirche – wir würden heute Regionalbischof sagen – einen wichtigen Rat gegeben: Nicht nur neutestamentlich oder alttestamentlich zu einem Predigttext arbeiten, auch nicht nur praktisch-theologisch, sondern immer auch prüfen, ob und wenn ja, wie, das Bibelwort in unseren evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften vorkommt. Deshalb prüfe ich häufig das Register meiner Ausgabe dieser Bekenntnisschriften. Diesmal mit einem hochinteressanten Ergebnis:

Der Satz „Eingeschlossen hat Gott nämlich sie alle in den Ungehorsam / in den Unglauben / in das nicht Überzeugt-Sein, um sich aller zu erbarmen“ ist eine Belegstelle für einen wichtigen Gedanken im Konkordienbuch aus dem Jahr 1580: „Darum müssen wir, wenn wir unsere ewige Wahl zur Seligkeit nützlich betrachten wollen, in jedem Fall standhaft und fest darüber wachen, dass auf dieselbe Weise wie die Predigt der Buße auch die Verheißung des Evangeliums universal ist und sich auf alle Menschen erstreckt.“[vi] Sofort hatte mich der Gedanke überwältigt: Wer diese Bekenntnisschrift gekannt und anerkannt hatte, war also gefeit gewesen vor der Irrlehre der „Deutschen Christen“! Natürlich ist das Staunen der Reformatoren um Martin Luther darüber verständlich, dass diese geistliche Einsicht uns Deutschen geschenkt worden war! Aber eingrenzen auf uns Deutsche und uns Deutsche deshalb besonders verherrlichen – das dürfen wir nicht, denn diese Einsicht „ist universal und erstreckt sich auf alle Menschen“!

Mir war in meinem Leben eine ganz besondere Chance geboten worden, bei der ich diese Universalität unseres Glaubens erleben und erfahren konnte: Von 1982 bis 1985 habe ich im Auftrag unserer evangelisch-lutherischen Kirchen in der DDR beim Lutherischen Weltbund in Genf gearbeitet – und war im Februar 1985 natürlich in meine Thüringer Heimatkirche und in die DDR zurückgekehrt. Ein wichtiger Zweck dieser Arbeit war die Mitwirkung an der Siebenten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes, die im Juli und August 1984 in Budapest stattfand. Da konnte ich etwas miterleben und nachbereiten, was es vielleicht bisher noch nicht wieder in einer kirchlichen Weltversammlung gegeben hat – jedenfalls habe ich von etwas Vergleichbaren nichts gehört –: ein großes Referat eines Vertreters des Judentums zum Thema „Die Kirche und das jüdische Volk“. Der Genfer Dr. Gerhart Riegner, damals Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses i.R., hatte sein Referat gerahmt – gerahmt mit zwei Segenswünschen in hebräischer Sprache. Nach der Vollversammlung konnte ich ihn anschreiben und um eine Dokumentation dieser Segenswünsche bitten, damit sie mit veröffentlicht werden konnten. Im November teilte er mir diese Segenswünsche genau mit. Da erst begriff ich richtig, was das für gesegnete Momente waren: Über unserer evangelisch-lutherischen, über unserer christlichen Versammlung hebräische, jüdische Segensworte! Daran muss ich heute vor dem Hintergrund der Gedanken von Paulus und seinem besonderen Lied

„Oh Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!“

„Denn aus ihm und durch ihn und zu ihm ist alles“

extra erinnern und meine Predigt mit diesen Segensworten schließen, die ja auch uns heute, unserer Gottesdienstgemeinschaft gelten:

«ברוך אתה אדני אלוהינו מלך העולם שהחיינו וקימנו והגיענו לזמן הזה» / „Baruch ’attah ’adonaj ’älohenu mäläch hacolam schähächejjanu weqijemanu wehiggicanu lazzeman hazzäh“ – „Gepriesen seist du, o Herr, unser Gott, König der Ewigkeit, der du uns am Leben erhalten hast, uns bewahrt hast und uns diese Zeit hast erreichen lassen.“

Und:

«עושה שלום במרומיו הוא יעשה שלום עלינו ועל כל באי עולם» / cosäh schalom bimromaw, hu’ jacassäh schalom calenu wecal kol bo’e  colam“ – „Möge der, der Frieden schafft in seiner Höhe, uns und allen Menschen Frieden bringen!“[vii]

Amen.

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“

Liedvorschläge:

EG 64: „Der du die Zeit in Händen hast…“

EG 379: „Gott wohnt in einem Lichte…“ – Also zwei Lieder von Jochen Klepper, der in der Nacht vom 10. zum 11. Dezember 1942 zusammen mit seiner Frau und deren Tochter in den Tod gegangen war, weil Tochter und Frau nicht vor der Deportation bewahrt wurden.

Dr. Rainer Stahl

Erlangen

rainer.stahl.1@gmx.de

[1951 geboren, Studium der Theologie in Jena, dort Forschungsstudent und Assistent im Alten Testament, 1981 ordiniert, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, zwei Jahre lang Einsatz beim Lutherischen Weltbund in Genf, dann Pfarrer in Altenburg, Alttestamentler an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, Referent des Thüringer Landesbischofs in Eisenach, seit 1998 Dienst für den Martin-Luther-Bund (das lutherische Diasporawerk) in Erlangen, seit 1. April 2016 im Ruhestand.]

[i]  Vgl. Jesaja 59,20 – nach der Septuaginta, aber in veränderter Reihenfolge.

[ii]  Vgl. Jeremia 31/38,33a und Jesaja 27,9a – jeweils nach der Septuaginta.

[iii]  Vgl. Jesaja 40,13 – nach der Septuaginta.

[iv]  Vgl. Hiob 41,3 – nicht wörtlich nach der Septuaginta.

[v]  Grundlagen dieser Übersetzung sind:

Novum Testamentum Graece, 28. Revidierte Auflage, Stuttgart 2012.

Die Bibel, Lutherbibel revidiert 2017, Stuttgart 2016.

BasisBibel, Stuttgart 2021.

Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Klaus Berger und Christiane Nord, Leipzig 52001.

Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006.

Das Neue Testament – jüdisch erklärt, Stuttgart 2021, korrigierter Druck 2022.

Ernst Käsemann: An die Römer, Berlin 1978 (Nachdruck der 3. Auflage 1974).

Nach / werden Verstehensvarianten angegeben, besonders diejenigen, die von jüdischer Seite vorgelegt worden sind.

[vi]  Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Gütersloh 2013, S. 895.

[vii]  Vgl.: Carl H. Mau (Hg.): Budapest 1984. „In Christus – Hoffnung für die Welt“. Offizieller Bericht der Siebenten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes, LWB-Report Nr. 19/20, Februar 1985, S. 151 und 155.

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