Römer 11, 32-36

Römer 11, 32-36

Gott schreibt Geschichte mit Menschen und Völkern | Trinitatis | 12.06.2022 | Röm 11,32-36 | Paul Wellauer |

Psalmgebet im Wechsel Psalm 93 | Der Herr ist König | Die Bibel nach Martin Luther, 2017**) |

I 1 Der HERR ist König und herrlich gekleidet; der HERR ist gekleidet und umgürtet mit Kraft.
Fest steht der Erdkreis, dass er nicht wankt.

II 2 Von Anbeginn steht dein Thron fest; du bist ewig.

I 3 HERR, die Fluten erheben, die Fluten erheben die Stimme, die Fluten erheben ihr Brausen.

II 4 Mächtiger als das Tosen grosser Wasser,
mächtiger als die Wellen des Meeres ist der HERR in der Höhe.

I 5 Deine Zeugnisse sind wahrhaftig und gewiss;
Heiligkeit ist die Zierde deines Hauses, HERR, für alle Zeit.

I+II AMEN

Lesung Altes Testament | Hiob 42,1-6 | Hiobs letzte Antwort an den Herrn| Die Zürcher Bibel, 2007***)

1 Da antwortete Hiob dem HERRN und sprach:

2 Ich weiss, dass du alles vermagst. Nichts, was du willst, ist dir unmöglich.

3 Wer behauptet ohne Einsicht, mein Walten sei finster? Darum habe ich vorgebracht, was ich nicht verstehe, was zu wunderbar ist für mich und was ich nicht begreife.

4 Höre, und ich will reden, ich will dich fragen, und du lehre mich!

5 Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich gesehen.

6 Darum gebe ich auf und tröste mich [1 Möglich ist auch die Übersetzung: „Darum widerrufe ich und bereue …“] im Staub und in der Asche.

 

Lesung Predigttext Neues Testament | Römer 11,32-36| Die Zürcher Bibel, 2007***)

32 Denn Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um allen seine Barmherzigkeit zu erweisen.

33 O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen und unerforschlich seine Wege!

34 Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?

35 Wer hat ihm etwas geliehen, und es müsste ihm von Gott zurückgegeben werden?

36 Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist alles. Ihm sei Ehre in Ewigkeit, Amen.

Selig ist jeder Mensch, der Gottes Wort hört, in seinem Herzen bewahrt und danach handelt. Amen

 

Liebe Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern, verbunden in der Gnade und Liebe Gottes

  1. Gott schreibt Menschengeschichten

Zu den schönsten Aufgaben im Pfarramt zähle ich die Geburtstagsbesuche bei Gemeindegliedern, die 80, 90 oder gar 100 Jahre alt werden. Ich finde es faszinierend, wenn sie aus ihrem Leben erzählen, insbesondere von Kindheits- und Jugenderfahrungen, die weit vor meiner Geburt liegen. Sie berichten, wie sie die Kriegs- und Nachkriegsjahre erlebt haben, welche Veränderung der erste Telefonanschluss in der Nachbarschaft bedeutete, das erste Fernsehgerät oder das erste eigene Auto. Bald jeder Jugendliche im Teenageralter trägt heute sein Mobiltelefon mit sich und kann sich kaum vorstellen, dass die Grosseltern für ein Telefongespräch zu einem Nachbarn gehen mussten. In wenigen Jahrzehnten veränderte sich so Vieles, wie kaum je zuvor. Mir helfen solche Begegnungen, unsere schnelllebige Zeit in grösseren Zusammenhängen zu sehen: Wie lebten unsere Vorfahren vor 100 und mehr Jahren? Welches waren ihre grössten Sorgen und Herausforderungen? Wie haben sie ihr Leben gestaltet, wie haben sie Glauben, Kirche, das gesellschaftliche Miteinander erlebt? Bei solchen Gesprächen und Überlegungen wächst in mir Dankbarkeit für alle Fortschritte, die seither medizinisch, sozial und technisch möglich waren. Und auch Ehrfurcht schwingt mit für die Generationen, die unter weit schwierigeren Rahmenbedingungen ihr Leben bewältigen mussten.

 

  1. Gott schreibt Heilsgeschichte

Der Apostel Paulus erzählt uns im Abschnitt aus dem Römerbrief, über den wir heute nachdenken, zwar nicht von Geburtstagsbesuchen bei Betagten, aber Ehrfurcht und Dankbarkeit, Staunen und das Nachdenken über die grossen Zusammenhänge des Lebens und Glaubens bestimmen seine Ausführungen. Seine Sätze sind der Abschluss von drei Kapiteln des Römerbriefes (Kapitel 9-11), in denen Paulus zurückblickt auf Gottes Geschichte mit dem Volk Israel. Über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg hat Gott dem jüdischen Volk seine Treue, Güte und Barmherzigkeit immer und immer wieder gezeigt. Er hat das Volk erwählt, befreit, geführt, gesegnet, ihm Land und Nachkommenschaft verheissen und geschenkt. Für ihr Zusammenleben hat er dem Volk durch Mose seine Gebote und Weisungen gegeben, in schwierigen Momenten haben Richter und Propheten im Namen Gottes gesprochen und gewirkt, so dass es auch in bedrängten Zeiten immer einen Ausweg gab. Gott hat mit seinem ersterwählten Volk Geschichte geschrieben, Heilsgeschichte.

Und nun hat sich Gott seinem Volk und der ganzen Welt in ganz besonderer und einzigartiger Weise gezeigt in seinem Sohn Jesus Christus, der von einigen Juden als der erwartete Messias wahrgenommen wird: Der Erlöser, der den Menschen Gnade und Gerechtigkeit schenkt, jenseits ihrer Gesetzesfrömmigkeit und Werkgerechtigkeit. Als guter, gelehrter, frommer Jude hat Paulus diese neue Lehre zunächst vehement bekämpft, die Anhänger von Jesus verfolgt und ins Gefängnis stecken lassen. Erst als er selbst eine besondere persönliche Begegnung mit dem auferstandenen Jesus Christus hat, ändert er seine Meinung um 180 Grad und wird vom Verfolger zum Verfechter der christlichen Lehre. Paulus wünscht sich nichts mehr, als dass seine Volksgenossen auch den «neuen Glauben» annehmen. Zu Beginn der drei Kapitel drückt er dies recht drastisch aus: «Ja, ich wünschte, selber verflucht und von Christus getrennt zu sein, anstelle meiner Brüder, die zum gleichen Volk gehören, …» Römer 9,3 Paulus wäre bereit, sein persönliches Heil, sein ewiges Leben, seine Rettung dafür zu opfern, damit das jüdische Volk das Evangelium von Jesus Christus annehmen würde. Es bricht ihm fast das Herz, dass wenige seinem Beispiel folgen und den Glauben an Jesu Gnade finden.

Paulus kommt zum Schluss, dass dies nicht nur menschliche Ursachen hat, sondern Gott ist es, der entscheidet, wen er erwählt oder verstockt: «Es liegt also nicht an jemandes Wollen oder Mühen, sondern an Gott, der sein Erbarmen zeigt.» (Römer 9,16.18)

 

  1. Gott schreibt Völkergeschichte

Stattdessen sind es fremde Völker, die sich von dieser neuen Botschaft ansprechen und retten lassen: «Was folgt nun daraus? Die Völker, die der Gerechtigkeit nicht nachgejagt sind, sie haben Gerechtigkeit erlangt – eine Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt.» (9,30) Israel stösst sich am «Stein des Anstosses» (Römer 9,31-32), eine Mehrheit kann sich nicht vorstellen, dass einer wie Jesus der Messias sein soll. Sie bleiben auf ihrem vertrauten Weg: Das jüdische Volk, Paulus’ Brüder und Schwestern, bemühen sich sehr um Gerechtigkeit, doch «Ziel und Ende des Gesetzes nämlich ist Christus, zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt.» (Römer 10,4)  Paulus findet beim Propheten Jesaja Hinweise dafür, dass andere Völker Gottes Heil und Hoffnung auch oder sogar eher finden als das eigene Volk: «Und Jesaja hat die Kühnheit zu sagen: Ich wurde gefunden bei denen, die nicht nach mir suchten, ich habe mich gezeigt denen, die nicht nach mir fragten.» (Römer 10,20) Für Paulus ist aber klar: Gott hat sein Volk, das er zuvor erwählt hat, nicht verstossen. (Römer 11,2a) Wie in vielen früheren Krisenzeiten hat Gott «einen Rest» aus Gnade erwählt und gerettet, die übrigen sind verstockt. (Römer 11,5-10) Längerfristig wird diese «Verstockung», dieser «Schaden» des Volkes Israel zum «Gewinn» für die anderen Völker: Ihnen wird die frohe Botschaft gepredigt, sie finden zum Glauben, zur Gnade, zum Heil. – Und dies kann umgekehrt wiederum dem Volk Israel dienen, indem Paulus und andere sie damit eifersüchtig machen, um «einige von ihnen zu retten». (Römer 11,14) Mit einem alttestamentlichen Bild für das Volk Israel, dem Ölbaum (vgl. Jesaja 11,16), will Paulus deutlich machen, wie Gottes ursprüngliches Volk und die neuen Völker miteinander verbunden sind: Die neuen Völker werden wie wilde Zweige in den ursprünglichen Ölbaum Gottes eingepfropft, neben und an Stelle der bisherigen Zweige. Das soll die Dazugekommenen nicht überheblich, sondern demütig machen, denn «Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich!» (Römer 11,18b) Oder in anderen Worten: Unser christlicher Glaube wurzelt in der Geschichte Gottes mit seinem ersterwählten Volk. Wir sollen dieses Volk, seine Geschichte und seinen Glauben ehren und achten, auch wenn es den Messias in Jesus Christus (noch) nicht erkennt.

Und dann setzt Paulus zu einer Zukunftsaussicht an, in welcher nach allen übrigen Völkern auch das Volk Israel sich dem Evangelium und Heil von Jesus Christus zuwendet und Rettung erfährt.  «Denn unwiderrufbar sind die Gaben Gottes und die Berufung.» (Römer 11,29) Gott hat das Volk Israel erwählt, dies ist nicht rückgängig zu machen. Auch wenn sie von Paulus als «Ungehorsame» wahrgenommen und deklariert werden: Sie werden Barmherzigkeit von Gott erhalten. «Denn Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um allen seine Barmherzigkeit zu erweisen.» (Römer 11,31)

 

  1. Gott schreibt Geschichte – über unser Verstehen und Erfassen hinaus

Mit den Worten, die wir in der Lesung gehört haben, schliesst Paulus seine Gedanken zu seinem Volk ab. Er ist überwältigt von Gottes grossen Plänen, von Gottes Weisheit und Erkenntnis. Und er gesteht sich und allen Leserinnen und Zuhörern zu: Gottes Wege sind unerforschlich, zu hoch für unseren Verstand, unsere Einsicht! Paulus ist sich auf Grund seiner fundierten theologischen Ausbildung und seiner Lebenserfahrung gewohnt, komplexe Sachverhalte und Fragen aufzuschlüsseln und zu erklären. Doch hier streckt er seine argumentativen Waffen, legt sein Kopfwissen bei Seite und begegnet Gott mit dem Staunen und der Ehrfurcht eines Menschen, der einsieht, dass Gott weit grösser ist, als er mit seinem menschlichen Verstand erfassen oder erahnen kann.

Statt Antworten und Argumenten bleiben ihm Fragen und Sprachlosigkeit.

Paulus zitiert Sätze von Hiob und Jesaja, die am Ende ihres Rechtens und Lamentierens mit Gott ähnliche Einsichten machen durften: Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13) Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?« (Hiob 41,3) (Römer 11,34-35)

Und als Schlussakkord und Zusammenfassung seiner Erläuterungen zu Gottes Heils- und Völkergeschichte jubelt Paulus: «Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist alles. Ihm sei Ehre in Ewigkeit, Amen.» (Römer 11,36)

 

  1. Lass Gott deine Geschichte weiterschreiben

Auf dem Nachhauseweg von den am Anfang erwähnten Geburtstagsbesuchen frage ich mich jeweils: Welche grossen Linien erkenne ich im Leben der Person, die ich besucht habe? Was war für ihr Leben prägend, erfüllend, bestimmend? Wie hat sie Herausforderungen bewältigt? Was wird in nachfolgenden Generationen von ihrer Liebe und ihren Werten weiterleben?

Unter diesen Blickwinkeln könnten wir auch Paulus’ Ausführungen über Gottes Geschichte mit seinem ersterwählten Volk, seiner Geschichte mit den Völkern und mit uns betrachten.

Die grossen Linien, die Gottes Weg mit seinem ersten und allen weiteren Völkern prägt, sind Treue und Gnade, Barmherzigkeit und Freiheit, weise Regeln und Liebe, seine Nähe und eine Grosszügigkeit in allen Dingen, die immer wieder in Staunen versetzen kann. Gott denkt und zeichnet in grossen Linien – vergisst aber kein Detail und keinen Menschen.

Prägend für die Geschichte der Menschen mit Gott war dagegen, dass sich die Menschen stetig auflehnten, abwendeten, verstockt und unbelehrbar zeigten. Paulus vermutet, dass dies von Gott selbst beeinflusst wird. (Vgl.  Römer 9,18)

Damit die Menschen und Völker die daraus entstehenden Herausforderungen bewältigen konnten, hat Gott immer wieder Menschen berufen und begabt, welche auf Gottes Wege hinwiesen und zurückführten. Auch Paulus ist einer dieser Berufenen und Begabten. Seine Not teilt er mit vielen anderen vor ihm: Viele wollen nicht hören und einsehen, was Gott für sie bereithält. Stattdessen haben sie tragische Konsequenzen zu tragen.

Was bleibt von den Werten und der Liebe, die Paulus der christlichen Gemeinde in Rom und der Christenheit seither weitergegeben hat? Die Beantwortung dieser Frage bietet Stoff für eine ganze Predigtreihe – und für die ganz persönliche Überlegung: Welche Einsichten für meine persönliche Glaubensgeschichte verdanke ich den Briefen von Paulus? Welche seiner Sätze sind für meine Geschichte mit Gott erhellend, befruchtend, ermutigend?

Für mich persönlich nehme ich aus dem heutigen Abschnitt den alles zusammenfassenden Schlusssatz mit: (Römer 11,36) «Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist alles. Ihm sei Ehre in Ewigkeit, Amen.»

Alternative Lesungen Altes Testament

Jesaja 40,12 – 31 Der Gott Israels ist unvergleichlich

Jesaja 55,6-13 Gottes wunderbarer Weg

Alternative Psalmgebete

Psalm 8 Was ist der Mensch ERG 107*) / Die Herrlichkeit Gottes und die Grösse des Menschen ERG 108*) oder LUT2017**)

Psalm 19 Der Himmel erzählt die Herrlichkeit Gottes ERG 110*) / Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung und in seinem Gesetz LUT2017**)

Psalm 145 Gottes ewige Güte**) Dein ist das Reich***)

Liedvorschläge

ERG 56 König ist der Herr

ERG 162 Gott ist gegenwärtig

ERG 244 Brunn alles Heils

ERG 346Bewahre uns Gott

ERG 408 Dies ist der Tag, den Gott gemacht

ERG 509 Komm, o komm, du Geist des Lebens

ERG 529 Laudato Si

RW 23 Du grosser Gott

RW52 Anker in der Zeit

RW 77 Lebensgrund

*) ERG = Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz, © Friedrich Reinhard Verlag Basel, & Theologischer Verlag, Zürich 1998

RW = Rückenwind, Lieder für den Gottesdienst, Hrsg. Evang Landeskirche des Kantons Thurgau, Theologischer Verlag, Zürich 2017

**) Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

***) Die Zürcher Bibel, Ausgabe 2007, © Friedrich Reinhard Verlag Basel, & Theologischer Verlag, Zürich

Pfr. Paul Wellauer, Bischofszell, Schweiz

E-Mail: paul.wellauer@internetkirche.ch

Web: www.internetkirche.ch | www.internetkirche.ch/livestream

Paul Wellauer, geb. 1967, Pfarrer und Mitglied im Kirchenrat der evangelischen Landeskirche des Kantons Thurgau, Schweiz. Seit 2009 in Bischofszell-Hauptwil, 1996-2009 in Zürich-Altstetten, davor 1993-1996 Seelsorger und Projektleiter in der Stiftung Sozialwerke Pfr. Ernst Sieber, Zürich

Fotos: © Paul Wellauer

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