Römer 13, 8-12

Römer 13, 8-12

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


1.
Advent

28. November 1999
Römer 13, 8-12

Dietz Lange


Predigt über Röm. 13,8-12: „Die in der Nacht vom Tage
reden“
1.Advent 1999, Universitätsgottesdienst, St.Nikolai
Göttingen

Liebe Gemeinde!

I.

„Die jungen Leute von heute wollen nichts mehr leisten. Die haben
es zu gut. Als wir jung waren, da mussten wir noch richtig ran! Da herrschte
noch Zucht und Ordnung. Auch Kirche und Theologie waren noch intakt.“ So
pflegen Angehörige meiner Generation häufig zu reden. Sie kennen das.
Als ob der Konkurrenzkampf heute in allen Berufen nicht extrem hart wäre.
Als ob die Aufbauzeit der 50er Jahre nicht auch von der Verdrängung der
nationalsozialistischen Vergangenheit und von den vielen alten Seilschaften in
führenden gesellschaftlichen Positionen geprägt gewesen wäre.
Als ob Theologie und Kirche unter den heftigen Richtungstreitigkeiten der Zeit
nicht auch mächtig zu leiden gehabt hätten. Vielleicht sind solche
Schönrednereien nur eine Frage des Gedächtnisses. Wenn wir versuchen,
uns zu erinnern, dann müsste uns doch eigentlich einfallen, was wir damals
ständig zu hören bekamen: „Ja, zu meiner Zeit, da wurde uns nichts
geschenkt. Was wir da leisten mussten, davon macht sich die Jugend von heute
keinen Begriff. Und klare Maßstäbe, die gab es damals auch noch!“
Wie vertraut! Die so genannte gute alte Zeit war für die damals
ältere Generation die Weimarer Republik mit ihrem antidemokratischen
Ressentiment und ihrem wachsenden politischen Extremismus.

Aber vielleicht sind solche Altersreden doch nicht nur eine Frage
des Gedächtnisses, sondern auch ein psychologisch verständlicher
Vorgang: Wer mein Alter erreicht hat, dem passiert es allzu leicht, dass er die
Stimmung, die durch den Rückgang des eigenen Einflusses und
allmählich auch der eigenen Kräfte entsteht, in die Zeitdiagnose
einfließen lässt. So werden wir zu Leuten, die mitten am Tage von
der Nacht reden, und zwar von einer Nacht, die nicht mehr aufhören wird.
Universität und Kirche, Politik und Wirtschaft – alles nur noch ein
einziger Trümmerhaufen? Immerhin wären es dann ja wir, die diesen
Trümmerhaufen hinterlassen hätten!

Nun fällt allerdings auf, dass Pessimismus heute nicht nur
eine Sache des Alters ist. „No future“ ist schon durch seine neudeutsche Form
als Jugend-Slang ausgewiesen. Das Ausbleiben der einst versprochenen
„blühenden Landschaften“, das Zerbröckeln des sozialen Kitts in
vielen Bereichen der Gesellschaft, die anhaltende Arbeitslosigkeit, die
Bedrohung der Altersversorgung und des Gesundheitssystems, Angst vor
ökologischen Katastrophen, das alles sorgt für eine weit verbreitete,
durch die Jahreszeiten hindurch anhaltende Novemberstimmung in unserem Land,
quer durch die Generationen. Längst verflogen der Aufbruchs-Elan der 70er
Jahre, als man den „Muff der 1000 Jahre“ fortkehren wollte und meinte, das
sozialistische Paradies auf Erden schaffen zu können. Stattdessen die
Sorge, in den weltweit im Gang befindlichen Umbrüchen die Orientierung zu
verlieren und den Anschluss zu verpassen. Hat also der Alterspessimismus dieses
Mal doch Recht? Persönlich weigere ich mich, das zu glauben, aber die
Frage bleibt offen. Wer wollte eine Prognose wagen?

II.

Mitten in diese Überlegungen hinein trifft der Satz des
Paulus: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe.“ Aus einer
zeitgeschichtlichen Analyse ist er allerdings nicht hervorgegangen. Der nahe
Tag ist der Tag der Wiederkunft Christi, den man damals für unmittelbar
bevorstehend hielt. Das scheint uns nun heute freilich am allerwenigsten
weiterzuhelfen. Das „Kommen des Menschensohns in den Wolken“, ist das nicht
bloß eine alte mythologische Vorstellung, die für uns
unwiederruflich vergangen ist? Sofern wir Christen sind, freuen wir uns in
dieser Adventszeit auf Weihnachten – nicht auf den kommerziellen Rummel, der
mit dem Verkauf von Schokoladen-Weihnachtsmännern ja schon vor Wochen
eingesetzt hat, sondern auf das Fest der Liebe. Da ist noch christliche
Substanz zu greifen. Aber die Wiederkunft Christi am Ende der Zeit – nachdem
ohnehin der Zeitpunkt, den man damals dafür ins Auge gefasst hatte,
längst vorüber ist?

Wir müssen uns klar machen, dass Paulus in Bildern redet. Das
versteht sich bei diesem Thema eigentlich von selbst. Auch die Bestimmung eines
Zeitpunktes für Christi Wiederkehr gehört auf die Bildseite. Worauf
es ankommt, ist das, was der Tag bringen soll, von dessen Nähe hier bei
vorgerückter Nacht gesprochen wird. Der Tag ist schon dabei anzubrechen,
das heißt: Jesus ist dem Glaubenden schon jetzt gegenwärtig. Er
begegnet uns zunächst in der Erinnerung an sein Wirken während seiner
Lebenszeit in Palästina, in seinen uns heute unmittelbar anrührenden
Gleichnissen, in seiner uns inspirierenden Lebensführung. Dabei ist er uns
nicht bloß ein großes Vorbild. Im Glauben vernehmen wir in seinen
Worten und in seinen Taten die Stimme Gottes. Die übergreift die Zeiten.
Wenn Jesus damals öffentlich die Liebe Gottes verkündet hat, die
Menschen ihre Gottlosigkeit vergeben will, so gilt das auch uns. Dafür hat
Jesus sein Leben eingesetzt. Gott hat ihn nicht im Tod bleiben lassen, das
heißt: er hat ihn nicht nur für unsere Erinnerung, sondern für
unseren Glauben und damit für unser ganzes Leben zur Brücke zu sich
selbst gemacht. Durch Jesu Gegenwart für den Glauben soll Gottes Liebe uns
heute zukommen. Das betrifft unser Leben jetzt und auch unsere Zukunft.

III.

Was verändert sich durch solchen Glauben? Sicher nicht
automatisch die äußeren Verhältnisse, in denen wir leben. Die
politischen und wirtschaftlichen Probleme und die privaten Sorgen bleiben uns
erhalten. Aber unsere Einstellung zu ihnen verändert sich. Weder der
griesgrämige Spruch der Alten „Wir mussten damals richtig ran“ noch das
blauäugige Versprechen der Jungen „Wir schaffen eine bessere Welt“
zählen. Paulus nennt das die „Werke des Gesetzes“. Als Christen sollen wir
nicht so „gesetzlich“ leben, d. h. das, was wir für andere tun, nicht als
eine Art Pflichtübung absolvieren. Zwar werden die gesellschaftlichen
Leistungsanforderungen nicht geringer. Und es gibt auch nach wie vor feste
Maßstäbe des Lebens; Paulus zitiert ganz traditionell die 10 Gebote.
Aber all das erscheint in einem neuen Licht, im Licht der Liebe Gottes, die uns
innerlich frei macht von dem Zwang, uns ständig beweisen zu müssen.

Gottes Liebe lässt es hell werden für uns. In ihrem
Licht können wir uns sicher fühlen, so wie wir uns ja auch in
menschlicher Liebe sicher fühlen. Aber im Unterschied zu menschlicher
Liebe ist Gottes Liebe absolut verlässlich. Das lässt uns unsere Zeit
gelassen beurteilen, ohne die generationsbedingten Vorurteile. Daraus ergibt
sich ein differenziertes Bild von Chancen und Gefahren. So hat Paulus in diesem
13. Kapitel des Römerbriefs auf der einen Seite die Missstände und
die Zügellosigkeit der Gesellschaft seiner Zeit schonungslos geißeln
können, auf der anderen Seite aber hat er die Leistung der römischen
Regierung, für öffentliche Ordnung und friedliches Zusammenleben
ihrer Bürger zu sorgen, voll anerkannt und die christliche Gemeinde
aufgerufen, sie in dieser Hinsicht durch Befolgen der Staatsgesetze zu
unterstützen.

Der Ton liegt allerdings in den Sätzen, mit denen wir uns
heute morgen beschäftigen, auf den Konsequenzen für die christliche
Lebensführung. Die „Waffen des Lichts anlegen“, oder auch einfach „den
Herrn Jesus Christus anziehen“, das bedeutet, das praktische Leben ganz von
Gottes Liebe bestimmen zu lassen. Das Licht der göttlichen Liebe ist uns
sozusagen mit der Taufe bereitgestellt worden. Wenn es denn überhaupt noch
brennt, so muss es für alle sichtbar leuchten.

Paulus fasst das genauso wie Jesus in der Aufforderung zusammen:
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Das klingt sehr einfach. Ich soll
anderen Menschen zuteil werden lassen, was ich mir für mich auch
wünsche. Nicht zu viel, nicht zu wenig, ein gesundes Mittelmaß. Das
überfordert niemanden, ermöglicht ein spannungsfreies Zusammenleben.
Aber stimmt das so? Vom gesunden Mittelmaß kann ich nicht leben. Jeder
Mensch braucht mindestens von einigen anderen volle Offenheit und ganze
Hingabe.

Sich selbst zu lieben heißt nichts anderes, als solche Liebe
von anderen zu erwarten. So soll dann also auch unsere Liebe zu unseren
Nächsten aussehen. Zu diesen Nächsten gehören auch die uns
weniger angenehmen Zeitgenossen, ja sogar unsere Feinde, wie Jesus in seiner
Radikalität gefordert hat. Geht denn das? Wenn wir es genau nehmen,
fällt es uns schon den uns am nächsten stehenden Menschen
gegenüber oft schwer, uns so intensiv auf ihre andere Art zu sein
einzustellen, sie so rückhaltlos zu lieben. Welcher Mann würde schon
von sich behaupten wollen, er sei seiner Frau immer völlig gerecht
geworden, und welche Frau würde das von ihrem Verhältnis zu ihrem
Mann sagen? Den anderen Menschen so zu lieben wie man sich selbst immer schon
liebt, das ist in Wahrheit eine unendliche Aufgabe. Und wenn es dann auch noch
um Menschen geht, die einem das schwer machen …

Wenn wir die Liebe aus unserem eigenen guten Willen und aus
unserer eigenen Kraft schöpfen sollten, wäre es geradezu
unmöglich, unseren Nächsten wirklich so zu lieben, wie wir uns selbst
lieben. Aber die „Waffen des Lichts“, die wir anlegen sollen, sind nicht
selbstgeschmiedet. Es ist die Liebe Gottes, die uns annimmt und die uns so
überhaupt erst erlaubt, dass wir auch uns selbst annehmen, uns selbst
lieben. Wenn wir uns von Gottes Liebe tragen lassen, dann ist das zwar sicher
keine Garantie dafür, dass uns fortan das Leben mit unserer Familie, mit
Freunden und Kollegen oder gar mit Neidern und Gegnern perfekt gelingen werde.
Doch schafft sie immer wieder durchgreifende Klimaveränderungen zwischen
Menschen, so dass auch unsere „Nächsten“ merken können, dass „der Tag
nahe ist“.

IV.

Um diese Liebe Gottes, die mit Jesus in dieWelt gekommen ist und
sich seither bis zu uns ausgebreitet hat und durch uns weiterwirken soll, um
die geht es in der Adventszeit, der Zeit der Vorbereitung auf das Fest der
Geburt Jesu. Diese Liebe trägt ein Leben lang und noch über den Tod
hinaus; der nahe Tag ist letztlich die uns unvorstellbare Vollendung der
Gemeinschaft mit Gott. Aber mit dem Kommen Jesu ist der Tag bereits
angebrochen. Das ist das Licht, auf das wir symbolisch mit den Adventskerzen
hinweisen. Wenn wir ihm folgen, dann wird der trübe Nebel der
gegenwärtigen Novemberstimmung durchlässig für das Kommen
Christi und seine lebensverändernde Macht. „Die Nacht ist vorgerückt,
der Tag ist nahe“.

Amen.

Prof. Dr. Dietz Lange,
Insterburger Weg 1 Göttingen Tel.
0551-75455


de_DEDeutsch