Römer 14, 7-13

Römer 14, 7-13

Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: 4. S. nach Trinitatis
Datum: 5.7.1998
Text: Römer 14, 7-13
Verfasser: Dr. Hinrich Buß


Predigt zum 1000-jährigen Kirchweihjubiläum der St. Lambert-Kirche
zu Hevensen

Predigttext: Römer 14, 7-13

„Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben
wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: Wir
leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und
wieder lebendig geworden, daß er über Tote und Lebende Herr sei.

Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen
Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es
steht geschrieben: „So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich
alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.“

So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.

Darum laßt uns nicht mehr einer den anderen richten, sondern richtet
vielmehr darauf euren Sinn, daß niemand seinem Bruder einen Anstoß
oder Ärgernis bereite.“

Liebe Festgemeinde,

„Keiner lebt sich selber“, vielmehr: Jeder braucht Menschen um sich herum und hat sie hoffentlich auch. Jeder braucht einen Vater im Himmel und lebt vor ihm und von ihm – so setzt der Text des Tages ein.

Wer derart redet, muß mit Widerspruch rechnen. Was wir heute erleben,
ist das genaue Gegenteil. Jeder lebt sein eigenes Leben, sein schönes oder
schreckliches. Jede kämpft für sich, um einen Platz an der Sonne zu
ergattern, oder auch, um zu sich selbst zu kommen. Wer dies erreicht, hat schon
viel gewonnen. Jeder ist allein – keiner lebt sich selber, was stimmt?

Hier in Hevensen wird die Frage nicht theoretisch erörtert, sie wird
praktisch beantwortet. Ein Ort feiert ausgiebig; genauer: Ein Kirchspiel mit
sechs Dörfern begeht ein Fest, und dies gleich eine Woche lang. Da werden
Menschen in Scharen auf die Beine gebracht, sie erleben viel und können
selbst mitmachen.

Ein historischer Markt war gestern zu betrachten. Kerzenmacher,
Korbflechter, Stellmacher und viele andere mehr führten ihr Handwerk vor.
Es wurde gehäkelt, geklöppelt, gewebt und gesponnen. Eine Disco konnte
man spät abends selbstverständlich besuchen, damit neben das
Historische das Heutige tritt. Shakespeares „Sommernachtstraum“ wurde
aufgeführt, man höre und staune, von einer Laienspielgruppe auf die Bühne
gebracht, und natürlich haben viele Chöre aus den Ortschaften ihre
Lieder vorgetragen. Ein „St.-Lambert-Trunk“ wird kredenzt und eine „Hevenser
Klostersuppe“ aufgetischt, beides schmackhaft, nehme ich an. Ein Festumzug
durch Hevensen und Wolbrechtshausen ist gleich zu sehen. Kinder, die daran
teilnehmen, haben nach altem Brauch am Montag schulfrei. Wie schön für
sie! Vieles andere wäre zu erwähnen, welches das reichhaltige Programm
füllt.

Wie man sehen kann: Alt und Jung feiern gemeinsam, kaum jemanden hält
es zuhause, das pralle Menschenleben spielt sich auf der Straße ab oder in
geschmückten Räumen. Hier wird anschaubar, was Paulus schreibt: „Keiner
lebt sich selber“ – und erst recht keiner feiert sich selber! Wer ein Fest
begeht, braucht andere Menschen, am besten in Fülle. Feier ist das
Gegenteil von Einsamkeit.

Das bunte Treiben gilt jedoch nicht zuvörderst den Menschen, es dreht
sich um ein altes Gemäuer, um die St. Lambert-Kirche zu Hevensen, die ihr
1000-jähriges Kirchweihfest begehen kann. Sonst wird das Gebäude eher
geschont, nehme ich an, oder links liegen gelassen, nun steht es für eine
volle Woche im Mittelpunkt. Was ist der Grund?

1000 Jahre flößen einem schon Ehrfurcht ein, wer will der alten Dame nicht Respekt erweisen? Doch das Besondere ist, daß dieses alte Gemäuer trotz oder gerade wegen seiner langen Geschichte ein höchst lebendiges Haus ist. Als atmete es. Als könnte es sprechen, ja erzählen, viele Geschichten von Tod und Leben. Von Zerstörung und Neubeginn. Was Menschen erlebt und erlitten haben – in dem Gebäude wird es anschaubar.

Es ist ein Haus, das nicht preisgegeben wurde. An dem immer weiter gebaut
worden ist. Man sieht die Spuren der Jahrhunderte. Vom ursprünglichen
romanischen Bau sind noch Reste erhalten, an der Wand im Turm. Die beiden Gewölbekappen über dem Chor sind Spuren gotischer Baukunst. Der Spitzbogen eines gotischen Fensters wurde unter Geröll gefunden und hervorgeholt und
aufbewahrt. Eine Fachwerkaufstockung, die der Kirche ihr spezifisches Aussehen
gibt, ist gut erkennbar. Sie diente dazu, daß die Pfarrersleute Getreide trocknen konnten und somit etwas zu beißen hatten. – Wie man sieht: Die verschiedenen Epochen haben sich in das Gebäude eingetragen. Die Lebensentwürfe und Baustile sind unschwer abzulesen. Jeder lebt sein eigenes Leben?

Ach nein, jede Frau und jeder Mann baut auf das Wirken früher Generationen auf. Unsere Wurzeln reichen tiefer in die Geschichte als uns – zumal heute – bewußt ist. „Unser keiner lebt sich selber“ – man braucht nur auf das Gebäude zu sehen, um die Wahrheit dieses Satzes sofort zu begreifen.

Das alte Gemäuer wurde über 1000 Jahre bis in die Gegenwart erhalten, weil es ein Gotteshaus beherbergt. Wer auch nur an ihm vorbeigeht, wird daran erinnert: Wir führen unser Leben vor Gott. Wer es betritt, läßt sich auf Gott ein. Gewiß, man kann auch draußen beten. Aber Hand aufs Herz: Wer tut es? In diesem Haus sind Kinder getauft und die Namen Verstorbener verlesen worden. Hier haben Jungen und Mädchen vor dem Altar gekniet und sind eingesegnet worden. Hier haben sich Brautpaare das Ja-Wort gegeben, und viele sind bis heute zusammengeblieben. Hier ist auch über manche Predigt, die nicht enden wollte, gestöhnt worden, und von hier sind Menschen in ihrem Glauben gestärkt nach Hause gegangen. Hier haben Mütter mit Gott gehadert, weil ihnen ihr Kind genommen wurde; hier sind Loblieder zum Himmel aufgestiegen, von Menschen, deren Krankheit endlich ausgeheilt war.

Jeder lebt sein eigenes Leben? Gewiß, man kann sehr einsam sein. Doch
wer vor Gott aussprechen kann, wie ihm ums Herz ist, kommt aus der Isolation
heraus und erfährt Gemeinschaft, die alles Unglück überdauert.

Diese Kirche hat einen Altar, der über 500 Jahre alt ist. Wenn die
Feiertagsseite aufgeklappt wird, sieht man die volle Breite des göttlichen
Geschehens: Kreuzigung und Auferstehung Jesu sind in dem Schnitzwerk anschaubar.
Die alten Figuren sind eine Kostbarkeit dieser Kirche und der dargestellte
Inhalt auch: Wir können leben und wir können sterben; ob so oder so,
wir gehören zu Christus. Das ist die unerhörte und tröstliche
Botschaft, die in Holz geschnitzt ist und eingeprägt wird.

2.

Einen zweiten Satz lassen Sie mich aus dem Text des Tages zitieren: „So
wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen und alle
Zungen sollen Gott bekennen..“ Ein weiter Bogen, der geschlagen wird. Zu
weit? Viele Menschen sind heute in die Kirche gekommen. Müssen es denn
gleich alle sein?

Lassen Sie uns einen Augenblick zurückgehen 1000 Jahre zurückgehen
in die Hevenser Geschichte. Es wird vermutet, daß die 998 errichtete
Kirche das einzige massive Bauwerk am Ort war und Aufsehen erregte. Ringsherum standen Fachwerkhäuser, bei weitem nicht so groß und prächtig
wie heute. Die Familien hockten aufeinander in einem unterteilten Raum und
bekamen viele Lebens- und Leibesäußerungen mit. Sie konnten sich
riechen.

Man hat errechnet, daß diese so aufeinander hockenden Personen im frühen
Mittelalter sich durchschnittlich nicht weiter als 15 km von ihrem Heimatort
entfernt und in ihrem Leben insgesamt nicht mehr als 800 Menschen gesehen haben. Das war für sie die ganze Welt. Beschaulich, oft genug grausam, mit einem
begrenztem Horizont. Natürlich drehte sich die Sonne um die Erde, Kopernikus war noch weit weg. Amerika gab es nicht, weil unentdeckt – an Columbus war noch nicht zu denken. Daß die Erde rund sein könnte, ein Globus eben, oder was momentan aktueller ist: wie ein Fußball, daran war nicht zu denken. Und die Geschwindigkeit des Internet wäre pure Hexerei gewesen.

Die so lebenden Menschen bekommen gleichwohl die weltumspannende Botschaft
zu hören: Alle Zungen sollen Gott bekennen und ihm die Ehre geben. Wenn es
denn einen Gott gibt, ist die Welt seine Schöpfung, so weit und unerreichbar sie für die Menschen auch sein mag. Das Lokale und das Globale sind von Anfang an im Christentum beisammen.

1000 Jahre in die Geschichte zurückzugehen mag für uns ein großer
Schritt sein. Doch Paulus hat seine weltumspannende Botschaft im Brief an die Römer noch rund 1000 Jahre früher in Umlauf gebracht. Er beruft sich dabei auf
einen Propheten, der wiederum 500 Jahre früher lebte, auf den zweiten
Jesaja. Wie im Christentum, so im Judentum: Ein Gott, eine Schöpfung.

Jeder lebt sein eigenes Leben? Ach nein, mit unserem Glauben sind wir in die
große Ökumene gestellt. Der Himmel wölbt sich über uns alle und zieht den Blick in die Weiten des Kosmos und läßt uns ob der dort herrschenden Kälte frösteln. Der Blick kehrt Zurück zum alten Gemäuer der Kirche und läßt uns geborgen sein in der Liebe Christi. Dazwischen bewegt sich der Glaube, die Größe Gottes ahnend und auf seine Nähe vertrauend.

3.

Schließlich der dritte Satz, den ich aus dem Text des Tages heranziehen möchte: „Darum laßt uns nicht einer den andern richten“. Warum nicht? Weil wir in der einen Welt durch den einen Herrn Christus Schwestern und Brüder sind. Ob sie in Rom wohnen oder in Uljandska an der Wolga oder in Hevensen. Sollen wir sie alle achten oder gar lieben? Ist das nicht eine gigantische Überforderung? So als müßten wir alle Sprachen der Welt sprechen können?

Ich kenne eine Redensart – Sie vielleicht auch -, die geht so: „Es gibt vier Sprachen: Hochdeutsch, Plattdeutsch, durch die Nase und über andere Leute“.

Welche davon die beliebteste ist, ahnt jeder: Über andere Leute reden
natürlich. Wenn man also nicht mehr über die Nachbarn reden dürfte
und über die Verwandtschaft, die geschätzte und die bucklige, über
die Arbeitskolleginnen, was dann? Dann bliebe einem nur noch, den lieben langen
Tag Talkshows zu sehen, die einem in Überfülle angeboten werden. Das
kann der Apostel mit seiner Epistel offenbar nicht wollen. Was also meint er?

Gutes sollen wir reden, als sei es das Evangelium, was übersetzt heißt:
die gute Nachricht. Und wo bleibt das Schiefe und Krumme, das Kleinkarierte und
Unausstehliche? Soll man Kreide fressen?

Es gibt einen Bibelausleger mit dem vielsagenden Namen Bengel, der zur Sache
bemerkt: „Richtet nicht – ohne Einsicht und Liebe und ohne Not.“ Da
haben wir’s, Ausweg versperrt. Doch er fügt seinem edlen Satz einen
weiteren auf lateinisch an, und der macht seinem Namen alle Ehre: „Dennoch
wir einen Hund für einen Hund und ein Schwein für ein Schwein halten.“

Das ist deutlich. Es besagt: Dinge schön reden ist falsch. Es muß
ausgesprochen werden, was nicht in Ordnung ist. Aber eben an die richtige
Adresse. Nicht hinten herum. Und, was noch wichtiger ist: Kein abschließendes
Urteil fällen. Das letzte Wort steht uns nicht zu.

Hier kommt wieder Gott ins Spiel. Er ist derjenige, der uns beurteilen wird.
Vor ihm müssen wir alle Rechenschaft ablegen. Darum also hütet euch,
letzte Urteile zu fällen. „Aus dem wird nie etwas“. „Du bist
nichts und kannst nichts“. Worte, die töten. Nimm sie nicht in den
Mund. Richte nicht.

Gott wird Recht sprechen, und er wird Gerechtigkeit schaffen. Ein neuer
Himmel und eine neue Erde sind seine Verheißung, vorhin gehört bei
der Lesung aus Offenbarung 21.

Eine Lesung zum Kirchweihtag. Was besagt: Jedes Gotteshaus, auch die
St.-Lambert-Kirche mit ihrer 1000-jährigen Geschichte, weist hin auf die
große Zukunft: „Gott wird bei den Menschen wohnen, und sie werden
sein Volk sein.“ Dann ist die Welt nicht mehr mit Brettern vernagelt und
das Leben des einzelnen ebensowenig. Jeder Mensch hat Zukunft, weil sie von Gott
offengehalten wird.

Unter dieser Verheißung stehen wir. So haben wir allen Grund, unser
Fest zu feiern, Gott zu loben und uns glücklich zu preisen.

Amen.

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Dr. Hinrich Buß, Landessuperintendent in Göttingen
Von-Bar-Str. 6, 37075 Göttingen

 

 

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