Römer 8, 14-17

Römer 8, 14-17

Göttinger
Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: 14. S. nach Trinitatis
Datum: 13.9.1998
Text: Römer 8, 14-17
Verfasser: Peter Kusenberg

Predigttext: Römer 8, Vers 14-17

„Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.
Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr
euch abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen
kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!
Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes
Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich
Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit
wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.“

Liebe Gemeinde!

Es ist Frühjahr in Korinth, 56 nach Christus. Paulus, der
Apostel ist wieder einmal zu Besuch hier in der Gemeinde, die er
selbst gegründet hat. Die Nachrichten, die er in den vergangenen
Monaten erhielt, sind erfreulich: Das Christentum breitet sich langsam
im Mittelmeerraum aus, und in Rom, so hat man erfahren, hat sich
inzwischen auch eine christliche Gemeinde gebildet.

Paulus plant die weitere Route seiner Reisen. Er hat vor, die
Mission nach Westen auszudehnen, bis nach Spanien, und will deshalb
die Gemeinde in Rom so bald wie möglich besuchen, um ihre Unterstützung
zu erhalten. Ein Brief soll den Besuch ankündigen.

Paulus findet viele freundliche und aufmunternde Worte für die
ihm unbekannte junge Gemeinde, um sie in ihrem Glauben und ihrem
weiteren Wachstum zu stärken und zu fördern. Wer sich in
seinen Briefen auskennt, weiß, daß er auch kräftig
schimpfen konnte und mit Kritik nicht eben sparsam umging. Um so
herzlicher klingen daher Sätze wie diese:

„Die der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn
nicht den Geist von Knechten habt ihr empfangen, daß ihr euch fürchten
müßtet; sondern den Geist von Kindern, durch den wir rufen:
Abba, lieber Vater! Der Geist selbst bezeugt unserm Geist, daß
wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben,
nämlich Gottes Erben und Miterben Christi; denn so gewiß
wir mit ihm leiden, werden wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben
werden.“

Zu Gott „Vater“ sagen – im ersten Moment geht das
leicht über die Lippen, ist ja auch altvertraut. Das Vaterunser
fehlt in keinem Gottesdienst. Aber welche Vorstellung habe ich
eigentlich von dem, den ich so anrede? Paulus verwendet ein Wort aus
der Muttersprache Jesu: „Abba“. Das ist genau das Wort, mit
dem damals Kinder ihren Vater anredeten oder herbeiriefen: „Papa“
wäre die treffendste Übersetzung hierfür. So redete
auch Jesus Gott an.

Es lohnt sich, glaube ich, darüber nachzusinnen: der allmächtige,
ewige Gott, den ich als den Schöpfer bekenne, der alles, was
existiert, ins Leben gerufen hat, der läßt sich „Papa“
nennen, ganz vertraut, ganz nah, ganz dicht bei mir. Unbefangen und
unbekümmert wie ein kleines Kind darf ich sein: ich habe ein
Hausrecht bei meinem Vater. Gottes Geist ist es, schreibt Paulus, der
es mir immer wieder zuspricht: Du bist Gottes Kind!

Spätestens an dieser Stelle kommen mir Bedenken: Wo bleibt denn
da der nötige Respekt? Wo bleibt die Ehrfurcht vor Gott? Und was
ist denn mit den 10 Geboten? Ich merke an meinen Überlegungen, daß
mein Bild von Gott die Züge eines eher strengen Vaters trägt.
– Situationen fallen mir ein, wo der Gedanke an Gott unweigerlich
ein schlechtes Gewissen hervorrief.

Halt! Paulus scheint die Einwände zu ahnen: „Nicht den
Geist von Knechten habt ihr empfangen, daß ihr euch fürchten
müßtet, sondern den Geist von Kindern.“ – Ihr
seid keine Tagelöhner, soll das wohl heißen, die täglich
an ihrer Leistung gemessen werden, sondern werdet wie Kinder um eurer
selbst willen geliebt. Und hat nicht Jesus die Kinder ausdrücklich
als Vorbilder dargestellt: „Wer nicht das Reich Gottes annimmt
wie ein Kind, der wird nicht hineingelangen…“?

Ich nehme an, daß sich im Laufe der Zeit ein großes Mißverständnis
breitgemacht hat, das den Weg zu diesen und ähnlichen Aussagen
des Neuen Testaments erschwert. Es ist das Wunschbild vom mündigen,
aufgeklärten Bürger, der sich in einer von Bildungsboom und
Leistungsdruck beherrschten Gesellschaft durchsetzen muß. Dem
gegenüber steht das Bild des naiven, unmündigen Kindes, das über
eine gewisse Zahl von Jahren eine Art „Schonzeit“
zugestanden bekommt, bevor dann der „Ernst des Lebens“
beginnt. So kommt es, daß „kindlich“ mißverstanden
wird als „kindisch“, und dann ergeben die biblischen Worte
keinen Sinn mehr.

Aber es ist überhaupt nicht an Unmündigkeit und Naivität
gedacht, wenn meine Beziehung zu Gott mit der eines Kindes zu seinem
Vater verglichen wird. Ich bin erwachsen, und es wäre dann in der
Tat kindisch, wollte ich mich verstellen und Gott mit Kindergebeten
und Kindervorstellungen gegenübertreten. Eine Karikatur.

Nein. Sondern so wie in einer intakten Familie Kinder ungezwungen
und unbefangen mit ihren Eltern umgehen, so darf ich mich ohne Scheu
auch an den Höchsten wenden. Gott gibt mir die Freiheit dazu: „Nicht
den Geist von Knechten habt ihr empfangen.“ Die Freiheit, die
Jesus Christus mit seinem Tod am Kreuz errungen hat, schenkt Gott
durch seinen Geist.

Freiheit – ein großes Wort. Auch viele andere Stimmen
versprechen Freiheit, doch die meisten von ihnen lügen. Ein
Paradebeispiel ist die Werbung: bedeutet es Freiheit, eine bestimmte
Zigarettensorte zu rauchen? Fühle ich mich frei, wenn ich eine
bestimmte Seife benutze? – Hier wird manipuliert, werden
geschickt Sehnsüchte des Menschen nach Unabhängigkeit
ausgenutzt, mit anderen Worten: er wird nur in eine neue Abhängigkeit
gebracht! – Die Motorradfirma, die mir ihr neuestes Modell
anpreist – will sie mir zur Freiheit verhelfen oder will sie ihr
Produkt verkaufen? –

Die Freiheit, an die ich denken möchte, ist nicht nur
scheinbar. Diese Freiheit macht ein Ende mit jeder Form von Abhängigkeit
und Zwang. Und das bedeutet auch ein Ende meiner Abhängigkeit von
mir selbst, von meiner Selbstherrlichkeit, von meinem Egoismus, von
meinem oft zu kleinen Glauben. Eine Freiheit, die nicht auf Kosten
anderer gewonnen wird, weil sie Verantwortung ein– und nicht
ausschließt.

Und wie könnte konkret aussehen, wenn einzelne oder eine
christliche Gemeinde diese geschenkte Freiheit annehmen und sich zu
eigen machen?

Die Freiheit der Konfirmanden zum Beispiel kann so aussehen, daß
sie nicht von ihren Eltern oder von Pastor und Pastorin gedrängt
oder gar gezwungen werden, regelmäßig in den Gottesdienst
zu gehen. Aber Moment! Dies ist nur die eine Hälfte dieser
Freiheit. Die andere Hälfte der Freiheit besteht für die
Konfirmanden darin, nicht dem Drang der eigenen Unlust nachzugeben.
Freiheit heißt nämlich auch, freiwillig etwas tun.
Bequemlichkeit und Müdigkeit sind keine Merkmale von Freiheit.

Die Freiheit einer Gruppe von Jugendlichen zum Beispiel kann darin
bestehen, daß sie sich ohne Aufsicht und Kontrolle miteinander
treffen, um gemeinsam zu reden, zu spielen, zu feiern oder Musik zu hören;
doch auch hier hat dieselbe Freiheit noch ihre zweite Seite: Freiheit
bedeutet auch, sich nicht in Langeweile und phantasielosem Trott zu
betäuben.

Freiheit von erwachsenen Christen kann zum Beispiel so aussehen, daß
sie nicht mehr in Ängsten leben: in Ängsten, die Gebote zu übertreten,
oder in Ängsten, Gottes Geist zu verlieren. „Ihr seid keine
Tagelöhner, die täglich an ihrer Arbeit gemessen werden!“
– Und auch hier hat Freiheit eine zweite Komponente: Freiheit heißt
auch, die unverbindliche oder gleichgültige Haltung zu überwinden
und mit der eigenen Person für seinen Glauben einzustehen

Freiheit eines Pastors kann zum Beispiel so aussehen, daß er
sich nicht allen Verpflichtungen aus der Tradition und sämtlichen
Erwartungen in der Gemeinde unterwirft. Auch hier aber bedeutet diese
Freiheit zugleich: er darf ebensowenig sich selbst und seine Vorlieben
zum allein gültigen Maßstab seines Handelns machen.

Das ist das Ziel: Eine Freiheit, die souverän die Mitte findet
zwischen Selbstherrlichkeit und Abhängigkeit. – Weder darf
ich mich einfach nur Geboten unterordnen und blind gehorchen noch darf
ich mich selbst zum Maß aller Dinge machen – dies ist die
Freiheit der Kinder Gottes. Versprochen und erworben durch den Sohn
Jesus Christus und mir täglich neu geschenkt durch den Heiligen
Geist, habe ich die Freiheit, zu Gott „Vater“ zu sagen.

Amen.

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Peter Kusenberg
Pastor und freier Journalist
Auf dem Kirchberg 2, 37139 Adelebsen

 

 

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