“Sometimes you need…

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“Sometimes you need…

“Sometimes you need a hit right in your face!” | Predigt über Micha 7, 18f | verfasst von Manfred Mielke |

Liebe Gemeinde,

ich beginne mit einer Tierfabel. Ein Mosquito namens Joe habe ihn nachts gestochen, direkt unter dem linken Auge. So singt es der Sänger der Band Bukahara. Als er aufwacht, merkt er, dass etwas nicht stimmt. Mit geschwollenem Gesicht klopft er an Joes „Mosquito-Haus“ an; der öffnet, lacht und sagt: „Manchmal brauchst Du eine Pause, manchmal einen Zufluchtsort. Manchmal willst Du ganz allein sein, aber manchmal brauchst Du einen Schlag mitten ins Gesicht.“ – „Sometimes you need a hit right in your face!” (1)

Diese Pointe gibt der Tierfabel eine Perspektive. Allerdings finden wir nach einem Schicksalsschlag kaum diejenige Mücke, die zugibt, was sie uns antat und dann auch noch einen flapsigen Rat parat hat. Allerdings gesteht sich der Sänger im Verlauf des Heilungsprozesses ein: „Manchmal musst Du nur gehorchen, doch manchmal ist es so: „You need a hit right in your face!“

Im historischen Volk Israel ist es der Prophet Micha, der die Drohung ausruft: „Unabwendbar ist der Schlag Gottes!“ (1,9; Anm. 2) Zu dieser Aggression Gottes muss Micha erklären, was dessen Beweggründe sind. Und wieso gerade jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, dass er zum finalen k.o.-Hieb ausholt. Micha wird ausmalen müssen, wie genau sich die Zerstörung abspielt. Aber wieso kann er dann sein Prophetenbuch zu guter Letzt abschließen mit dem zuversichtlichen Refrain: „Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die übrig geblieben sind von seinem Erbteil; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er ist barmherzig!“ (Micha 7,18) Wie also kamen Micha und sein Gott vom Zorn zur Zuversicht?

Liebe Gemeinde,

was waren die Auslöser für Gottes Zorn? Beispiel eins: Die Kleinbauern werden enteignet, die Männer versklavt, die Frauen obdachlos gemacht, das Kindeswohl vernachlässigt. Beispiel zwei: Guten Richtern wird mit dem Stock ins Gesicht geschlagen; doch für die Mehrheit der Priester und Fürsten gilt: „Wenn einer nicht gibt, was sie wünschen, dann eröffnen sie den Krieg gegen ihn.“ (3,5) Gottes Beweggründe sind demnach Korruption und Rechtsbeugung in seinem Volk, die Erosion der Familiensysteme und eine galoppierende Immobilienkriminalität. Also Zustände wie vor Corona, wie vor der Sintflut. Gott ist in Zorn geraten; doch wird daraus ein Wutausbruch?

Und der Zeitpunkt? Micha – im Südreich – beobachtet entsetzt, wie die Großmacht Assyrien das Nordreich überfällt, plündert und schindet. Wir befinden uns im Jahre 722 v. Chr. und die Luftlinie zwischen Süd und Nord ist nur 120 km. Das Grauen, dass die Assyrer verbreiten, lähmt jeden wie eine Infektion. In wenigen Wochen wird deren zweite Welle auf Jerusalem zurollen.

Micha rät seinen Mitmenschen, vorab Trauerrituale öffentlich durchzuführen. Einmal, damit sie zugeben, dass Gott zu Recht zornig ist. Zum andern, dass sie die Gründe dafür zurückverfolgt haben zu sich selbst. Und zum Dritten, dass jeder zu echten Verhaltensänderungen bereit ist.

Dazu benutzt er ein schrilles Bild. So empfiehlt er als sichtbaren Trauerritus, dass jeder sich eine Glatze schneidet, „so breit, wie Geier sie tragen“. (1,16 Anm. 3) Und für die Konversion der Volkswirtschaft empfiehlt er: „Schmiedet eure Schwerter um zu Pflugscharen und eure Speere zu Winzermessern!“ Seine Vorschläge sind drastisch und utopisch. Aber sie zeigen seine Leidenschaft, Gottes Zorn auf die Probe zu stellen.

Gleichzeitig muss Micha klarstellen, wie konkret Gott sein Vorhaben durchziehen wird. Doch mitten hinein in das Untergangsszenarium platzen zwei Nachrichten. Die eine, dass die Assyrer nach der Verwüstung des Nordreichs sich wieder in ihr Weltreich zurückziehen. Das ist unglaublich. Und die zweite ist eine kurzfristig anberaumte Regierungserklärung Gottes, und die ist glaubensweckend.

Liebe Gemeinde,

die Regierungserklärung lässt aufhorchen. Denn Gott verfolgt nicht weiter „Feuer und Zorn“, sondern er verkündet seine Entscheidung zur Zuversicht. In prägnanten Sätzen erklärt sich Gott selbst und seine Neuausrichtung (3). Er reduziert sich auf seinen positiven Markenkern und sagt: „Ich bin erfüllt mit Vollmacht, Recht und Tapferkeit“ (3,8 Anm. 4) Und er richtet sich neu aus, wenn er sagt: „Ich will heimholen und zusammenbringen, denen ich Schlimmes antat… Und jeder wird unter seinem Weinstock sitzen und keiner wird mehr aufschrecken.“ (4,4ff)

Mitten in der Angst, dass Gott zuschlägt wie ein Dieb in der Nacht oder zusticht wie eine Malaria-Mücke unterm Auge, richtet Gott seine Ideale wieder auf. Und wir lernen: „Manchmal brauchen wir eine Unterbrechung, manchmal müssen wir nur gehorchen!“ Denn wir wissen ja „was Gott bei uns sucht: Sein Recht üben, die Freundlichkeit lieben und mit ihm aufmerksam mitgehen.“ (6,8 Anm. 5)

Liebe Gemeinde,

dieser Neuansatz hielt jedoch nur für wenige Generationen. Dann überfielen die Babylonier das Südreich, Michas Heimat. Sie zerstörten die Infrastruktur, schändeten den Tempel Jahwes und verschleppten die Bildungselite nach Babylon. Wieder stand die Frage im Raum: Ist Gottes Schlag mitten in unser Gesicht endgültig und unheilbar? Doch dann konkretisierte Gott für sein Volk und alle seine Völker, was er vorher schon angedeutet hatte: „Nein, ein Rest bleibt zu Hause, und ein Rest kommt zurück. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor euch verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich euer erbarmen.“ (Jes 54,8) Und mit einem Hinweis auf seine bisherige Bündnistreue fügte er hinzu: „Ich mach es nochmal wie zu Zeiten Noahs, als ich bei mir schwor, dass ich nicht mehr über dich zürnen will.“ (54,9)

Liebe Gemeinde,

Gott will nicht mehr zürnen, genauer gesagt behält er die Kontrolle über seinen Zorn. Er gibt seine Vollmacht dazu nicht aus der Hand, aber er outsourced „Feuer und Schwefel“ aus seiner Beziehung zu uns. Er verlängert und erneuert die Bewährungszeit. Modern gesprochen hat Gott sich somit ein neues Zorn-Management (6) erarbeitet, und wir besingen dies mit der Zeile: „Als wollte Gott belohnen, so richtet er die Welt!“ (7) Das war bisher unglaublich.

Auch die Gottesgemeinde des Micha singt. Ihr Schlussvers lautet: „Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die übrig geblieben sind von seinem Erbteil; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er ist barmherzig! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“ (7,18f)

Die Menschen zu Michas Zeiten haben demnach den Zorn Gottes zurückverfolgt. Sie haben erkannt, dass Gottes Schalom radikaler und nachhaltiger ist als ihr Turbo-Kapitalismus und ihr egozentrischer Life-style. Sie mussten krummgehen unter den Peitschen der Assyrer, der Babylonier und deren Götter. Doch im Vergleich zu denen entdecken sie bei ihrem Gott Jahwe neue Qualitäten.

Sie zitieren zwar süffisant deren Frage: „Wo ist der nächstbeste Gott?“ – aber dann bekennen sie ihre drei neuen Lerninhalte: Unser JahweGott kann loslassen – und zwar von seinem Zorn. Unser JahweGott kann vorübergehen – an unserer Aufsässigkeit. (8) Und Unser JahweGott kann wegtragen – und zwar alle unsere Vergehen. Gottes Initiativen bewirken diese Veränderungen auf unserer Seite – darin ist unser Gott allen anderen überlegen.

Ähnlich entdecken auch wir, dass Gottes Barmherzigkeit uns ergreift, wenn wir die großen Skandale unserer Zeit zurückverfolgen bis in unser Innerstes. Warum zögern wir, die Welt neu zu denken? Gott gewährt uns den Zeitpunkt für einen Neustart unserer Lebensziele und Lebensweisen. Damit er findet, was er bei uns sucht: Dass wir aufmerksam mit ihm mitgehen, dabei seine Freundlichkeit mit jedermann teilen und sein Recht ausüben. Amen

(1) „Mosquito“; auf: „Bukahara Trio“, Köln, 2013, Eigenverlag (2) “Schlag” bei HWWolff BKAT; ähnlich Jerusalemer Bibel: „Unheilbar ist Jahwes Schlag“; ansonsten mehrheitlich: „…dass Samarias Wunde unheilbar ist.“ (3) So habe ich glatzköpfige Marschkolonnen noch nicht gesehen (4) Tapferkeit zur Analyse, nicht zum Systemkollaps (5) Jerusalemer Bibel: “In Dienmut wandern mit deinem Gott”; King James: “walking without pride before your God” (6) „Israel ist par excellence Träger einer komplexen Weisheit des Zorns… und wurde… zur bedeutendsten Exportnation für zornverarbeitende Systeme.“ Peter Sloterdijk in: „Zorn und Zeit“ Ffm 2006; S.141 (7) Jochen Klepper 1938 in EG 16 (8) HWWolff: „Jahwes „Vorübergehen an der Aufsässigkeit“ bedeutet nichts weniger als den Widerruf des totalen Gerichtsworts.“ S.205; M. Buber mit Gespür für Räumlichkeit: „hinwegschreitend über Abtrünnigkeit“ (8) vgl Sylvia Bukowski „Lass mich blühen unter deiner Liebe“ 2001; S.145

Lieder

EG 353 Jesus nimmt die Sünder an (Wochenlied)

EG 422 Du Friedefürst, Herr Jesu Christ

EG 430 Gib Frieden, Her, gib Frieden

EG 016 Die Nacht ist vorgedrungen

WL 116 Vorbei sind die Tränen

WL 105 Ohren, um zu hören, was der Geist uns sagt (Kanon)

WL 068 Gott, deine Feinde sind geschäftig

WL 108 Komm, Gott, mit deiner Gnade

Diverse: Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut (Irmgard Spiecker 1970)

 

Fürbitten (Anm.8)

Wir rufen Dich an, Gott, der Du deine Initiative in Christus vorantreibst. Der Du loslassen kannst von deinem Zorn. Der Du vorübergehst an unserer Aufsässigkeit, und der Du Christus befähigt hast, all unser Vergehen hinwegzutragen. Wir rufen: Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut!

Wir rufen Dich an, Gott, der Du deine Initiative in Christus vorantreibst. Offen von unserer Sünde zu reden gelingt uns selten. Schuld einzugestehen fällt uns schwer, und die Bitte um Vergebung will kaum über unsere Lippen. Wir rufen: Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut!

Wir rufen Dich an, Gott, der Du deine Parteinahme in Christus zeigst. Wir stehen ein für jeden, der im Alltag rassistisch beleidigt wird. Wir beten auch für die Menschen, die in ihnen immer noch Fremde sehen. Wir rufen: Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut!

Wir rufen Dich an, Gott, der Du deine Parteinahme in Christus zeigst. Wir stehen ein für die Menschen, die Zivilcourage zeigen. Für alle, die widersprechen, wenn die Rechte ihrer Mitmenschen bedroht werden. Wir rufen: Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut!

Wir rufen Dich an, Gott, der Du Dich in Christus uns zuwendest. Wir beten für Männer und Frauen, die ihre Arbeit verloren haben, für Arbeitsgeber, die ihren Betrieb aufgeben mussten; und für jeden, die an der schwierigen Lage zu verzweifeln droht. Wir rufen: Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut!

Wir rufen Dich an, Gott, der Du Dich in Christus uns zuwendest. Wir votieren für die Friedensforscherinnen und Friedensforscher; und wir votieren für die Politikerinnen und Politiker, die sich von ihnen beraten lassen. Wir rufen: Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut!

Wir rufen Dich an Gott, der Du uns Christus als Vorbild gabst. Wir machen dir Mühe mit unserer Uneinsichtigkeit und unserem Stolz. Wir kränken dich in deinem Erbarmen mit unserer Selbstgerechtigkeit. Wir rufen: Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut!

 

Wir rufen Dich an Gott, der Du uns Christus als Vorbild gabst. Erspar uns nicht das Erschrecken über das Böse, das wir anrichten mit Worten und Taten. Lass uns zu neuen Menschen werden im Spiegel deiner Barmherzigkeit. Wir rufen: Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut!

Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geb 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit bei Christival und Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn und Ruanda. Instrumentalist und Arrangeur.

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