Gott ist groß

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Gott ist groß

Predigt über Micha 7,18-20 | verfasst von Eberhard Busch |

Wir hören in der Predigt auf Worte des Propheten Micha. Er lebte im 8. Jh. vor Christi Geburt  und er redet noch heute, zu den Juden, zu den Christen, zu uns. Der Anfang unseres Predigt-Textes erinnert im Hebräischen an den Namen des Propheten Micha, der übersetzt bedeutet: „Wer ist wie Jahwe“, wer ist wie Gott! Hören wir Micha Kapitel 7, die Verse 18-20:

 Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.

Wir kennen wohl den Satz: Gott ist groß. Er kommt in den biblischen Psalmen vor. Wir hören ihn vom Muezzin rufen: Allahu Akbar, das heißt eben: Gott ist groß. Aber inwiefern ist er das? Heißt das: er ist größer als unsereins? Stärker, klüger, schneller? Einfach eine hoch gesteigerte Ausgabe von dem, was wir ebenso sind? Achten wir auf das, was uns jener Prophet Micha kundtut. Er sagt, Gott ist ganz anders, als wir denken. Gottes Größe besteht darin, dass er das vollbringt und das ist: „ein Gott, der die Sünde vergibt.“ Er ist ein Meister in diesem Fach, ein Meister darin, hinter dem Schiefgelaufenen einen Schlussstrich zu ziehen, gültig für gestern, für heute und morgen, gültig für uns, für unsere Nachbarn. So hat er es schon „unsren Vorfahren“ geschworen. Und dabei bleibt’s.

Ist vergeben denn für ihn nicht ein gar leichtes Geschäft? So nach dem Motto: Schwamm drüber! So schnell gibt es keinen Neuanfang, nach dem unter den Menschen grassiereden Schaden. Wie sollte er über Verkehrtes nicht zornig werden? Warum nicht die Menschen in das von ihnen selbst verbreitete Verderben laufen lassen! – das ist nämlich sein Zorn. Vielmehr, in seinem Zorn schreit er uns gleichsam heftig entgegen: Nein, nein!, nicht so weiter auf dem Weg in den Abgrund. Sein Zorn ist seine heimliche Güte. Paul Gerhardt hat im 17. Jahrhundert davon gesungen: „Du strafst uns Sünder – mit Geduld. … Ja, endlich nimmst du unsre Schuld und wirfst sie in das Meer.“ Wie wir schon von Micha hören: „Gott wird alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“ Nichtwahr, was wir ins Meer werfen, das ist bekanntlich ganz und gar nicht verschwunden. Aber was unser Gott beiseite schafft, das bringt er zum Verschwinden.

So mühsam es ist, Gott setzt sich dem Verqueren selber aus. Er gibt sich ganz und gar hin, um es zu beseitigen. Das zieht ihn zu uns Bedrohten hinab. Gott ist darin groß, dass er sich derart erniedrigen kann. Das tut er sich an, um bei uns zu sein, so nahe wie nur möglich. Und war dem ermordeten George Floyd in Minneapolis nahe, als er sterbend stöhnte: „I can’t breathe“, „ich kann nicht mehr atmen“. Zu solcher Solidarität sagt Gott nicht Nein, sondern Ja. Und das tut er, um das Verkehrte und Falsche in unsrer Welt zu beseitigen, um dem die Luft zu nehmen, damit das Böse in unsrem Leben aufhöre und absterbe. Das tut Gott, damit es sich nicht weiter und weiter verbreite und seine Kinder infiziere, so wie die Pest oder ein gefährliches Virus. Und sind sie seine Kinder, so sind sie unsere Schwestern und Brüder, welcher Herkunft, welcher Hautfarbe, das spielt keine Rolle. So spricht es uns ja der Prophet Micha heute zu: „Gott hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unsrer wieder erbarmen (und) unsre Schuld unter die Füße treten.“

Im Licht der Zuwendung Gottes wird erst recht sichtbar, wer wir sind und wie wir dran sind. Es braucht Licht im Dunklen, damit das Dunkel erkennbar wird. Angesichts der Gnade Gottes geht uns auf, dass wir ihrer im höchsten Maß bedürftig sind. Abgesehen davon mag es einem so gehen wie sogar dem einst mächtigen Nazi-Führer Hermann Göring, mitverantwort-lich für die Ermordung unzähliger Juden. Als er 1946 im Nürnberger Prozess vor Gericht stand, erklärte er sich als „nicht schuldig“. Hingegen lag es wohl an jenem Licht der Gnade Gottes, dass Pfarrer Martin Niemöller zur selben Zeit in einem Vortrag sagte, nachdem er seit 1938 in einem Konzentrationslager gefangen war: „Wenn immer ich einen Juden treffe, den ich als Christ kenne, dann kann ich nicht anders als zu sagen: ‚Lieber Freund, ich stehe vor dir, aber wir können nicht zusammen kommen, weil Schuld zwischen uns steht. Ich habe gesündigt und mein Volk hat gesündigt, gegen dein Volk und gegen dich.‘“

Es ist merkwürdig, aber es ist typisch für die Sünde, dass ihre Täter gemeinhin abstreiten, selbst dessen schuldig zu sein. Man vermeidet heute das Wort „Sünde“, zuweilen auch in der Kirche, nicht weil es Sünde nicht gibt, aber weil es nicht opportun ist, von ihr zu reden. Oder man macht sie niedlich und lächerlich und sagt: „Schokolade ist eine süße Sünde“ und lenkt damit hübsch ab von den Elenden, die „wir“ im Mittelmeer ruhig ertrinken lassen, etwa weil „wir“ nicht mit ihnen zusammen sein wollen. Oder man zieht die Maske eines Detektivs an, der Schuld bei gewissen Anderen erschnüffelt und tatsächlich fündig wird. Und wenn es dabei um eine noch so kleine Maus geht, was gilt’s, es wird daraus ein Elefant gemacht. Es gibt sogar Zeitungen, die damit Geld machen. Und man selbst steht bei dem Wischen vor fremden Türen immer auf der Seite der Gerechten.

Aber hören wir die Botschaft des Propheten Micha: „Gott wird sich unsrer wieder erbarmen.“ Wer das beherzigt, der ist frei, an seine eigene Brust zu schlagen und sein eigenes Versagen bekennen: „Ich, ich, und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden des Sandes an dem Meer“, die haben Gott und meinem Nächsten das Leben schwer gemacht. Was bleibt mir anderes übrig, als trotzdem auf den Einen zu hoffen, „der die Sünde vergibt, der an seinem Zorn nicht ewig festhält“, gottlob hat er „Gefallen an Gnade!“, wie Micha uns zuspricht.

Vielleicht verdrängen wir ja nicht, sondern leiden an dem, was wir verkehrt gemacht haben und nicht wieder gut machen können. Besonders wenn man älter wird und wenn man nachts schlecht schläft, da geht es einem so, wie es in einem Lied heißt: „Heut als die dunklen Schatten / mich ganz umgeben hatten, / hat Satan mein begehret …“ Ja, es ist wie von einer finsteren Welt, was in dunklen Schatten uns beschleichen und überfallen kann.Da flüstert es uns ins Ohr, so, dass man dem sich nicht entziehen kann: „Was getan ist, ist getan. Das lässt sich nie mehr ausradieren.“ Je älter man wird, desto mehr geht’s einem auf, und es verfolgt einen bis in die Träume: Was für einen Fußabdruck hinterlasse ich der nächsten Generation!

Das habe ich unterlassen, das habe ich falsch angepackt, das habe ich böse gesagt, da habe ich mich falsch entschieden. Vielleicht hat es niemand sonst bemerkt. Gleichwohl bedrängt es mich. Vielleicht ist die Sache lange her. Aber ich begreife: Zeit heilt längst nicht alle Wunden. Vielleicht scheinbar eine Nichtigkeit. Aber in Wahrheit eine Last, die mich bedrückt, und bringt mich um den Schlaf. Ich hörte einen sterbenden Greis wieder und wieder flüstern „es isch eifach eso“, nicht nur dies „ist einfach so“, dass das Ende des Lebens nicht mehr aufzuhalten ist, sondern auch das nicht, was in dem Leben alles verkehrt getan worden ist. Es gibt eine Hilflosigkeit gegenüber unsern eigenen Taten.

Aber es gibt hier eine Heilung, die uns genesen lässt – durch den, der uns sagt: er wird „unsere Schuld unter die Füße treten“. Ein Fußabtreter sondergleichen, rutschfest und wetter-beständig. Gott sei Dank! Erbarmen! – auch da, wo man ein Vergehen nicht vergisst und nicht einem durchgehen lässt. Vergebung heißt nicht: das Vergehen vergessen, so wenig wie das heißt: es verdrängen oder auf Andere abschieben. Vergebung heißt, dass sich mir über einen Abgrund hinweg die Hand der Versöhnung entgegenstreckt. Vergebung heißt, dass ich sie mir mit nichts in der Welt kaufen, sondern nur schenken lassen kann, und kann nur um sie bitten mit leeren Händen wie Bettler.

Vergebung heißt, um noch einmal an den Satz von Martin Niemöller zu erinnern: Ja, „ich habe gesündigt und mein Volk hat gesündigt, gegen dein Volk und gegen dich“; und obwohl nun Schuld zwischen uns steht und obwohl wir daher nicht zusammen kommen können, dürfen wir gleichwohlzusammen kommen, unverdientermaßen, und dürfen es, weil du dazu Ja sagst, weil du die verschlossene Türe öffnest. Unser Gott mache uns sehnsüchtig danach. Und schenke uns Frieden. Amen.

Eberhard Busch, Friedland

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