Gott hat Gefallen an Güte

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Gott hat Gefallen an Güte

Predigt über Micha 7,18-20 | verfasst von Rainer Stahl |

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

Immer wieder geschieht es, dass wir nichts Böses wollen, aber doch Böses tun, aber doch verletzen, aber doch herabsetzen. Das beginnt schon in der Weise, wie wir manchmal übereinander reden und dabei die nötige Würdigung missen lassen, auf die jede und jeder ein Recht haben. Das geht weiter in der Weise, wie wir uns als Kinder und Jugendliche auseinandersetzen, vor allem mit Hilfe der Medien über Klassenkameradinnen und -kameraden zum Beispiel vernichtend urteilen. Und dann gibt es ganz traditionell die Möglichkeit, dass wir spielerisch miteinander kämpfen. Dabei werden Beteiligte häufig verletzt – in ihrem Stolz, aber auch ganz handfest gesundheitlich. Bei einer solchen Rangelei vor Jahrzehnten wurde einmal einer der Beteiligten so verletzt, dass er schnell ins Krankenhaus musste. Dort ereignete sich dann eine merkwürdige Szene: Der Arzt fragte bei der Untersuchung: „Wer war das?“ Und der Betroffene antwortete ganz spontan, ganz schnell, ja, ohne eigentlich wirklich nachzudenken: „Das spielt keine Rolle.“ Dabei war jener geblieben. Schuld aufrechnen, das wollte er nicht, hatte er doch bei der Rangelei auch mitgemacht, war er doch kein unbeteiligter Fremder gewesen.

Da weckte unser bislang bald unbekanntes Bibelwort solche Zusammenhänge bei mir und ließ mich erkennen: Ja, das ist möglich! Auf Schuld anderer müssen wir nicht dauernd fixiert bleiben. Eigene Schuld muss uns nicht ständig belasten. Denn wir sind nicht auf uns allein gestellt. Eine Möglichkeit wäre es, mit der anderen Person das Erlebte „aufzuarbeiten“ – wie man heute so gern sagt. Also dem, der an einem schuldig geworden war, die eigene Haltung zu vermitteln: „Das spielt keine Rolle.“ Oder dem, an dem man selber schuldig geworden war, die Möglichkeit zum Austausch anzubieten und damit auf Klärung zu hoffen: War man nicht gemeinsam in diese Rangelei verstrickt gewesen? Oftmals aber ist beides nicht wirklich möglich, geht die Zeit über die Möglichkeiten des Austauschs hinweg, fehlt die eigene Kraft, das Geschehene auszutauschen. Dafür nun lehrt uns unser neues, noch nie für eine Predigt aufgetragenes Bibelwort die entscheidende Lösung: Wir zwei, die wir durch solches Geschehen zusammengebunden, aber auch voneinander isoliert sind, sind nicht als die Zweien allein – es ist ein Dritter immer zwischen und über uns: unser Gott!

Angesichts der hier angedeuteten Erfahrungen und Empfindungen musste ich ganz genau in dieses Bibelwort, in diese letzten Zeilen des Micha-Buches hineinsehen und versuchen, das dort Gesagte ganz genau wahrzunehmen:

V. 18a „Wer ist Gott wie du?

Tragend Vergehen

und hinweggehend über Rechtsbruch

für den Rest seines Erbgutes.

V. 18b Nicht hält er fest bis zum Ende an seinem Zorn,

denn Gefallen an der Güte hat er.

V. 19a Sich umkehrend erbarmt er sich unser,

tritt er nieder unsere Vergehen.

V. 19b Und du wirst werfen in die Strudel des Meeres alle unsere Verfehlungen.

V. 20a Du wirst Zuverlässigkeit dem Jakob geben,

Güte dem Abraham,

V. 20b wie du geschworen hast unseren Vätern von den Tagen der Vorzeit her.“

Als ich versuchte, mir den Text zu erarbeiten, fiel mir auf: Der Begriff „Sünde“ muss gar nicht verwendet werden. Aber drei verschiedene Worte für unterschiedliche Aspekte solchen Verhaltens auf unserer, auf der menschlichen Seite sind im Text eingesetzt worden:

„Vergehen“ – Weil wir uns falsch orientierten, weil wir uns einen Missgriff leisteten.

„Rechtsbruch“ – Weil wir nur an uns dachten und über die berechtigten Interessen anderer

hinweggingen.

„Verfehlungen“ – Weil wir mit unseren Entscheidungen in die Irre gingen, weil wir unser Lebensziel

verfehlten.

Da ist doch unser Bibelwort viel gegenständlicher und verständlicher geworden. Da erkennen wir es als Antwort auf oft gehörte Fragen und Einwände: „Immer reden die von ‚Sünde‘! Was soll das sein?“ Da überfällt uns für die angedeutete Lebenserfahrung dieser Begriff „Verfehlungen“ – beide betreffend, denn beide hatten sich ja miteinander gerangelt.

Dasselbe gilt auch für die gegenteiligen Aussagen: Wieder in großartiger Weise beiden Rangelnden geltend – acht verschiedene Worte oder Tätigkeiten für das positive Handeln Gottes:

„Tragend“ – Gott ist es, der die Folgen unserer falschen Entscheidungen auf sich nimmt.

„Hinweggehend über“ – Gott geht weiter, lässt unser Fehlverhalten nicht zwischen sich und uns und

zwischen uns stehen, sondern lässt es am Wegesrand zurück.

„Nicht hält er fest bis zum Ende an seinem Zorn“ – Auch wer Aspekte des eigenen Schicksals wie

Ergebnisse ärgerlicher, ja: zorniger Emotionen seitens Gottes wahrnimmt, soll sich an ein Ende solcher Empfindungen klammern können.

„Gefallen an der Güte“ – Gott ist bereit, uns neue Chancen zu geben.

„Erbarmen“ – Obwohl sich Gott schon abgewendet schien, kehrt er um und geht auf uns zu.

„Niedertreten unserer Vergehen“ – Mit ganzer Aktivität lässt Gott die Folgen unserer Vergehen

ungeschehen sein.

„Wirst in die Strudel des Meeres unsere Vergehen werfen“ – Unseren in die Irre geschossenen Pfeil

nimmt Gott und wirft ihn in ein »Schwarzes Loch«, aus dem es kein Zurückkehren gibt.

„Wirst Zuverlässigkeit geben“ – „Dem Jakob“, denen, die sich an ihn halten, bleibt Gott zugewandt,

ohne Zweifel, »durch dick und dünn«, »in guten und in schlechten Zeiten«.

So durchkonstruiert ist unser Bibelwort! Das ist also keine spontane Aussage, auch nicht die spontane Aussage eines besonders befähigten Propheten. Hier haben wir das Ergebnis langer Diskussionen und Beratungen vor uns – über all‘ das, was von dem Micha her bekannt war. Vor vielen Jahren hatte ich bei einer Vorlesung über die Prophetie des 8. Jahrhunderts vor Christus zum Micha-Buch eine Art Querschnitt durch dieses als »archäologischen Hügel«, als »Tell« vorgestellte Buch entworfen. Bei dieser Zeichnung findet sich natürlich die erschreckende Analyse zu Juda ganz unten, bei den ersten Grundmauern (Micha 3,10.12: „die ihr Zion mit Blut baut und Jerusalem mit Unrecht“; „darum wird Zion zum Acker umgepflügt werden und Jerusalem zu einem Steinhaufen werden“) – ist diese Analyse, davon bin ich fest überzeugt, doch wirklich Wort des Micha. Aber unsere theologischen Worte hatte ich als oben aufliegend gezeichnet, fast an der Oberfläche, weil sie das gesamte Micha-Buch positiv, hoffnungsvoll beschließen sollen!

Aber noch mehr: Dieses Wort wurde aus Anregungen gesucht und gefunden, die ganz außerhalb der Micha-Tradition entdeckt worden waren![i] Ich unterstreiche eine Aussage unseres Predigtwortes:

„Nicht hält er fest bis zum Ende an seinem Zorn,

denn Gefallen an der Güte hat er“ (V. 18b).

Um das sagen zu können, haben sich jene Theologen, denen wir dieses Lob verdanken, vielleicht sogar an einem besonders berühmten Wort orientiert.[ii] Ich darf auf dieses Wort von außen herzugehen:

Wir alle kennen den „Kleinen Katechismus“ Martin Luthers aus dem Jahr 1529 und in ihm das „Erste Hauptstück“, die „Zehn Gebote“. Ist uns aber wirklich schon bewusst geworden, dass dort ein Gebot der Bibel fehlt und das eigentliche 10. Gebot künstlich in ein 9. und ein 10. Gebot aufgeteilt ist? Welches Gebot fehlt? Keines ganz, denn die erste Aussage des nach jüdischer Zählung 2. Gebots steht jetzt bei uns im 1. Gebot. Aber ihre zweite Aussage, die Warnung vor Götterbildern, die Warnung vor Statuen für Gott, ist weggelassen, sogar zusammen mit besonderen, langen Überlegungen! Welche Überlegungen sind das, die im „Kleinen Katechismus“ fehlen? Es sind nach meiner Überzeugung ganz besonders faszinierende Überlegungen:

„Denn ich, der Herr, dein Gott, bin eine eifernder Gott,

heimsuchend die Verfehlung der Väter bei den Söhnen bis zur dritten und vierten Generation

[…],

aber Güte tuend bis zur tausendsten Generation“ (2. Mose 20,5b-6a; 5. Mose 5,9b-10a).

Mir gefällt der Gedanke, dass die Verfasser unseres Predigtwortes gerade mit diesem Wort das Gespräch führten! Dort fanden sie die zeitlich begrenzte Verfolgung der Fehler und Untaten, dann aber die alles übergreifende positive Zuwendung Gottes: Güte bis in die tausendste Generation! In ähnlicher Weise haben es unsere Verfasser, die dem Micha-Buch seinen besonderen Abschluss gegeben haben, gesagt: Nicht ständiger Zorn sondern Freude an der Güte. So einer ist unser Gott! Allerdings meine ich, dass diese Denker bewusst verzichtet haben, auch über den Zorn Gottes etwas Positives zu sagen. Da wird nicht über mögliche Dauer oder Gründe nachgedacht. Da wird einfach verneinend gesagt: „Nicht hält er fest bis zum Ende an seinem Zorn“! Denn das Gewicht liegt ganz auf der uns stärkenden und helfenden Einsicht: „Denn Gefallen an der Güte hat er!“

Jetzt muss ich natürlich daran erinnern, dass sich Martin Luther doch mit dieser besonderen Herausforderung aus den „Zehn Geboten“ auseinandergesetzt hat: In seinem „Großen Katechismus“, auch aus dem Jahr 1529, hat er gerade diese Aussage aufgegriffen, aufgegriffen als eine, die sich „auf alle Gebote bezieht“. Allerdings hat damals Luther sehr viele Gedanken auf die Verfolgung der Bosheiten bis in die 3. und 4. Generation verwendet. Die will ich übergehen, denn hierauf liegt in der Reihe der Aussagen in Micha 7 kein wirkliches Gewicht. Deshalb reicht es, aus der Auslegung Martin Luthers zu erinnern, „dass Gott weder Selbstüberschätzung noch abergläubisches Vertrauen auf irgendetwas anderes dulden will und […] nicht mehr von uns verlangt, als dass wir von ihm alles Gute erwarten, so dass wir auf geraden Wegen durchs Leben gehen […]“. Und gerade, wie dieses Erwarten allen Gutes gelingen kann, das ist wichtig: „von Herzen auf Gott zu vertrauen mit aller Zuversicht, wenn wir alles Gute haben wollen für die Dauer unseres begrenzten Lebens auf dieser Erde und für das ewige Leben bei Gott, weil der hohe und erhabene Gott uns so entgegenkommt, so eindringlich um uns wirbt und so großzügige Zusagen ausspricht“![iii]

Einmal ganz einfach gesagt: Wenn uns Schwierigkeiten nicht zur Ruhe kommen lassen, wenn uns Probleme und Ängste vollständig mit Beschlag belegen – dann können, ja: dann sollen wir uns an diesen Gott erinnern, „der Gefallen hat an der Güte“, „der Zuverlässigkeit gibt“ denen, die sich zu ihm halten – also uns!

Prüfen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, Ihr eigenes Leben. Nehmen Sie wahr, ob es noch lang hängende Verletzungen gibt – empfangene oder ausgeteilte. Und prüfen Sie, ob dieses alte Bibelwort, dieser so aktuelle und neue Glaube an Gott Sie doch ermutigen kann, alles Alte als beiseite Geräumtes zu erkennen, als in ein »Schwarzes Loch« Geschleudertes zu vergessen! Ich kann nur sagen: Ja, Gott räumt dieses Alte beiseite, Gott ermutigt zu neuer Freiheit von alten Verletzungen!

Amen.

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“

Dr. Rainer Stahl

Erlangen

rainer.stahl.1@gmx.de

[1951 geboren, Studium der Theologie in Jena, Assistent im Alten Testament, 1981 ordiniert, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, zwei Jahre lang Einsatz beim Lutherischen Weltbund in Genf, dann Pfarrer in Altenburg, Alttestamentler an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, Referent des Thüringer Landesbischofs in Eisenach, seit 1998 Dienst für den Martin-Luther-Bund (das lutherische Diasporawerk) in Erlangen, seit 2016 im Ruhestand.]

[i]   Vgl. Jean-Daniel Macchi: Micha, in: Thomas Römer, Jean-Daniel Macchi u. Christophe Nihan: Einleitung in das Alte Testament, Zürich 2013, S. 481-486.

[ii]   Vgl. die Anregung durch Andreas Schüle: „Und schließlich doch »Gefallen an der Gnade«?, der Exodus / 2. Mose 34,6-7 ins Gespräch gebracht hatte, in: Alexander Deeg u. Andreas Schüle. Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte, Leipzig 22018, S. 319-321.

[iii]   Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Gütersloh 2013, S. 522f und 521.

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