Titus 3,1-7

Home / Bibel / Neues Testament / 17) Titus / Titus 3,1-7
Titus 3,1-7

„Die Menschenfreundlichkeit Gottes“ | Weihnachten 2022 | Tit 3,1-7 | Christiane Tietz |

im Evensong der Theologischen Fakultät Zürich am 21. Dezember 2022 

Liebe Evensong-Gemeinde

Nein, Philanthropie, das ist nicht die Liebe zur eigenen Briefmarkensammlung. Philanthropie ist – seit der Antike – die hohe Tugend der Menschenliebe, der Menschenfreundlichkeit. Sie übte man schon im freundlichen Begrüssen des Anderen, aber mehr noch in Gastfreundschaft und Wohltätigkeit. Sie war eine Tugend der Höherstehenden und Teil des antiken Herrscherideals. Bei Göttern und Heroen, Königen, Feldherren und Richtern konnte man sie ausmachen. Diesen Gestalten wurde Philanthropie, Menschenfreundlichkeit nachgesagt, wenn sie trotz ihrer Stärke eine humane Gesinnung gegenüber den Schwachen und Bedürftigen praktizierten. Ob sie gleichzeitig Briefmarken sammelten, ist in den Quellen nicht überliefert.

Freilich, nach antikem Verständnis geschah Philanthropie im Gestus wohlwollender Herablassung. Wer sie pflegte, blieb bei seinem gesellschaftlichen Status und wandte sich huldvoll an die da unten. Philanthropie richtete sich ausserdem nur auf eine bestimmte Menschengruppe, zumeist diejenige, der man selbst angehörte. Und man trieb sie in der Erwartung, dass sie einem selbst Vorteile brachte. Auch heute ist der Begriff noch in Gebrauch: Philanthropen sind Menschen, die mit dem Vielen, das ihnen gehört, anderen, die nicht so viel haben, Gutes tun.

Im Neuen Testament kommt das Wort filanqrwpi,a zweimal vor: In Apostelgeschichte 28,2 zur Beschreibung von „aussergewöhnlicher Freundlichkeit“, wie die Zürcher Bibel übersetzt. Die Einheimischen von Malta wandten sie gegenüber denen an, die vor der Insel Schiffbruch erlitten hatten; sie machten Feuer, als es die Gestrandeten fror, und nahmen die Fremden bei sich auf. Und das Wort filanqrwpi,a findet sich im heutigen Predigttext aus Titus 3,1-7. Ich lese aus der Zürcher Bibel:

Erinnere sie daran, sich den Machthabern und Autoritäten unterzuordnen, ihnen zu gehorchen und zu jedem guten Werk bereit zu sein, niemanden schlechtzumachen, keinen Streit zu suchen, freundlich zu sein und allen Menschen gegenüber Milde walten zu lassen. Denn auch wir waren einst unverständig, ungehorsam, ohne Ziel und Halt, Begierden und allerlei Gelüsten ausgeliefert; wir lebten in Bosheit und Missgunst, waren verhasst und hassten einander. Als aber die Güte und filanqrwpi,a, die Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschien, nicht aufgrund von gerechten Taten, die wir getan hätten, sondern weil er Erbarmen hatte mit uns, da rettete er uns durch das Bad der Wiedergeburt und durch die Erneuerung im heiligen Geist, den er in reichem Masse über uns ausgegossen hat, durch Jesus Christus, unseren Retter, damit wir, durch seine Gnade gerecht gemacht, das ewige Leben erben, auf das wir unsere Hoffnung gesetzt haben.

Der Text aus dem Brief an Titus beschreibt ein Nachher und ein Vorher. Vorher kreisten der Briefschreiber und die Briefhörer ausschliesslich um sich selbst und waren dabei voller Bosheit, Neid und Hass gegen andere Menschen. Sie waren Misanthropen. Nachher ist es ihnen so selbstverständlich geworden, allen Menschen mit Augenmass und Weitherzigkeit (evpieikh,j) und mit Milde (prau<thj) zu begegnen, dass sie von Titus nur noch daran erinnert werden sollen: „Erinnere sie daran, allen Menschen gegenüber freundlich zu sein und Milde walten zu lassen“.

Was brachte die Wende vom Vorher zum Nachher, vom Kreisen um sich selbst zur Weitherzigkeit, vom Hass gegen andere zur Milde ihnen gegenüber? Die Güte und filanqrwpi,a, die Menschenfreundlichkeit Gottes.

Der Brief überträgt die Tugend des antiken Herrscherideals auf Gott. Was denn gibt der starke Gott von dem Vielen, was er hat, den schwachen, bedürftigen Menschen? Martin Luther, der über den Text mehrfach gepredigt hat, antwortet auf diese Frage: sich selbst. Gott gibt nicht „Gold oder Berge von Silber“. Gott hat den Himmel geöffnet und sich freundlich gezeigt: „Ich schicke meinen Sohn, der geboren wird, und kanns lieblicher nicht machen, damit die Welt verstehe, was ich bin und will.“

In ihm schicke ich dir mein Herz, den einzigen Schatz, der dein Herz zufriedenstellen kann. In ihm gebe ich dir, damit du bekommst und satt wirst und es dir an nichts fehlt. Lässt du dich davon berühren, dann kannst du aufhören, die ganze Zeit um dich selbst zu kreisen. Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit bringt die Wende.

Gottes Güte bedeutet nach Luther genauer: Die erschrockenen Herzen finden bei Gott Zuflucht. Ihre Furcht, nicht zu genügen, es nicht zu schaffen, ausgegrenzt zu werden, kann durch die Güte Gottes beruhigt werden. Das tiefe menschliche Angstzittern darf aufhören.

Gottes Philanthropie verdeutscht Luther mit „Leutseligkeit“, ein Wort, das wir heute kaum noch gebrauchen. Luther erklärt, was Leutseligkeit bedeutet: Gott ist freundlich gegenüber den Leuten. Er will um sie sein. Er sucht sie, läuft ihnen nach, gibt nicht auf, auch wenn sie ihn abweisen. So gern ist Gott bei den Leuten, d.h. bei ganz gewöhnlichen Menschen. Philanthropie, Leutseligkeit Gottes heisst: Gott will gern bei uns Leuten sein: zu unserer Seligkeit, zu unserem Wohl.

Mir ist besonders wichtig: Hier zeigt sich eine andere Menschenfreundlichkeit als die der wohlwollenden, huldvollen Herablassung des Starken gegenüber dem Schwachen, der ansonsten in seiner Welt bleibt. Gott bleibt „nicht in seiner Majestät“ und spielt mit den Engeln (Luther). Er bleibt nicht bei sich selbst und in der ihm vertrauten himmlischen Gesellschaft. Er kommt dem Menschen, allen Menschen ganz nah, indem er selbst ein Mensch wird. „Ich spiele [sagt Gott] gern auf Erden, hab meine Freude an den Menschen, … bin gern um sie, hab sie gern um mich“ (Luther). Einen weiteren Vorteil für sich erwartet Gott nicht.

Gott übt die philanthropische Gastfreundschaft so aus, dass er uns nicht kurz bei sich einen Tee nehmen lässt, sondern dass er sich selbst dauerhaft bei uns zu Gast bittet (Luther). Gott bringt – so Luther – mit sich „all sein Gut, [seine] Gnade, was er in der ganzen Göttlichkeit hat, damit er mit uns reden kann, uns anschauen, an uns handeln, bei uns übernachten, essen, trinken, bei uns sein, kurz: er ist ein totus philanthropos, einer totaler Menschenfreund.“

Als Gastgeschenk bringt Gott seine Gnade mit. Indem seine Gnade mich berührt, seine freundliche Zuwendung, für die ich nichts leisten muss, kommt Gott mir näher, als ich mir selbst nahe zu sein vermag (E. Jüngel). Er will mich auch in Bereichen berühren, die ich lieber – auch vor mir selbst – verbergen möchte. Anschaulich hat es Huldrych Zwingli ausgedrückt: Gott ist wie ein Taucher. Der Mensch besitzt nach Zwingli „so viele und so tiefe Höhlen …, in die er sich zurückzuziehen hofft … Darum brauchen wir, wollen wir den Menschen erkennen, Gott und ihn allein als Taucher.“ Gott ist der, der nach Zwingli in die „Schlupfwinkel unseres Wesens hinabtauchen“ kann. Dem Menschen selbst fällt es schwer, seine Höhlen zuzugestehen. Aber wenn er spürt, dass Gott einfach gern mit ihm zusammensein will, mit allem, was ihn ausmacht, dann kann der Mensch auch seine tiefsten Höhlen anschauen.

Diese Güte und Leutseligkeit Gottes begegnet in Jesus Christus. Weihnachten ist die Einladung, sich darauf einzulassen, dass Gott gern bei uns ist und uns ganz nahekommt. An Weihnachten zeigt sich Gott – noch einmal Worte von Martin Luther – als „Windelherr und Krippenfürst“. „deus natus ex virgine Maria et sugat lac humanum … natus deus et factus homo und hat sich lassen baden, brey einstreichen“. Das ist nicht einfach niedlich, sondern hat grundstürzende Bedeutung dafür, wie wir Gott denken sollen. In dieser Kleinheit und Schwäche, in diesem zerbrechlichen, auf andere angewiesenen Baby zeigt Gott uns sein Herz.

Wenn Gott so sein Herz zeigt, dann ist klar: diese Menschenfreundlichkeit Gottes, dies, dass Gott ganz, ganz nah beim Menschen sein will, ist nicht eine Seite Gottes, neben der es eine andere, menschenfeindliche Seite gäbe. Nein, in seiner Menschenfreundlichkeit ist Gott ganz er selbst. Hier zeigt er, wer er wirklich ist.

Was ich selbst dafür machen muss, dass Gott gern bei mir ist? Nichts. Ausser es mir gefallen zu lassen. Und das ist gar nicht so einfach.

Denn Gottes Schwachheit irritiert den starken Menschen, der gewöhnt ist, sich von seiner Kraft, seinem Mut, seinem Durchhaltevermögen her zu verstehen. Dieser denkt sich am liebsten einen starken Gott, der auf der Seite der Starken steht. Der schwache Gott widerspricht seinem Ideal des Kraftvollen, Mutigen. Eine Weihnachtsfrage könnte sein: Kann ich meine Schwachheit zulassen?

Und Gottes Nähe irritiert den selbständigen Menschen, der sich selbst genug ist, der sein Leben daran bemisst, dass er selbst allein mit allem klarkommt. Dieser denkt sich am liebsten einen selbstgenügsamen Gott, der seinerseits ohne den Menschen zufrieden ist. Der nähe- und beziehungsorientierte Gott widerspricht seinem Ideal der Selbständigkeit. Eine andere Weihnachtsfrage könnte sein: Kann ich zulassen, dass ich nicht allein mit allem klarkommen muss?

Schliesslich irritiert Gottes Gnade den tätigen Menschen, der seine Identität vor allem aus dem zieht, was er selbst leistet und zuwege bringt. Dieser denkt sich am liebsten einen beurteilenden Gott, der den Menschen nach seinen Leistungen anerkennt. Der auf diese Leistungen keine Rücksicht nehmende Gott widerspricht seinem Ideal der Leistungsorientierung. Und die letzten Weihnachtsfragen könnten sein: Kann ich zulassen, dass ich persönliche Fehlleistungen einzugestehen habe? Kann ich zulassen, dass ich auch mal nichts leisten muss?

Wenn Gott so gern beim Menschen sein will, wenn er sich ganz in die Welt der Menschen hineingibt, dann müssen und dürfen wir, um mit Gott zu sein, nicht vor den Menschen fliehen oder sie hassen. Dann können und sollen auch wir Menschenfreunde, Philanthropen sein. Dann können und sollen auch wir gern „bei den Leuten sein“ und den Schiffbrüchigen im übertragenen wie im wörtlichen Sinne freundlich helfen. Das kann jede und jeder an seinem Platz, dort, wo Gott ihn und sie gerade hingestellt hat.

Liebe Evensong-Gemeinde,

Schenke Gott uns, schenke Gott Dir in dieser Weihnachtszeit, dass Du seine Menschenfreundlichkeit neu entdeckst. Sie gilt jedem Menschen, also auch Dir.

Amen.

de_DEDeutsch