Tu deinen Mund auf und iss!

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Tu deinen Mund auf und iss!

Predigt zu Hesekiel 2,1-5.8-10 + 3,1-3, verfasst von Gert-Axel Reuß |

„Iii…bäh!“

Es ist wirklich schwierig, ein Kind zu füttern, das nicht essen will. Noch schwieriger wird es, wenn es bittere Pillen sind, die man verabreichen muss. Wenn man alle Überredungskünste aufwenden, tief in die Trickkiste der Täuschungsmanöver greifen muss.

Ist es ein Wunder, dass die Kinder harte Köpfe und verstockte Herzen haben?

Liebe Gemeinde,

bittere Medizin, die Leben rettet. – Wir sind froh, dass es Antibiotika gibt, auch wenn sie nicht süß schmecken. Froh über das eine oder andere Medikament, auch wenn die großen Kapseln gelegentlichen Brechreiz auslösen. Wir hoffen mit den Menschen in China, dass es bald wirksame Therapien gegen das Virus geben wird. Auch wenn die jetzt ergriffenen Maßnahmen, um die weitere Ausbreitung der Krankheit zu unterbinden, die Bewegungsfreiheit der Menschen drastisch einschränkt – das müssen die Betroffenen wohl schlucken, wenn sie überleben wollen. Und wir ja auch.

„Ich weiß, was gut für dich ist.“

Kindern bleiben wenig Alternativen zu den Entscheidungen, welche die Erwachsenen (vor allem die Eltern) für sie treffen. Je kleiner sie sind, desto leichter kann man sie durchsetzen. Auch gegen ihren Willen. Aber was ist, wenn sie größer werden? Ihren eigenen Kopf haben. Das notwendig Notwendende nicht einsehen wollen.

Und was ist mit uns? Wenn andere sagen, was für uns (alle) gut ist? Verweigern wir uns der Wahrheit? Oder schlucken wir sie? Auch wenn sie schwer verdaulich ist. Wie stark ist unsere Einsichtsfähigkeit ausgeprägt? Wie groß unser Vertrauen in Botschaften, die wehtun?

Wer jetzt an den Klimawandel denkt, an den unglaublichen Verpackungsmüll, den wir produzieren. An ungebremsten Ressourcenverbrauch. An die Schuldenkrise der armen Länder, die es ja nicht ohne deren Gläubiger – also auch uns – gäbe. An eine globale Verteilungs-Ungerechtigkeit als Auslöser für Krieg und Gewalt. Der/die wird zumindest nachdenklich.

Was hilft heraus aus unseren Denkblockaden und Realitäts-Verweigerungsstrategien?

Wer führt uns durch das Tal der Tränen in eine verheißungsvolle Zukunft?

Heute morgen begegnet uns ein alter Prophetentext mit Lösungsansätzen, die näher zu betrachten sich lohnt.

[Textlesung Hes 2, 1-5.8-10 + 3, 1-3]

2, 1 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, stelle dich auf deine Füße, so will ich mit dir reden. 2 Und als er so mit mir redete, kam der Geist in mich und stellte mich auf meine Füße, und ich hörte dem zu, der mit mir redete. 3 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, ich sende dich zu den abtrünnigen Israeliten und zu den Völkern, die von mir abtrünnig geworden sind. Sie und ihre Väter haben sich bis auf diesen heutigen Tag gegen mich aufgelehnt. 4 Und die Kinder, zu denen ich dich sende, haben harte Köpfe und verstockte Herzen. Zu denen sollst du sagen: »So spricht Gott der HERR!« 5 Sie gehorchen oder lassen es – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –, dennoch sollen sie wissen, dass ein Prophet unter ihnen gewesen ist. 6 Und du, Menschenkind, sollst dich vor ihnen nicht fürchten noch vor ihren Worten fürchten. Es sind wohl widerspenstige und stachlige Dornen um dich, und du wohnst unter Skorpionen; aber du sollst dich nicht fürchten vor ihren Worten und dich vor ihrem Angesicht nicht entsetzen – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –, 7 sondern du sollst ihnen meine Worte sagen, sie gehorchen oder lassen es; denn sie sind ein Haus des Widerspruchs. 8 Aber du, Menschenkind, höre, was ich dir sage, und widersprich nicht wie das Haus des Widerspruchs. Tu deinen Mund auf und iss, was ich dir geben werde. 9 Und ich sah, und siehe, da war eine Hand gegen mich ausgestreckt, die hielt eine Schriftrolle. 10 Die breitete sie aus vor mir, und sie war außen und innen beschrieben, und darin stand geschrieben Klage, Ach und Weh.

3, 1 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, iss, was du vor dir hast! Iss diese Schriftrolle und geh hin und rede zum Hause Israel! 2 Da tat ich meinen Mund auf und er gab mir die Rolle zu essen 3 und sprach zu mir: Du Menschenkind, gib deinem Bauch zu essen und fülle dein Inneres mit dieser Schriftrolle, die ich dir gebe. Da aß ich sie, und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.[1]

 

Liebe Gemeinde,

vielleicht muss man ein Prophet – oder eine Prophetin – sein, um die bitteren Wahrheiten bereitwillig zu schlucken. Vielleicht braucht es eine besondere Bereitschaft, das schwer Verdauliche in sich aufnehmen zu können. Nicht alle können das. Und – so scheint es – sie müssen dies auch nicht. „Dennoch sollen sie wissen, dass ein Prophet unter ihnen gewesen ist.“ (K. 2, V. 5)

 

Ich lese und höre das so, dass „Friss Vogel oder stirb“ nicht die Devise Gottes ist, sondern dass Gott sehr wohl um die Befindlichkeiten von uns Menschen weiß und deshalb mit pädagogischem Geschick einen Schritt nach dem anderen setzt.

Natürlich denke ich bei dem Propheten, der unter uns gewesen ist, zuerst und vor allem an Jesus Christus. Er isst das Wort Gottes nicht nur wie eine von beiden Seiten beschriebene Schriftrolle und schluckt es herunter wie Hesekiel – er ist Gottes lebendiges, sein fleischgewordenes Wort, das auch heute unter uns wirkt:  manchmal aufrüttelnd und manchmal tröstend, immer ermutigend und stärkend.

Was Hesekiel allerdings nicht überflüssig macht. Im Gegenteil. Wenn uns das Vorbild und Beispiel Jesu Christi in die Ferne des Unerreichbaren zu entschwinden droht – „Das schaffen wir sowieso nicht! Das ist für uns eine Nummer zu groß!“ – bietet die Berufungsvision des Propheten (Hesekiel) Ansatzpunkte für einen Weg, den auch wir gehen können.

Der erste Schritt scheint etwas total Passives zu sein. Etwas, das mit mir geschieht – ohne dass ich etwas dafür oder dagegen tun kann: Hesekiel fährt der Geist Gottes in die Glieder. Und während der Prophet den Anruf Gottes hört, dass er sich auf seine Füße stellen und genau zuhören soll, geschieht dies auch schon.

Ich lese und höre: Gottes Geist ist unter uns lebendig. Darauf dürfen wir fest vertrauen. Auch darauf, dass er uns hörbereit macht – auch wenn diese Arbeit an uns Menschenkindern harte Arbeit ist, weil erst einmal unsere Hörfähigkeit hergestellt werden muss.

Da gibt es viele Widerstände zu überwinden, aber wir sind Gott der Mühe wert.

Deshalb – so der zweite Schritt – sendet er seinen Propheten. Zeugnis für Gottes Wahrheit und Wirklichkeit abzulegen, begreift Hesekiel als seine Aufgabe – ob die Menschen und Völker das hören wollen oder nicht. Die Betonköpfe verständig zu machen und die Herzen aus Stein so zu beleben, dass ein neuer Geist in uns Menschen wohnt – Gott wird es tun (vgl. Hes 36, 26.27[2])! Und das gilt es anzukündigen. Nicht nur mit Worten, sondern vielmehr noch mit einer Haltung. Einer Haltung ausstrahlender Zuversicht und Gottvertrauen.

Drittens: Eine solche innere Haltung muss sich entwickeln. Denn Angst (V. 6) und Widerspruch (V. 8) sind dem Propheten ja nicht fremd. Hesekiel ist einer von ihnen, Teil des Volkes, welches in diesem Text ‚abtrünnig‘ genannt wird.

So ja auch wir. Auch wir, die wir heute morgen in diesem Gottesdienst zusammengekommen sind, sind ja nicht per se die ‚besseren Menschen‘, unterscheiden uns nicht so sehr von denen, die aus den unterschiedlichsten Gründen draußen geblieben sind, wie wir dies manchmal denken. Die Kirche als der ‚heilige Rest‘ – das ist nicht das Bild und der Anspruch Gottes. Wenigstens nicht in diesem Prophetenbuch.

Wir sind nicht ohne die anderen – das macht das Prophetenamt so anstrengend. Aber doch auch verheißungsvoll!

Viertens: Die Schriftrolle, beidseitig beschrieben, so dass der Prophet dem Wort Gottes nichts hinzufügen kann. Darin stand geschrieben Klage, Ach und Weh (V. 10).

 

Bittere Wahrheiten sind es, die sich hinter den Problemen dieser Welt verbergen. Damals nicht anders als heute. Aber es ist schwer, diese auszusprechen. Niemand will sie hören. Natürlich nicht. Und so entwickeln sich Widerspruchsgeist und Nicht-Wahrhaben-wollen, bis das Offenkundige nicht mehr verleugnet werden kann.

Deshalb: Bevor Hesekiel gesandt wird, Gottes Wort auszusprechen, muss er es erst einmal verdauen. Ein Vorgang, der nicht nur Zeit kostet, sondern der Hesekiel überhaupt erst zum Propheten macht. Ihn sozusagen verwandelt, so dass er nicht nur irgendeiner ist in diesem auserwählten Volk unter all den Völkern – die, wie wir gehört haben alle abtrünnig geworden sind (V. 3). Keines besser als das andere. Auch keines ist Gott näher als die abtrünnigen Israeliten!

Hesekiel wird zum Boten Gottes. So wie sein Wort in ihn gefahren ist wie ein Blitz, so wird es auch aus ihm herausbrechen. Und – richtig verdaut – wird es nicht nur Klage, Ach und Weh sein, sondern in dem allen wird doch zugleich spürbar und ganz gewiss auch hörbar, dass Gott sein Volk – und wie wir heute fest glauben: alle Völker – nicht verloren gibt, sondern in eine neue Zukunft führen will:

(Hes 36, 26. 27)  Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun.

Zuletzt: All das schmeckt der Prophet schon, während er noch kaut.

Da aß ich sie (die Schriftrolle), und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.

 

Ist das nicht eine wunderbare Verheißung? Dass auch diese bittere Medizin einen Vorgeschmack der Heilung enthält?!

Frei von Lebenslügen und Selbsttäuschungen liegt eine Zukunft vor uns, in der Frieden und Gerechtigkeit sich küssen. – Gut, nein: schlecht ist, dass wir so wenig davon sehen in dieser Zeit, in dieser Welt. Und dass wir erkennen müssen, dass das alles auch mit uns zu tun hat. Wenigstens damals war das so zu Zeiten eines Hesekiel und all der anderen Propheten. Israel mittendrin in dem ganzen Schlamassel und wir mit unseren Betonköpfen gelegentlich und mit manchmal harten Herzen auch. Mittendrin noch. Zum Weinen!

Ja, das Weinen gehört auch dazu, auch wenn davon bei Hesekiel an dieser Stelle nichts steht. Aber es sind nicht nur Tränen der Scham, sondern zugleich doch auch Tränen, die befreien. Weil Schuld erkannt und eingestanden werden kann. Und so eine Tür aufgeht zu einem anderen Verhalten und Tun.

Hesekiel ist noch mittendrin. Und wir sind es auch. Aber er zeigt uns einen Weg, den er gegangen ist. Und den auch wir gehen können. Ja, auch wir! Vielleicht keine Prophetinnen und Propheten, aber doch Zeuginnen und Zeugen des befreienden, erlösenden Wortes Gottes. Und dann ist Jesus Christus gar nicht mehr so unerreichbar weit entfernt, sondern mitten unter uns.

Amen.

[1] Ich schlage vor, die Verse Hes 2, 6-7 – hier in grau gedruckt – nicht zu lesen.

[2] s.u.

Domprobst Gert-Axel Reuß
Ratzeburg, Deutschland
E-Mail: gertaxel.reuss@ratzeburgerdom.de
de_DEDeutsch