Menschenkind, iss, was du…

Home / Aktuelle (de) / Menschenkind, iss, was du…
Menschenkind, iss, was du…

Menschenkind, iss, was du vor dir hast! | Predigt zu Hesekiel 2,3a.8-10 + 3,1-3, verfasst von Rainer Oechslen |

Liebe Gemeinde,

„Menschenkind, iss, was du vor dir hast!“

Hesekiel, der Sohn des Busi, wird zum Propheten berufen am Fluss Kebar, in der Verbannung im Lande der Chaldäer (1,3). Eine Schriftrolle wird ihm übergeben. So sendet man Botschafter zu anderen Völkern, an die Höfe fremder Könige.

Doch es reicht nicht, dass Hesekiel die Schriftrolle nimmt und weiterträgt. Es reicht auch nicht, dass er sie liest auf Vorder- und Rückseite, sie ist ja doppelseitig beschrieben. Es würde nicht einmal reichen, die Botschaft auswendig zu lernen. Inwendig muss die Botschaft werden: Hesekiel soll die Schriftrolle aufessen.

„Menschenkind, iss, was du vor dir hast!“

Papier essen oder in diesem Fall Pergament, eine ganze Schriftrolle gar: Da tauchen zwei Bilder auf vor meinem inneren Auge.

Zuerst denke ich an das Sams, das kleine Wesen mit roten Bürstenhaaren und vielen blauen Punkten im Gesicht, das an einem Samstag zu Herrn Taschenbier nach Bamberg kommt und sein Leben gründlich durcheinanderbringt. Wie oft habe ich Paul Maars Geschichten vom Sams vorgelesen! Wie oft sind wir in unserer Phantasie mit ihm durch Bamberg gegangen! Das Sams kann fast alles essen. Als Herr Taschenbier mit ihm ins Gasthaus geht, isst das Sams erst einmal die Speisekarte auf. Ich höre noch das Lachen meiner Kinder an dieser Stelle. Vermutlich hätten sie das auch gerne gekonnt.

Dann fallen mir sehr viel ernstere Bilder ein aus einem Film. Es ist in den Tagen nach dem 20. Juli 1944. Die Geheime Staatspolizei kommt zur Durchsuchung in ein Berliner Büro. In der Schreibtischschublade liegt ein Zettel mit einer Namensliste. Wenn die Polizei den Zettel findet, ist es das Todesurteil für alle Leute, die darauf stehen. In letzter Minute greift einer der Verschwörer nach der Liste und verschlingt sie; sich kann er nicht mehr retten, aber die anderen.

Menschenkind, iss, was du vor dir hast!“

Auf dem Menü in Bamberg stehen Speisen, auf dem Zettel in Berlin stehen Namen – was steht auf der Schriftrolle, die Hesekiel aufisst? „Sie war außen und innen beschrieben, und darin stand geschrieben Klage, Ach und Weh.“ Jetzt wird klar, wer diese Rolle beschriftet hat: Es ist Gott selber, der seine Klagen niedergeschrieben hat, sein Ach und sein Weh, weil sein Volk „abtrünnig“ ist, weil es ein „Haus des Widerspruchs“ geworden ist.

Später wird Hesekiel eine Vision haben. Da schickt Gott einen Engel durch die Stadt Jerusalem. Der Engel soll allen Leuten ein Zeichen an die Stirn machen, „die da seufzen und jammern über alle Gräuel, die darin geschehen“ (9,4). Denn die sich nicht an das Unrecht in der Stadt gewöhnt haben, die mit Gott zusammen seufzen und jammern, die werden gerettet werden.

Die Frage ist: Wie kann die Botschaft von Gottes Klage, Ach und Weh im Mund des Propheten „so süß wie Honig“ sein? Müsste diese Botschaft ihm nicht gallenbitter schmecken? Müsste sie ihm nicht schwer im Magen liegen? Wie soll denn ein Prophet kein Bauchweh bekommen, wenn er Gottes Klage fressen muss?

Tatsächlich wird in der Offenbarung des Johannes einem anderen Propheten auch ein Büchlein gereicht und es wird ihm gesagt: „Nimm und verschling’s!“ (Off 8,9) Er gehorcht und berichtet: „Und ich nahm das Büchlein aus der Hand des Engels und verschlang es. Und es war süß in meinem Mund wie Honig, und als ich es gegessen hatte, war es mir bitter im Magen.“ (Off 10,10)

Also noch einmal:  Wie kann es sein, dass die Botschaft von Gottes Ach und Weh diesem Propheten Hesekiel keine Bauchschmerzen bereitet? Warum spürt er nicht die Last seiner Botschaft? Anderen Propheten ist ihre Botschaft unsagbar schwer geworden.

Auch Hesekiel wird seine Aufgabe noch schwer werden, sehr schwer. Schon im nächsten Kapitel heißt es, dass ihm „die Schuld des Hauses Israel“ (4,4) aufgeladen wird. Zum Zeichen dafür soll er 390 Tage auf seiner linken Seite liegen und 40 Tage auf seiner rechten und in der Zeit nur sehr knappe Nahrung erhalten, eine Hungerration. Ein anderes Zeichen wird sein, dass ihm seine Frau sterben wird, die doch „seiner Augen Freude“ ist und Hesekiel keine öffentliche Totenklage halten und „keine Träne vergießen“ darf. Nur „heimlich“ darf er um sie „seufzen“ (24,16-17).

Hier aber ist es noch nicht so weit. Hier ist er ganz ergriffen davon, dass Gott ihn berufen hat. Nicht auf der Seite seines Volkes steht er in dieser Stunde, sondern allein auf Gottes Seite. Dass dieser Gott ihm sein Wort in den Mund legt, das geht ihm ein wie Honig – mag das Wort Gottes auch Klage, Ach und Weh sein.

Ich frage ein drittes Mal: Darf das sein? Darf ein Prophet sich so auf Gottes Seite stellen, dass er das Mitgefühl, die Solidarität mit seinem Volk, seiner Gemeinde vergisst?

Ich glaube: Normalerweise darf das nicht sein. Ich bin kein Prophet, nur ein Pfarrer. Aber auch ich glaube, dass Gott sein Wort heute in meinen Mund legt – sonst dürfte ich nicht auf dieser Kanzel stehen. Doch ich bin auch der Anwalt der Gemeinde, stehe für die Gemeinde vor Gott. Wenn sich Gott über seine Gemeinde beklagt, dann beklagt er sich zuerst über mich. Wenn Gott seine Gemeinde kritisiert, dann kritisiert er zuerst mich. Wir Prediger haben Gottes Botschaft auszurichten, doch diese Botschaft gilt zuerst uns selbst und dann erst unseren Hörerinnen und Hörern.

Aber es gibt Ausnahmen. Es gibt Stunden, da muss ein Prediger ganz auf der Seite Gottes stehen.

Ein Beispiel wird das erklären: Es ist der 6. November 1932, Reformationsfest. An diesem Tag ist schon wieder Reichstagswahl in Deutschland. Die NSDAP wird 33 % der Stimmen erhalten, mehr von Protestanten als von Katholiken, in meiner Heimat im Westen Mittelfrankens noch mehr. An Morgen dieses Tages predigt der siebenundzwanzigjährige Dietrich Bonhoeffer in Berlin über das Bibelwort: „Aber ich habe wider dich, dass du die erste Liebe verlässt …“ (Off 2,4)

Bonhoeffer sagt: „Die protestantische Kirche begeht ihren Tag. Es gehört zu ihren herkömmlichen Obliegenheiten zu protestieren. Wogegen sie protestiert, das kann sehr verschieden sein; aber protestieren muss sie – also diesmal Protest gegen den Säkularismus in Gestalt der Gottlosigkeit, natürlich auch – und diesmal vielleicht besonders – gegen den Katholizismus und seine Gefahren (gemeint sind natürlich nur die politischen Gefahren)“ – Es trat ja auch die katholische Zentrumspartei zur Wahl an. Weiter Bonhoeffer: „Protest für die Freiheit des Denkens und des Gewissens, des Individuums; Protest gegen Unsitte und Unglaube; Protest gegen alle, die nicht in der Kirche sind, die also von dem Protest wenig Notiz nehmen, das heißt der Tag des Protestantismus! Wie leicht, wie selbstgewiss können wir protestieren, und wir haben ein verbrieftes Recht darauf. Welch herrlicher Tag. ‚Wir protestieren!‘ schreien wir; Gott jedoch spricht: Aber ich habe wider dich … Das heißt: Gott protestiert; gegen wen? Gegen uns und unseren Protest! Hören wir’s denn nicht? Protestantismus heißt nicht: unser Protest gegen die Welt, sondern Gottes Protest gegen uns. Aber ich habe wider dich …  Wenn ich jetzt dies Wort so zu sagen vermöchte, dass es uns wirklich weh tut. Es soll uns weh tun, es wäre sonst Gottes Wort nicht.“

„Es soll uns weh tun“, sagt Bonhoeffer. Er hat später noch viel an seiner Kirche und um seiner Kirche willen gelitten. Aber in dieser Stunde, da die evangelische Kirche sich selbst bejubelt, in dieser Stunde, da – vermutlich in einer anderen Kirche, wir wissen es nicht genau – der Reichspräsident Hindenburg den Gottesdienst besucht, stellt Bonhoeffer sich auf die Seite Gottes, trägt der Gemeinde Gottes Klage vor, sein Ach und Weh. Man merkt es der Predigt an: Es schmeckt Bonhoeffer süß wie Honig, dass er berufen ist, dieses Wort auszurichten, an diesem Reformations- und Wahltag, da es so gefährlich steht um Deutschland und die Kirche.

Gott wolle uns davor behüten, dass es je wieder Wahltage gibt wie jenen 6. November 1932. Und auch Reformationstage, an denen unsere Kirche sich selbst feiert, brauchen wir nicht. Aber wenn es wieder einmal solche Stunden gibt, an denen unser Kirche und unser Volk in die Irre gehen, dann möge Gott uns Propheten schicken wie Hesekiel oder Dietrich Bonhoeffer, Propheten, die sich auf Gottes Seite stellen, Propheten denen auch Gottes Klage, Ach und Weh so süß schmeckt wie Honig.

Amen

Pfr. Rainer Oechslen
Leutershausen, Deutschland
E-Mail: rainer.oechslen@elkb.de
de_DEDeutsch