Jesus Sirach 35,16–22a

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Jesus Sirach 35,16–22a

Über falschen Dampf gehört eine Dunstabzugshaube | Rogate | 09.05.2021 | Predigt zu Sirach 35,16–22a | verfasst von Manfred Mielke |

Hinweis: Diese Predigt können Sie sich auch anhören!

Über falschen Dampf gehört eine Dunstabzugshaube

Liebe Gemeinde,

die stämmige Frau wäscht einen großen Salatkopf. Sie drückt ihn mehrmals unter Wasser und schüttelt ihn aus. Dann hebt sie ihn hoch, um mit ihren beiden Handflächen das restliche Wasser aus ihm auszupressen. Mir tut der geplättete Salatkopf leid, sie aber lacht und fragt mich mit Blick auf den gedeckten Tisch: „Would you like to say a prayer?“ (Würdest Du gleich ein Tischgebet sprechen?) – Wir besuchen Heloise, ihre Diakonie und ihren Gottesdienst, weil sie hilft, eine Freikirche unter Migranten im Süden Londons aufzubauen. Aber ein freies Tischgebet auf Englisch? In meinem Kopf rauscht es. Ich bete vermutlich fehlerhaft, doch was sehe ich, als ich meine Augen öffne? Ihr Lachen. Und auch die Salatblätter hatten sich entfaltet.

Anschließend besuchen wir ihren Gottesdienst in einer zugigen Industrieruine. Nach der Predigt werden Opfergaben zusammengetragen, indem viele nach vorne gehen und Geld oder Lebensmittel auf den Tisch legen. Der Gemeindeleiter segnet die Gaben, dann teilt er das Geld auf und übergibt es gezielt Bedürftigen. Die Lebensmittel verteilt Heloise, ich erkenne sie an ihrem Lachen. – Diese direkte Umsetzung, sozusagen postwendend vor Aller Augen, sehe ich in etwa bei unserem heutigen Bibelabschnitt. Wir lesen: „Gott hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. Er verachtet das Gebet der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie klagt. Die Tränen der Witwen fließen die Backen herab und schreien gegen den, der sie hervorgerufen hat. Wer Gott dient, wie es ihm gefällt, der ist ihm angenehm, und sein Gebet reicht bis in die Wolken. Das Gebet der Elenden dringt durch die Wolken und lässt nicht ab, bis es vor Gott kommt, und hört nicht auf, bis der Höchste darauf achtet. Und der Herr wird recht richten und bestrafen und nicht säumen noch Langmut zeigen.“ (Sirach 35,16–22a)

 

Gott hilft dem Armen ohne Ansehen der Person – postwendend und vor Aller Augen. Und Gott erhört das Gebet des Unterdrückten, was oft zeitversetzt und im Verborgenen geschieht. In beidem ist er unmittelbar präsent, in jeder Krise und in jedem Leid. Die Tischgaben der Migranten wurden öffentlich zusammengetragen. Im Segen wurden sie gewidmet, ohne sie zwischenzubunkern. Und so, wie der Armenkasten sich füllte, wurde er auch geleert. Mir imponierte, dass nicht erst abgefragt wurde, wer Not hat und wer sich zu diesem Stigma outet, sondern im Vollzug der Hilfe war die ehemalige Not nur noch vermutbar. Wer etwas geben konnte, ging nach vorne, wer etwas bekam, dem wurde es gebracht. Es gab keine Warteschlange der Bittsteller, es gab aber eine Prozession der Abgebenden. Es gibt Hilfen, die bringen wir hin, und Hilfen, die kommen zu uns. Diese Wege bewusst zu gehen, wird sich in unserm Beten widerspiegeln.

Es war offensichtlich, dass der Gemeindeleiter die Notleidenden kannte, aber er rief sie nicht als solche auf. Ebenso war offensichtlich, dass die eßbaren Spenden aus spärlichen Regalen kamen, aber das Hintragen und das Austeilen vollzog sich nun in einem Flow. Ohne Formulare, ohne Abtretungserklärung, ohne Messingtafel an einer Sponsorenwand – als wäre alles einer Idee Gottes entsprungen. Denn Gott hilft und er erhört, das sind die Reflexe seiner Barmherzigkeit. In beiden ist er unkompliziert und unparteilich. Daraus erwächst uns der Mut zum ehrlichen und beharrlichen Gebet. Um den Kontakt herzustellen, brauchen wir keine Menüauswahl durchklicken und keine Wartemusik erdulden. „Das Gebet der Elenden dringt durch die Wolken und lässt nicht ab, bis es vor Gott kommt, und hört nicht auf, bis der Höchste darauf achtet.“

Gottes Helfen und sein Erhören bewirkt, dass wir uns aus der Deckung trauen. Im Gebet suche ich den Gott, der mich anschaut, und zwar nicht nur meine Schokoladenseiten. Im Gebet bitte ich Gott, mir zu helfen, und nicht nur die To-do-Liste abzuarbeiten, die ich ihm an die Hand gebe. Sollten aber unsere Worte versagen, dann entschlüsselt Gott das Schreien unserer Tränen. Er rettet den, der in seinen Tränen zu ertrinken droht, wie Ray Charles es von sich in seinem Song „Drown in my own tears“ singt. (Ich ertrank in eigenen Tränen.)

Zudem beobachtet unser heutiger Bibelschreiber, dass Gott zu seiner Außenwahrnehmung des Hörens auch eine innere Regung hat: „Das Gebet der Elenden hört nicht auf, bis der Höchste darauf achtet, es würdigt, ihm Priorität gibt.“ Gott lässt sich erweichen, fairer als der korrupte Amtsrichter, der von einer Witwe so in die Spannbacken genommen wird, dass er ihr lieber zu ihrem Recht verhilft, als durch sie ein demoliertes Gesicht davonzutragen. Das Beispiel „Witwe bezwingt Richter“ ist eine gute Veranschaulichung dafür, dass die Tränen einer Witwe, eines Witwers, eines Flüchtlingskindes stumm „gegen den schreien, der sie hervorgerufen hat.“ Mit großer Nüchternheit setzt hier die Bibel denjenigen auf die Anklagebank, der die Tränen seines Unrechts schönredet, z.B. als Sachzwang der Bürokratie oder als unschönen Kollateralschaden. Damit kritisiert die Bibel konkrete Amtsträger in ihrer vermeintlichen Sicherheit. „Denn wer Gott dient, wie es ihm gefällt, der ist ihm angenehm, und sein Gebet reicht bis in die Wolken.“ Es gibt Wolken, die Elendsklagen durchlassen, und Wolken, die geschlossen bleiben. Die werden allerdings von den Selbstgerechten, also auch von uns, als eine wohltuende Dunstglocke wahrgenommen. Die Verkäufer moderner Küchen würden dazu empfehlen: Über falschen Dampf gehört eine Dunstabzugshaube. Solche Gebete sind Gott zwar angenehm, aber er hält sie von sich fern. Er lässt diesen liturgisch korrekten Nebel so vor-sich-hin-schweben. Dagegen sind ihm der Qualm eines Sühnopfers und die Wehklagen ein anspornender Wohlgeruch.

Aber die unterschiedlichen Wolken sind auch für mich ambivalent. Bei einem der letzten Gebete mit meinem Vater spürten wir beide: Gott ist bei uns, auch unterhalb unserer Sorgendecke, und drum herum tut uns ein Sichtschutz gut. Doch als ich in einem Solidaritätsgottesdienst gegen die Zechenschließung beten sollte, hoffte ich, alle Wolken mögen durchlässig sein – für mich und für jeden, der zu seinem Gott mitbetet. Ich erinnere mich an Gebete, die mich selbst verlegen machten, und Gebete, nach denen mich jemand anlachte.

So ein Wolkenloch ist ein Durchlass für die Gebete der Opfer, für Gott jedoch bleibt es kein Guckloch. Er benutzt es als Schlupfloch und positioniert sich mitten ins Problem. Darauf reagiert unsere Bitte: „Ihr Wolken, brecht und regnet aus – den König über Jakobs Haus, den Anwalt der Unterdrückten.“ Denn Gott erscheint nicht nur als Empfinder und Betrachter, sondern als Energiebündel der Gerechtigkeit – seiner Gerechtigkeit. „So wird der Herr richten und bestrafen und nicht säumen noch Langmut zeigen.“ Gott wird die Urheber in ihre Krisen stolpern und untergehen lassen. Gott wird die Schäden den Verursachern ans Bein binden. Dabei wird er keine Amtswege und Antragsformulare und systembedingte Verzögerungen dulden. So unmittelbar wie Gott abhilft, kann er auch abstoßen. Tut er auch das ohne Ansehen der Person? Postwendend oder zeitversetzt? Im Verborgenen oder vor Aller Augen? Als der korrupte Richter der resoluten Witwe Recht gibt, wird er in den Augen seiner Komplizen zum Verräter. Dieses Problem als sein eigenes Elend zu begreifen, wird ihm helfen, mehr als die Angst, von einem resoluten Gott in letzter Instanz demontiert zu werden.

Heloise, die Mitarbeiterin bei der Gemeindegründung, die so unkonventionell Salat wäscht und Bedürftigen hilft, ist für mich als „Mutter im Glauben“ vergleichbar mit Hagar im Alten Testament. Sie war verstoßen worden und mit ihrem Kleinkind dem sicheren Tod in der Wüste ausgesetzt. Ihre Gotteserfahrung besingt ein neueres Lied mit diesen Worten: „Zärtlicher Klang: „Du bist nicht allein!“ Hoffnung keimt auf und Leben wird sein. „Gott hört“ – so beginnt meine Zuversicht. Die Sorge bleibt, doch bedroht mich nicht. Du bist ein Gott, der mich anschaut. Du bist die Liebe, die Würde gibt. Du bist ein Gott, der mich achtet. Du bist die Mutter, die liebt.“ Amen

(Text: Susanne Brandt 2016, Melodie: Miriam Buthmann; zum Reformationssommer 2017, you tube)

Liedvorschläge aus freiTöne (Liederbuch zum Reformationssommer):

fT 27: Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr (Lothar Zenetti 1974)

fT 31: Mit allen meinen Fragen steh ich, mein Gott, vor Dir (Susanne Brandt 2015/Mel: EG 365)

fT 32: Ich gehöre dazu, zu den Dränglern und Rufern (Kurt Rose 1986)

fT 33: Gott, du siehst mich/Du teilst meine Tränen (Sam Samba 2016)

Liedtext: Jesus – willkommen!

Text: Manfred Mielke 2017; Melodie EG 66

  1. Jesus will kommen und wandelt die Härte.

Wasser wird Wein und aus Steinen wird Brot.

Salz wird zur Würze, aus Saat wird Getreide,

Recht wird lebendig und pendelt im Lot.

Schweigen wir Christen, dann schreien die Steine.

Jeder ist wandelbar, keiner alleine.

  1. Jesus steht auf und der Stein rollt zur Seite.

Ostern ist siegreich, das Grab ist gesprengt.

Gott schickt den Tod in die todsichre Pleite,

hat seinem Sohn Auferstehung geschenkt.

Steine aus Sorgen, Enttäuschung und Hassen

rollen zur Seite und bilden nun Gassen.

  1. Christus wird bleiben der Fels der Gemeinde,

er ist der Eckstein, zugleich Fundament.

Baue darauf, wachse mit und verbinde,

laß auch ’ne Lücke, für den, der’s nicht kennt.

Jeder ist Fuge, ist Stein und auch Statik –

Christus fügt alles, wir sind sein Mo-sa-ik.

Fürbitten:

Guter Gott, höre uns, auch wenn wir fehlerhaft beten. Stabilisiere uns, wenn sich unser Bild von Dir ändert. Dass Du für alle in deinem Urteil unparteiisch bleibst und für jeden in deiner Hilfe barmherzig. Dass wir uns gemeinsam wiederfinden in deiner Langmut. # Christus, höre uns.

Schütze uns, dass wir Ausgegrenzte nicht auch noch verachten. Gib uns die Phantasie der Propheten und eine gesellschaftliche Akzeptanz unserer Diakonie. # Christus, höre uns.

Barmherziger Gott, die Pandemie frisst sich voran in hohem Tempo. Wir bitten dich um Kraft, allen Betroffenen beizustehen. Schenk uns zwischen den Generationen neue Zuversicht, ein gutes Wort und beständige Zuwendung. # Christus, höre uns.

Guter Gott, bewege die Kriegsparteien in Syrien, der Ukraine, Afghanistan und an den anderen Orten unserer Welt, mit dem Töten aufzuhören und ihre Truppen zurückzuziehen. # Christus, höre uns.

Bewege die Regierungen Europas, nach einer gemeinsamen Lösung für die Flüchtlinge zu suchen und eine gerechte Verteilung der Chancen und Lasten zu finden. # Christus, höre uns.

Stärke die Ehrenamtlichen in der Politik gegen persönliche Anfeindungen. Fördere in allen Parteien, einen klaren Kopf zu bewahren, dass unsere Gesellschaft nicht auseinanderdriftet. # Christus, höre uns.

Stärke die Mitarbeitenden in den Job-Agenturen, Sozialämtern und Familiengerichten, dass sie menschenfreundlich bleiben; gib allen die Fairness gegenüber Antragstellern. # Christus, höre uns.

Gott, präge uns zu mehr Risiko: Dass wir Zeugen unserer Hoffnung bleiben in den Konflikten unseres Wohnquartiers, unserer Kirche und unserer sozialen Netze. # Christus, höre uns.

So bitten wir Dich: Sende uns Deinen Geist! Amen.

Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geb 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (Theologie und Soziologie). Mitarbeit bei Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn und Ruanda. Instrumentalist und Arrangeur.

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