Sirach 35, 16-22a / Ein Gebet…

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Sirach 35, 16-22a / Ein Gebet…

Ein Gebet, das durch die Wolken dringt | Predigt für den Sonntag Rogate am  9. Mai 2021 | über Sirach 35, 16-22a (Perikopenreihe III) | verfasst von Susanna Kschamer |

Die Gnade unseres Herren Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen

Liebe Gemeinde,

der heutige Sonntag heißt Rogate – Betet!  Wie hören Sie  und wie hört Ihr die Aufforderung, die in diesem Namen steckt? –  „Betet!“ Was löst das bei Euch und Ihnen aus?

Wirkt es wie ein Ermahnung? Und dann denkt man vielleicht:  „Stimmt schon. Ich bete viel zu selten und auch eigentlich immer nur dann, wenn es mir schlecht geht. Ich danke Gott eigentlich nie. Da sollte ich in Zukunft…“ Bei religiös erzogenen Menschen stellt sich dann vielleicht ein schlechtes Gewissen ein. Aber Freude wohl eher nicht.

Oder hören Sie es als Ermutigung? Und es geht Ihnen das Herz auf und Ihr denkt vielleicht: „Ich könnte mir öfter Zeit zum Beten nehmen. Ich muss nicht immer alles alleine schaffen. Ich darf mit meinen Bitten zu Gott kommen. Und meine Freude über die schönen Dinge des Lebens wird noch größer, wenn ich Gott deswegen lobe und danke!“ Ich selbst merke in solchen Momenten, wie ich mich aufrichte, mein Blick offener wird und mir manchmal auch eine Last von den Schultern fällt.

Als regelmäßige GottesdienstbesucherInnen reagieren Sie und reagiert Ihr auf die Aufforderung zum Gebet vermutlich eher nicht mit Ratlosigkeit. Aber wer wenig mit Glauben zu tun hat denkt vielleicht: „Vielleicht könnte ich das ja mal ausprobieren, aber wie macht man das eigentlich? Und was bringt mir das?“

Obwohl: Die Frage: „Was bringt mir das?“ stelle ich auch mir schon ab und an. Und dann folgen oft die Fragen „Hört Gott mich überhaupt?“ und „Hört er auch die, denen es besonders schlecht geht?“

Diese Fragen sind nicht neu. Sie beschäftigen Menschen schon sehr lange . Mit diesen Fragen hat sich auch  Jesus Sirach, auch Schimon Ben Sira genannt, am Anfang des 2. vorchristlichen Jahrhunderts beschäftigt. Zu dieser Zeit stand Israel unter griechischer Vorherrschaft und hellenistische Kultur und Philosophie wurde auch in jüdischen Kreisen modern.  Sirach lebte damals als gläubiger Jude in Jerusalem. Es war ihm ein Anliegen die Impulse der hellenistisch-griechischen Kultur aufzunehmen und dabei dem Judentum treu zu bleiben. Daher verfasste er das nach ihm benannte Weisheitsbuch. In der Lutherbibel finden wir es zwischen dem Alten und dem Neuen Testament unter den Apokryphen. Seine Antwort auf die Frage nach dem Gebet finden wir im Predigttext für den heutigen Sonntag.

Ich lese aus dem apokryphen Buch Sirach aus dem 35. Kapitel die Verse 16 – 22 a aus einer modernen Übersetzung*

Sir 35, 16-22a:

Er ist den Allerärmsten gegenüber nicht voreingenommen  und hört auf die Bitte von Menschen, denen Unrecht geschieht. Niemals überhört er den Hilferuf der Waisen und Witwen, wenn sie ihre Klagen ausschütten. Fließen die Tränen der Witwe nicht über ihre Wangen, und klagt ihr Hilfeschrei nicht die an, die ihre Tränen verursacht haben? Menschen, die Gott dienen, werden mit Freude angenommen,  und ihre Bitte dringt bis zu den Wolken. Das Gebet erniedrigter und entwürdigter Menschen dringt durch die Wolken,  und es lässt nicht nach, bis es sein Ziel erreicht hat; es gibt nicht auf, bis die °Höchste es wahrnimmt, sich für die Gerechten vor Gericht einsetzt und ihnen Recht verschafft. Und Gott wird nicht zögern,  und er wird keine Nachsicht mehr üben gegen die, die Unrecht tun.

Für Sirach ist es eindeutig, dass Gott die Benachteiligten genauso im Blick hat, wie die Menschen aus der Mitte der Gesellschaft und aus den tonangebenden Schichten. Ausdrücklich nennt er die Witwen und die Waisen und damit Menschen, für die sich die jüdische Tradition schon immer eingesetzt hat und deren Rechte in den jüdischen Gesetzen verbrieft sind. Allerdings hatte sich ihre Situation offensichtlich in all den Jahrhunderten nicht verbessert. Nach wie vor war die Gesellschaft streng patriarchal geprägt. Frauen und Kinder ohne männlichen „Ernährer“ hatten einen schweren Stand. Zu der Trauer um Mann oder Vater kam massive wirtschaftliche Not. Und so mancher nutzte das aus und hielt sich auf Kosten der ohnehin schon Benachteiligten schadlos.

In unserer Gesellschaft sorgen – Gott sei Dank! – soziale Sicherungssysteme  für eine Grundsicherung. Aber noch immer gehören Alleinerziehende und ihre Kinder zu denen, die besonders stark von Armut bedroht sind. Und auch in unserer Zeit ist die Versuchung groß, lieber auf die Einflußreichen und Beliebten zu achten und es ihnen recht zu machen, als sich den Benachteiligten zuzuwenden. Ich weiß nicht, wie es Ihnen und Euch geht, auch ich ertappe mich zuweilen dabei – schließlich habe ich nicht so viel zu befürchten, wenn ich die Machtlosen übersehe.

Sirach ist sich jedoch sicher: Gott übersieht sie nicht! Er hat die Benachteiligten besonders im Blick. Er sieht auch, dass die Tränen der Witwe nicht nur wegen ihrer Trauer fließen, sondern auch aus Wut darüber, dass ihre Situation so schamlos ausgenutzt wird und sie keine Möglichkeiten hat, sich zu wehren. Doch ihr Gebet dringt durch die Wolken direkt zu Gott. Welch ein schönes Bild dafür, dass Gott auf ihre Hilferufe hört! Und Gott tritt dann für sie ein, er verschafft ihr Recht. Und das gilt auch für alle Benachteiligten und Unterdrückten heute: Gott wird die Ungerechtigkeiten nicht unbeantwortet lassen.

Das klingt schön und tröstlich. Aber was ist mit all den Menschen, denen es schlecht geht und auf deren Gebet Gott anscheinend nicht antwortet? Da gilt es nicht aufzugeben:

Im Sonntagsevangelium haben wir eben gehört, wie Jesus uns ermutigt, Gott so zu bedrängen, wie jener Mann, der um Mitternacht seinen Freund nötigte ihm drei Brote für überraschend eintreffenden Besuch zu leihen. Und im Gleichnis vom ungerechten Richter macht er eine Witwe zum Vorbild, die dem ignoranten Richter so lange auf die Nerven geht, bis er ihr Recht verschafft. Wir dürfen also Gott gegenüber im Notfall sogar unverschämt werden.

Auch Sirach entwickelt ein schönes und tröstliches Bild für die Situation, in der ein Gebet nicht erhört wird: Er beschreibt die Gebete als eine Kraft, die sich durch alle Wolken der Verzweiflung und der Ignoranz anderer hindurch ihren Weg zu Gott sucht, und die nicht müde wird, bis sie ihr Ziel erreicht. Was für eine Ermutigung, sich selbst und seine Anliegen nicht aufzugeben und weiter zu hoffen, selbst wenn die Lebenssituation schwierig bleibt. Und vielleicht als Symbol für diese Hoffnung in einer unserer Kirchen eine Kerze anzuzünden.

Und der Friede Gottes, der höher ist, als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Anmerkungen:

Diese Predigt wird im aus Pandemiegründen zur Andacht verkürzten Sonntagsgottesdienst in der Dorf Kirche von Fleckeby (an der Schlei in Schleswig-Holstein) gehalten und außerdem für die, für die eine Teilnahme am Gottesdienst ein zu hohes Risiko darstellt, als Text in unseren Sonntags geöffneten Kirchen ausgelegt, als Predigtbrief verschickt und über unsere Website kirche-kosel.de veröffentlicht. Als Audio ist die Predigt ebenfalls über die Website und über unseren Telefondienst „Bei Anruf Predigt“ erreichbar.

Im Gottesdienst wird der Psalm des Sonntags gebetet und das Evangelium verlesen, so dass diese beiden Texte der Resonanzraum der Predigt sind. In der Kirche ist zur Zeit nur Sologesang erlaubt. Deswegen singe ich jeweils eine Strophe der Lieder solo. Nach den Abkündigungen verlassen wir die Kirche zur Orgelmusik, stellen uns draußen vor der Tür auf und beenden den Gottesdienst mit zwei gemeinsam gesungenen Lieder,  Fürbittengebet,  Vaterunser und Segen. Beide Kirchen sind Sonntags ganztägig geöffnet, die Kirche in Kosel auch an den Werktagen.

 

* Als Übersetzung des Predigttextes habe ich mich dieses Mal für die sprachlich leicht an meine eher konservative Gemeinde angepasste Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache entschieden. Entscheidend war für mich die Übersetzung von Vers 20:

Luther: „Wer Gott dient, wie es ihm gefällt, der ist ihm angenehm, und sein Gebet reicht bis in die Wolken“

BiG: „Menschen, die Gott dienen, werden mit Freude angenommen,  und ihre Bitte dringt bis zu den Wolken.“

Im Gottesdienst erwarte ich im Moment nur Menschen, die regelmäßig kommen. Sollte das an diesem Sonntag anders sein, würde ich den Satz über die Menschen, die wenig Kontakt zum Glauben haben, verändern.

Da das Buch Sirach in meiner Gemeinde unbekannt ist, habe ich Hintergrundinformationen zum Buch mit in die Predigt einfließen lassen.

Pastorin Susanna Kschamer ist seit 2013 Gemeindepastorin in der Kirchengemeinde Kosel, zu der als Predigtstätten die St. Laurentius-Kirche in Kosel aus dem 12. Jahrhundert und die Kreuzkirche in Fleckeby aus den 60iger Jahren des 20. Jahrhunderts gehören.

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