Ungetrübte Harmonie?

Ungetrübte Harmonie?

Predigt zu Apg. 4,32–37 | verfasst von Dietz Lange |

Liebe Gemeinde!

Ist das nicht ein Traum, diese christliche Gemeinde? Sie haben ihren ganzen Besitz gemeinsam, niemand leidet Not. Die Wohlhabenderen verkaufen ihre Häuser oder Äcker zum Wohl der Ärmeren. Alle sind sich einig und halten zusammen. Ein Herz und eine Seele sind sie. Ja, die gute alte Zeit! Man könnte grün vor Neid werden, wenn das nicht ein reichlich unchristliches Gefühl wäre. Aber man kann solchen Neid verstehen, wenn man sich die spätere Geschichte unserer christlichen Kirche ansieht. Wieviel Unduldsamkeit gegen abweichende Meinungen hat es da gegeben, bis dahin, dass man sogenannte Ketzer bei lebendigem Leib verbrannte! Und wie oft hat unsere Kirche mit autoritären Regierungen paktiert und viel zu wenig für die Armen und Benachteiligten getan! Oder denken wir an die unheilvolle Spaltung der deutschen Evangelischen Kirche während des Dritten Reiches. In vielen Gemeinden, auch in unserer eigenen, stützte die eine Hälfte der Mitglieder einen Pastor jüdischer Herkunft, die andere aber sorgte dafür, dass er wegen seiner „Rasse“ entlassen wurde. Da ist lange her, von uns heute morgen war da niemand beteiligt, und es ist längst Frieden in unserer Gemeinde. Aber die Erinnerung daran liegt uns noch im Magen. Und so fabelhaft harmonisch, wie Lukas die Urkirche schildert, ist heute wohl keine einzige Gemeinde auf der Welt.

Nun muss man wohl ein wenig Wasser in diesen phantastischen Wein gießen. Lukas hat sicher guten Glaubens geschrieben, aber er war ja nicht dabei, als die Urgemeinde entstand; er schrieb etwa ein halbes Jahrhundert später das auf, was er von anderen gehört hatte. Da hat er sicher unwillkürlich die Geschichte ein bisschen vergoldet. So hat er wohl die ihm überlieferte Nachricht, dass Barnabas seine Habe verkauft und der Gemeinde vermacht habe, verallgemeinert, so dass nun alle Wohlhabenden das getan haben sollen. Wenn wir dagegen die Briefe des Paulus lesen, die Jahrzehnte vor Lukas geschrieben wurden, dann sehen wir, dass es schon ganz früh handfeste und sogar richtig hässliche Konflikte gab, z. B. in den Gemeinden von Galatien und Korinth.

Trotzdem hat unsere Geschichte einen wahren Kern, und auf den kommt es an.  Das ist der mitreißende Aufbruch, der durch diese wenigen Sätze hindurch bis heute spürbar ist. Da sind all diese Menschen, von denen viele aus Galiläa nach Jesu Auferstehung nach Jerusalem gekommen waren, um ein neues Leben mit Christus zu beginnen. Andere waren Einheimische aus der Stadt, hatten vielleicht sogar die Kreuzigung Jesu als Zuschauer miterlebt. Bei allen war große Erleichterung, dass mit dem Kreuz nicht alles vorbei war. Man merkt dem Bericht des Lukas noch die Begeisterung über diesen Neuanfang an.

Bei dem Wort Begeisterung denken wir Älteren meist an so etwas wie überschäumende jugendliche Unternehmungslust. Da fügen wir dann in Gedanken ein wenig herablassend hinzu: wenn die mal älter werden, dann gibt sich das. Aber das damals waren Menschen aller Generationen, auch Ältere. Und diese Begeisterung hat wohl bei vielen lebenslang angehalten. Das deutsche Wort Begeisterung bedeutet ursprünglich nicht jugendlichen Gefühlsüberschwang, sondern das Ergriffenwerden vom Geist Gottes. Davon hatte Lukas ja wenige Kapitel zuvor in der Pfingstgeschichte berichtet. Das ist es, was diese ganz neue Stimmung und diese Bereitschaft zu einem ganz neuen Leben hervorgebracht hat, nicht ein vorübergehender Gemütszustand.

Nun wirkt Gottes Geist aber meist im Verborgenen; die Szene von Pfingsten, die eine ekstatische Erregung der Menschen schildert, bildet im Leben die Ausnahme. Normalerweise sieht man es jemandem nicht an der Nasenspitze an, ob er vom Geist Gottes berührt worden ist. Die Menschen, von denen unsere Erzählung handelt, waren schlichte Leute: ehemalige Bauern und Fischer aus der Provinz Galiläa, Handwerker und Angestellte aus der Stadt Jerusalem, nur ein paar wenige, die etwas betuchter waren. Geistesgrößen wie die großen griechischen Philosophen oder bedeutende Rabbis waren nicht darunter. Die Begeisterung wurde nicht durch menschlichen Geist entfacht. Sie kommt allein von Gott. Vor ihm sind wir alle gleich. Gottes Geist bevorzugt nicht große menschliche Geister. Ob jemand einen Doktortitel oder nur einen Grundschulabschluss hat, ist vor Gott vollkommen gleichgültig. Es ist darum auch in der christlichen Gemeinde völlig uninteressant.

Worauf es ankommt, ist vielmehr das, was der Geist Gottes bewirkt. Der Geist Gottes ist ein Geist der Liebe. Das ist das Gegenteil von Selbstüberhebung und Machtrausch. Die Gleichheit von uns Christen ihm gegenüber führt darum zu der unbedingten Bereitschaft miteinander zu teilen. Deshalb streicht Lukas das so heraus. Er stellt diese frühe Gemeinde als Vorbild hin. Das ist der eigentliche Sinn seiner Beschreibung. Denn in seiner eigenen Zeit hatte sich die Begeisterung mancherorts schon etwas abgekühlt – nicht zuletzt aufgrund der Anfeindungen von außen, die schon früh einsetzten. Bleibt bei der Stange! Fallt nicht wieder auf euer Eigeninteresse zurück! Lasst euch weiterhin vom Heiligen Geist Gottes inspirieren und begeistern, damit die Sache Jesu auch in diesen schwieriger gewordenen Zeiten weitergeht!

Das will Lukas uns mit dieser Geschichte ans Herz legen. Er konnte damit die Gemeinden, für die er schrieb, noch unmittelbar erreichen. Diese Gemeinden waren noch klein und überschaubar. Große Landeskirchen oder gar internationale kirchliche Organisationen gab es noch nicht. Darum konnte er noch an so etwas wie Korpsgeist appellieren. Heute ist die Christenheit unendlich viel umfangreicher und vielfältiger. Die Verhältnisse bei uns sind darum auch komplizierter geworden. Christliche Wohltätigkeit ist heute vielfach in Großorganisationen eingebunden. Die allerersten Anfänge dazu lagen schon in der zweiten christlichen Generation. Da schuf man das Amt des Diakons, dem die Armenfürsorge in der Gemeinde unterstand. Im Mittelalter waren es häufig Mönchsorden oder Nonnenorden, die sich darum kümmerten. Heute haben wir in Deutschland die großen Verbände der evangelischen Diakonie und der katholischen Caritas. Überdies sind Sozialarbeit und Krankenhäuser heute vielfach in staatlicher und damit religiös neutraler Regie. Und es gibt eine große Zahl von rein weltlichen internationalen Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder UNICEF, die großartige Hilfe leisten. Viele von denen sind unentbehrlich und verdienen unsere Unterstützung. Aber es besteht die Gefahr, dass sie uns zum Anlass werden, unsere persönliche Verantwortung für den notleidenden Nächsten auf solche Großorganisationen abzuschieben.

Doch Gott sei Dank kommt die ganz persönliche Inspiration, die Begeisterung durch den Heiligen Geist und damit die Bereitschaft zum Teilen auch heute noch vor. Sie ist nicht immer auf den ersten Blick als christlich zu erkennen, genauso wenig wie bei den großen Hilfsorganisationen. Gottes Geist wirkt auch ohne den Stempel dogmatischer Korrektheit. Da sind junge Leute, die ein freiwiliges soziales Jahr einschalten. Andere helfen Syrienflüchtlingen, mit den Behörden zurechtzukommen und Arbeit zu finden. Heute in der Corona-Zeit entschließen sich Menschen spontan, für hilflose alte Menschen, die ans Haus gebunden sind, die Einkäufe zu erledigen. Andere hören einem Bekannten, der in Quarantäne leben muss, am Telefon geduldig zu, auch wenn das in der Einsamkeit angestaute Redebedürfnis kein Ende zu finden scheint.

Das sind vielleicht schon zu viele Beispiele. Denn wer sich dem Heiligen Geist anheimgibt und konzentriert überlegt, welche Aufgabe Gott gerade jetzt genau für ihn oder sie vorgesehen hat, dem wird auch von selbst etwas dazu einfallen. So lassen Sie uns denn auch als heutige christliche Gemeinde in Göttingen zusammenhalten. Gelegentliche Auseinandersetzungen sind dabei nicht ausgeschlossen. Sie sind oft sogar nötig als Weg zu einer Lösung. Aber sie sollen friedlich verlaufen und uns nicht auseinander treiben, sondern zusammen bringen. Zusammenhalt ist freilich nicht dasselbe wie eine geschlossene Gesellschaft. Ein einzelner Mensch oder auch eine Familie mag wegen des Virus aus hygienischen Gründen zurzeit vorübergehend zur Selbstisolierung genötigt sein. Aber das ist nicht von Dauer. Erst recht darf eine christliche Gemeinde sich nicht abschotten. Gottes Geist baut keine Trennmauern. Vielmehr will er unseren Zusammenhalt ins Stadtviertel ausstrahlen lassen, so wie die alten christlichen Gemeinden damals weit über ihre Grenzen hin ausgestrahlt haben. Sonst säßen wir heute gar nicht hier. Gottes Heiliger Geist ist keine bloße geschichtliche Erinnerung. Er wirkt auch heute unter uns.

Amen.

Prof. em. Dr. Dietz Lange, Göttingen, geb. 1933, bis 1998 Prof. für Systematische Theologie, seit 1988 ehrenamtlicher Prediger an St. Marien. E-Mail: dietzclange@online.de

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