Universitätsgottesdienst zum Gedenken der Entschlafenen

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Universitätsgottesdienst zum Gedenken der Entschlafenen

Universitätsgottesdienst zum Gedenken der Entschlafenen 2003 in
der Leipziger Nikolaikirche (Am Ewigkeitssonntag gedenkt die Universität Leipzig regelmäßig
der Studierenden und aktiven Mitarbeiter, die im zurückliegenden
akademischen Jahr verstorben sind.
Die Gemeinde antwortet auf die Predigtteile
I, II und III mit jeweils einer Strophe des Liedes »Mitten wir im Leben sind mit dem Tod
umfangen«, EG 518)

Liebe Gemeinde!

Hier, am Weltrand, habe ich zur Stunde
Wunderlich mein Leben angesiedelt.
Hinter mir im grenzenlosen Runde
Schweigt das All, nur jener Fiedler fiedelt.

Es waren wohl Vorahnungen, die dem großen jüdischen Religionsphilosophen
Martin Buber 1964, wenige Monate vor seinem Tode in Jerusalem, in diesem
Gedicht die Feder führten. »Raunungen«, so eines seiner
Lieblingsworte, Raunungen des Todes hätte er vielleicht gesagt,
um damit anzudeuten, dass der Tod seine eigene Sprache hat. Er raunt
uns seine Botschaft zu, die mit den Jahren immer deutlicher und unüberhörbarer
wird.

Man kann diese Zeilen als einen Todespsalm des 20.Jh. lesen. Der Weltrand
wird zum Ort der Todesnähe. Das Sterben macht den Menschen zum einsamen
Exzentriker. Er verliert seine Mitte, die Mitte der Welt, die Mitte des
Lebens, in der er sich zu Hause wusste. Was sind das für Jahre im
Vollbesitz der Kräfte des Geistes und des Leibes!? Jetzt wähnen
wir uns noch im Mittelpunkt, jetzt wir im Zenit unserer Erfolge,
geachtet, zuweilen gar bewundert von unseren Mitmenschen.

Aber dann ? Der Weltrand! Herausgedrängt und ausgeschieden
aus den Orten des pulsierenden Lebens und lebendigen Geistes. Unerbittlich
das Raunen des Todes von den Rändern des Lebens her, das uns zieht
und lockt. Dann bleibt nur noch er, der Mensch, im einsamen
Gegenüber zum All, das ihn wie ein schwarzes Loch, ein kosmischer
Staubsauger zu verschlingen droht. Dann er am Rande der Welt,
am Rande des Lebens, am Rand der Sprache, dessen, was sich in Worte fassen
lässt.

Nichts bleibt da, außer einem: nur jener Fiedler fiedelt. Solange
wir uns im Zentrum wähnen, überspielen wir die lockenden Töne.
Da machen wir selbst die Musik und lassen andere nach unserer Pfeife
tanzen. Am Weltrand aber wird uns aufgespielt vom Spielmann Tod. Da lassen
sich seine lockenden Töne nicht mehr überhören und laden
zum letzten Tanz, dem Totentanz, den uns die mittelalterlichen Maler
vor Augen stellten. Man mag feilschen und rechten mit dem Spielmann,
jammern und klagen, irgendwann will er mitgetanzt sein, der Totentanz.
Und wenn es gut geht, dann wirfst du dich mit der Bitte in den letzten
Reigen deines Lebens, die ein Anonymus 1724 in die Worte fasste: »Komm
süßer Tod, komm selge Ruhe…«. Wenn es gut geht!

I

Die Psalmen Israels kennen diese Randzonen, die Todeszonen des Lebens.
Ihre Beter haben sie stets von Neuem durchschritten. Ihre Klagen lassen
viel von der Exzentrik der Leidenden und Sterbenden erkennen, der Einsamkeit
und dem Schweigen. So klagt der Beter des 102. Psalms, den die Christenheit
als einen der sieben Bußpsalmen am Gedenktag der Entschlafenen
betet:

»… meine Tage sind vergangen wie ein Rauch
und meine Gebeine
sind verbrannt wie von Feuer.
Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie
Gras,
dass ich sogar vergesse, mein Brot zu essen.
Mein Gebein klebt an meiner
Haut
vor Heulen und Seufzen.
Ich bin wie die Eule in der Einöde,
wie das Käuzchen in den Trümmern.
Ich wache und klage
wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.«

Werden wir das einmal sein, wenn der Fiedler fiedelt? Randexistenzen,
einsam, krank, verdorrt, ausgehungert? Geht unser Leben wie das eines
Opfertieres im Rauch auf, endet es in Einöde und Trümmern,
im Schattenreich zwischen Tag und Nacht, in dem der schaurige Ruf der
Eule und des Käuzchens um die Toten klagt? Todesbilder sind das,
die durch die Jahrtausende gehen.

Ernst Wiechert, der von der Generation unserer Eltern viel gelesene
ostpreußische Schriftsteller, beschreibt in seinem Roman »Die
Majorin« den Pferdeknecht eines Rittergutes. Im 1. Weltkrieg hielten
ihn feindliche Soldaten im Dorf fest, während sich sein jüngerer
Bruder, noch ein Kind, aus Furcht in die nahe gelegenen, einsamen Sümpfe
flüchtete und dort versank. Er, der Festgehaltene hört mit
dem ganzen Dorf die verzweifelten, immer schwächer werdenden Schreie
und Klagen des Knaben vom Moor herüber. Er hätte ihm zu Hilfe
eilen, ihn retten können, aber die Soldaten ließen ihn nicht.
Die Schreie des Kindes raubten ihm den Verstand. Darüber wurde er
zum Exzentriker, verlor die Mitte und die Sprache. Und immer des Nachts,
wenn die einsame Eule schreit, hört er die Stimme des Bruders, der
aus dem Moor ruft und begraben sein will. Todesbilder, dieses und viele
andere umstellen unser Leben. »Mitten wir im Leben sind von dem
Tod umfangen…« (EG 518 Vers 1)

II

In einem aber unterscheiden sich die Bilder der Psalmenbeter Israels
von denen vieler Dichter und Erzähler des 20.Jh. Die literarischen
Figuren Ernst Wiecherts, Heimkehrer aus dem Inferno des 1. Weltkrieges,
ziehen sich zurück in die Einsamkeit der ostpreußischen Wälder, über
denen ihnen der Himmel schweigt. Sie sprechen – wenn überhaupt – nur
zögernd, stammelnd über das, was ihnen widerfuhr. »Das
einfache Leben«, die Arbeit der Hände soll ihre verwundeten
Seelen heilen. Sie bleiben Randexistenzen, denen man die Lebensmitte
raubte.

Die Psalmbeter Israels hingegen ziehen sich nicht zurück ins Schweigen
und ins redliche Handwerk. Sie wagen den hoch emotionalisierten Ausbruch
und Durchbruch zu einem Du . Sie ringen um und bestehen auf
einer letzten Begegnung. Sie bitten, klagen, protestieren. Und gerade
damit verharren sie nicht bei sich selbst, sondern richten sich aus nach
dem, der auch an den Rändern des Lebens ihre Mitte bleibt:

»Herr, höre mein Gebet
und lass mein Schreien zu dir kommen!
Verbirg dein Antlitz nicht vor mir
in der Not,
neige deine Ohren zu mir;
wenn ich dich anrufe, so erhöre mich bald!«

Das ist schon merkwürdig, dass da, in den Todeszonen, in denen
wir uns ganz auf Abschied eingestellt haben, die Beter Israels die Signale
auf Ankunft stellen. Ihre Gebetssprache ist die Sprache der Audienz.
Wie ein Bittsteller den König in seiner Not um eine Audienz anging,
nicht locker ließ, täglich auf der Schwelle des Palastes hockte,
so kommen die Beter Israels zu ihrem Gott und weichen nicht. Sie bitten:
lass mein Schreien zu dir kommen, verbirg dein Antlitz nicht, sieh nicht
weg von mir, erhöre mich. Und dann sprechen und klagen sie dem König
des Lebens ihre ganze Not. Nichts, aber auch gar nichts wird verschwiegen,
alles zur Sprache gebracht. Ja, nicht nur die Klage, sondern sogar die
Anklage lässt sich dieser König des Lebens gefallen:

»Denn ich esse Asche wie Brot
und mische meinen Trank mit Tränen
vor deinem Drohen und Zorn,
weil du mich hochgehoben und niedergeworfen
hast.
Meine Tage sind dahin wie ein Schatten
und ich verdorre wie Gras.«

Hier nimmt sich einer in aller Freiheit das Recht zur Klage vor Gott,
ja, er steigert dieses bis zur Anklage gegen Gott. Der zornige Gott sei
die Ursache seiner quälenden Todesnot. Er habe ihn erhoben und hingeworfen
wie ein zerbrechliches Gefäß. An den Weltrand, den Lebensrand
habe er ihn gedrängt.

Mit dieser Klage und Anklage, und das ist das Entscheidende, läuft
der Beter nicht ins leere Einerlei der Tage. Er flüchtet sich nicht
in die Arbeit und nicht in die Einsamkeit der Wälder. Er lässt
weder aus Enttäuschung, noch aus Gleichgültigkeit oder Apathie
Gott Gott sein. Er stellt ihn. Er geht ihn an. Er fordert ihn heraus.
Er setzt alles auf eine Karte, darauf, dass sein Leben in der dunkelsten
Einsamkeit, ja selbst in der Hölle des Todes noch einem Du gegenüber
steht. Er vertraut darauf, dass da, am Ende, wenn mir die Welt und die
Meinen wie hinter einem Nebel vergehen, dass ich da nicht mit mir allein
bleibe, dass da Ich und Du bleiben, eine lebendige
Beziehung, Gott und sein Ebenbild, der Mensch. Am Ende – ich allein?
Das freilich könnte die Hölle sein. »Mitten in dem Tod
anficht uns der Hölle Rachen.« (EG 518 Vers 2)

III

Mit der äußersten Zuspitzung der Klage zur Anklage Gottes,
veränderten sich dem Beter am Weltrand die Perspektiven.

»Ich sage: Mein Gott,
nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner
Tage!
Deine Jahre währen für und für.«

Der Protest, die Anklage Gottes, werden für den Beter zu einem
ersten Schritt zurück ins Leben. Und dieses Leben konzentriert sich
ihm in einem einzigen Wort: Eli – mein Gott! Kein anderes Wort
als das, das Jesus am Kreuz auf Golgatha sprach, als er im Tod Psalmen
betete. Eli, mein Gott. Das ist seine wichtigste Entdeckung in der Einsamkeit.
Es gibt ja einen, den darf ich – was immer auch komme – für mich
in Anspruch nehmen. Selbst dort am Weltrand, in der tiefsten Erniedrigung,
in der sich so viele von mir losgesagt haben und keinen Pfifferling mehr
auf mein Leben geben, da bleibt Eli, mein Gott, da bleiben Ich und Du.

Und mit diesem Gott ist es wie mit der Liebe. Wer mein ist, dem darf
ich alles sagen. Den darf ich um alles bitten, selbst um mein Leben.
Nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage! Lass sie mich auskosten,
meine Zeit. Sie ist ja nicht wie deine Jahre, unbegrenzt, von Geschlecht
zu Geschlecht. Begrenzt ist sie, aber begrenzt von dir. Und deswegen
bitte ich dich: gib mir noch eine Spanne des Weges durch die Zeit. Du
kannst das ja. Das traue ich dir zu:

»Du hast vorzeiten die Erde gegründet
und die Himmel sind
deiner Hände Werk.
Sie werden vergehen, du aber bleibst;
Wie ein Kleid wirst du sie wechseln,
und sie werden verwandelt werden
Du aber bleibst wie du bist,
und deine Jahre nehmen kein Ende.«

Das ist das Geheimnis des Psalmenbetens. Aus der Klage und Anklage Gottes
wächst Vertrauen. Gott wandelt die Herzen der Beter und nicht nur
diese. Alles Geschaffene ist vergänglich, wandelt sich. Selbst Himmel
und Erde vergehen, werden von Gott gewechselt wie ein altes, abgetragenes
Kleid. Du aber bleibst wie du bist. Du bleibst der Schöpfer, der
die alte Erde verwandelt in einen neuen Himmel und eine neue Erde. Du
bleibst der Erlöser, der mein altes vergängliches Leben verwandelt
zu einem neuen ewigen Leben. Was immer auch mit mir geschieht, ob ich
abgerufen werde in der Hälfte meiner Tage, du bleibst ein Gott des
Lebens. Wo immer ich mich auch angesiedelt habe, ob in der Mitte meiner
Tage, meiner Erfolge, in der Blüte meiner Jahre, oder am Weltrand
– wenn mein Leben zur Neige geht, da bist du. Und wo du bist, da ist
Leben, selbst noch im Tode. Ja vielleicht bist du das ja selbst, jener
Fiedler, von dem Martin Buber dichtete:

Hier, am Weltrand, habe ich zur Stunde
Wunderlich mein Leben angesiedelt.
Hinter mir im grenzenlosen Runde
Schweigt das All, nur jener Fiedler fiedelt.

Aber wenn du das bist, dann ist der Weltrand, die Todesnähe nicht
länger eine Hölle der Angst, ein einziges Golgatha. Dann findet
sich dort nicht nur das Kreuz, sondern auch das offene Grab. Dann bist
du dort, Schöpfer des Lebens. Du, lebendiger Christus, du wartest
auf mich.

Amen

(EG 518 Vers 3)

Prof. Dr. Rüdiger Lux, Universität Leipzig
lux@rz.uni-leipzig.de

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