Vertrauen und Sorge, Leichtsinn und Vernunft

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Vertrauen und Sorge, Leichtsinn und Vernunft

Predigt am 26. Juli 2020 – 7. Sonntag nach Trinitatis | Johannes 6,1-15 und Hebräer 13,1-2 | Sibylle Rolf |

Liebe Gemeinde,

 

aus wenig viel machen, so wie es Johannes uns erzählt – das ist die Kunst der Gastfreundschaft. Nicht in Panik geraten, wenn auf einmal mehr Menschen da sind als erwartet. Schauen, was man hat – und teilen. Ich habe mir schon oft vorgestellt, wie die Großzügigkeit, die Jesus in der Geschichte gezeigt hat, auch andere ansteckt. Und wie sich Taschen und Rucksäcke öffnen. Einer steuert vielleicht ein paar Äpfel bei, ein anderer ein Stück Käse, die dritte einige Oliven. Wer Großzügigkeit erlebt, kann großzügig sein. Auf einmal hat niemand mehr Angst, nicht satt zu werden, und die Menschen teilen nicht nur Essen und Trinken, sondern auch Zeit, Geschichten, Freude, Schmerz, Fragen und Antworten.

Aus wenig viel machen – meine Urgroßmutter hat das gekonnt. Mein Urgroßvater hatte einen Gutshof in Brandenburg gepachtet und sorgte für die Menschen, die in dem kleinen Ort zu Hause waren. Die beiden hatten neun Kinder, mein Großvater gehörte zu den Jüngeren im Reigen. Jedes Jahr in den Sommerferien durften die Kinder Freunde mit ins Haus bringen – und dann später, als die ersten Enkel kamen, gab es Ferien auf dem Gutshof in der Brandenburger Idylle. Neben Kindern, Enkeln und Freunden wurden Hausangestellte versorgt. Von meiner Urgroßmutter wird erzählt, dass sie häufig morgens nicht wusste, wie viele hungrige Münder sie abends zu füllen hatte.

Aus wenig viel machen, teilen, was ich habe, ohne ängstlich darauf zu schielen, ob für mich genug übrig bleibt. Vielleicht auch darauf vertrauen, dass auch die Gäste etwas zu teilen haben. Nicht unbedingt Essen und Trinken – aber Zeit, Geschichten und Ideen, Lachen und Weinen. Das Fest entsteht mit denen, die es feiern. Für mich liegt darin das Geheimnis der Gastfreundschaft, zu der uns auch der Hebräerbrief auffordert.

 

Hebräer 13, 1 Bleibt fest in der brüderlichen Liebe. 2 Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.

 

Gastfrei sein, im griechischen: fremdenfreundlich – das ist ein hoher Wert. In meiner Familie, in meiner Kirche. Engel, Gottes Boten, das sind mir liebe Gäste. Ich erkenne sie nicht immer, aber ich kann mich doch an einige meiner Gäste erinnern, die mich eine wichtige Lektion über Gott, die Welt und das Leben lehren. Alles schön, die Predigt könnte hier enden.

Doch halt, denke ich und falle mir selbst ins Wort. Das alles war vielleicht mal möglich und richtig – aber jetzt? Ende Juli 2020? Mitten in einer Pandemie? In einer Zeit, in der es so viele Kirchenaustritte wie noch nie zuvor gab? Wenn ich jemanden an meinen Tisch bitte, müssen wir Abstand halten. Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir Essen und Trinken teilen. Und bevor wir mit vollen Händen geben, müssen wir erstmal schauen, was wir haben. Wir haben Verpflichtungen und nur begrenzte Ressourcen. Wo wir jetzt über unsere Grenzen hinaus leben, könnte es an anderen Stellen gefährlich werden. Zu wenig Abstand gefährdet die Gesundheit der Verletzlichen, zu viel Großzügigkeit gefährdet die Lebensgrundlage derer, die nach uns kommen.

 

Ich schaue zu Jesus auf dem Berg, zu meiner Urgroßmutter in ihrem Gutshof in Brandenburg und in den Hebräerbrief. Reich waren sie alle nicht. Sie konnten nur weitergeben, was sie hatten. Fünf Brote, zwei Fische. Eine kümmerliche Mahlzeit. Andreas, der Bruder von Simon Petrus, spricht es aus: was ist das für so viele? Es also lieber gleich sein lassen? Die Leute nach Hause schicken – damit es wenigstens für Jesus und die Freunde reicht? Sicherlich gab es Tage, an denen sich meine Urgroßmutter gefragt hat, wie das alles gehen soll, wenn sieben ihrer neun Kinder noch Freunde zum Essen mitgebracht haben. Die Kinder lieber nach Hause schicken? Damit es wenigstens für die eigene Familie reicht? In diesen klammen Zeiten es lieber gleich lassen, traurig der Kirche bei ihrer Selbstabschaffung zusehen?

 

Ich kann die Bedenken nachvollziehen. Die Zeiten haben sich geändert, die Fragen bleiben. Gastfreundschaft und Großzügigkeit sind nicht immer vernünftig. Und auch wenn mein Gast ein getarnter Engel ist – sollte ich nicht lieber Corona-Vorsicht und Abstand walten lassen, damit wir einander nicht gefährlich werden? Sorge steht gegen Vertrauen. Steht auch Leichtsinn gegen Vernunft?

Ich schaue noch einmal hin. Was bewegt Menschen dazu, nichts abzugeben? Was bewegt Andreas dazu, Jesus zweifelnd anzuschauen? Ist es die Vernunft? Oder ist es eine versteckte Sorge um sich selbst und den eigenen Bauch? – Ich spüre: Vertrauen ist ein Wagnis. Zu geben, was ich habe, kann auch bedeuten, dass ich hungrig bleibe. Denn ich kann mich nicht darauf verlassen, dass Menschen teilen. Aber aus der Deckung kommen, etwas wagen, etwas verschenken – mich zeigen: in der Regel ermutigt das auch andere dazu, etwas abzugeben. So wie bei den vielen Menschen auf dem Berg.

Bei meiner Urgroßmutter kann es durchaus geschehen sein, dass manches Kind sich über noch ein Stück Brot gefreut hätte. Aber alle haben überlebt, und viele dieser neun Kinder sind von ihren Nachkommen als ausgesprochen großzügig beschrieben worden. – Hier steht Sorge gegen Vertrauen. Die Sorge ist häufig unbegründet. Auch wenn ich teile, was ich habe, bekomme ich etwas zurück. Und auch wenn es ein Wagnis ist zu vertrauen, muss ich doch nicht fürchten, dass ich ganz leer ausgehe. Das ermutigt mich. Für mich selbst. Für unsere Kirche, unsere Gesellschaft. Alles ist im Fluss, alles verändert sich. Niemand weiß, wie Kirche in 20 Jahren aussehen wird. Aber es hilft uns nicht, jetzt festzuhalten, was wir vermeintlich haben.

Das zweite. Der Abstand. Steht bei den Bedenken gegen eine allzu unbekümmerte Haltung Leichtsinn gegen Vernunft? Immer wieder höre ich, dass Kirche allzu leicht eingeknickt sei und sich gegen die Corona-Bestimmungen auflehnen müsste. An der Stelle denke ich: wir müssen genau hinschauen. Unser Auftrag ist die Verkündigung des Evangeliums und der Schutz der Verletzlichen. Niemand soll sich in unserer Verantwortung mit einem potentiell lebensbedrohlichen Virus infizieren. Darum singen wir im Moment nicht, tragen Masken und halten Abstand und sind auch mit unseren Veranstaltungen und Gruppen vorsichtig. Zum Beispiel, auch wenn mir das Herz blutet, mit unserem Frauenkreis. Hier hätte eine Gastfreundschaft um jeden Preis mit Leichtsinn zu tun, nicht mit Vertrauen. Wir müssen schauen, was in einer Situation angemessen ist und uns Gottes Schutz und Leitung anvertrauen. Er ist dabei. Möge er uns immer wieder Engel schicken, die uns wichtiges über Gott und die Welt lehren – in aller Gastfreundschaft mit Vertrauen und Augenmaß. Amen.

 

Pfrin. apl. Prof. Dr. Sibylle Rolf, Kirchengemeinde Oftersheim, sibylle.rolf@kbz.ekiba.de

Gemeindepfarrerin mit vollem Dienstauftrag in einem großen Dorf in der südlichen Kurpfalz, zugleich außerplanmäßige Professorin für systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg

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