Von guten Mächten …

Von guten Mächten …

„Von guten Mächten treu und still umgeben“ | Altjahresabend – Silvester | 31.12.2022 | Predigt zu dem Gedicht/Lied von Dietrich Bonhoeffer | Wochenlied für den Altjahresabend | Johannes Lähnemann |

Liebe Gemeinde!

„Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar,

so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr.“

Können wir das sagen am Ende dieses Jahres 2022, können wir das sagen, wenn wir auf das Jahr 2023 vorausblicken? Wie konnte Bonhoeffer das sagen, damals, im Advent 1944? Immerhin: Auch Bonhoeffer schreibt im Rückblick auf das Jahr 1944 in der 2. Strophe seines Gedichts: „Noch will das alte unsre Herzen quälen. Noch drückt uns böser Tage schwere Last.“ In diesen Worten können auch wir uns wiederfinden: Denn für wie viele Menschen hat das Jahr 2022 unerwartete Qual, unerwartetes Leid gebracht – noch belastet von der Corona-Pandemie, und dann mit dem Paukenschlag des russischen Angriffs auf die Ukraine! Nicht vorstellbar war das für uns, und die Älteren unter uns sahen sich in die Zeit des 2. Weltkriegs versetzt: Bombenangriffe, Leid an den militärischen Fronten, brutale Angriffe, schlimmste Menschenrechtsverletzungen! Und doch: Bonhoeffers Gedicht von den Guten Mächten passt genau auch an die Schwelle dieses Jahres – mit seinen Belastungen in den vergangenen Monaten wie auch mit seinem Zukunftsausblick in eine absolut ungewisse Zukunft.

Was ist so besonders an diesen Versen? Es geht von ihnen Wärme, Trost, Zuspruch aus. Und jeder merkt, dass die Worte nicht leicht dahin gesagt sind, sondern dass eine tiefe Lebenserfahrung hinter ihnen steht.

Diese Lebenserfahrung ist an einem uns fernen, eigentlich trostlosen Ort gewonnen. Wir müssen uns dazu in die Adventszeit vor 78 Jahren zurückversetzen, in den Kriegswinter 1944/45, und uns in ein Gefängnis begeben. Es ist eine enge Zelle im Keller der Prinz Albrecht-Straße in Berlin, in dem diese Verse geschrieben wurden. Draußen tobt der Krieg, in seinem letzten, vernichtenden Stadium; immer wieder gibt es Luftangriffe auf Berlin, denen auch die Gefangenen ohnmächtig ausgesetzt sind.

Hier sitzt Dietrich Bonhoeffer, 38 Jahre alt. Schon mit gut 20 Jahren hatte er als einer der hoffnungsvollsten jungen Theologen in Deutschland gegolten. Er stellte sich bewusst in den Dienst der Kirche, wurde Pfarrer in London, engagierte sich in der ökumenischen Bewegung, leitete danach das illegale Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde bei Stettin – wurde dann aber schon mit Redeverbot belegt. Mit Beginn des 2. Weltkrieges schloss er sich aktiv dem Widerstand gegen Hitler an. Er hatte dessen Führertum und Antisemitismus von Anfang an scharf kritisiert. Schon zwei Wochen, nachdem der Arierparagraf erlassen worden war, der die Entfernung aller Menschen jüdischer Herkunft aus öffentlichen Ämtern anordnete, verfasste Bonhoeffer einen Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“. Und er fordert die Kirche auf, nicht nur den Verfolgten zu helfen, sondern geht so weit zu sagen, sie sollte die Legitimation der Handlungen des Staates in Frage stellen und  auch direkt politisch in Aktion treten, um nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen. Die Beteiligung am Widerstand lag direkt in der Konsequenz dieser Überzeugung.

Im Advent 1944 ist Bonhoeffer schon 1 ½ Jahre inhaftiert, hin und her gerissen zwischen Hoffnungen auf baldige Entlassung und der Erwartung von Verurteilung und möglicherweise sogar dem Tod. Schon im Advent des Jahres 1943 hatte er sehnsüchtig gehofft freizukommen. Nun wird es zum 2. Mal Weihnachten. Inzwischen ist der Putsch gegen Hitler vom 20. Juli 1944 misslungen. Viele der Gefährten wurden umgebracht; aus den Anderen wird in den Verhören so viel herausgepresst, wie man erreichen kann.

Wie hält man es in dieser Lage aus? Für Bonhoeffer ist es eine Situation, in der er seinen Glauben, sein Christsein in einer ganz neuen Tiefe und Herausforderung erfährt. Natürlich leidet er unter den Kränkungen, den Demütigungen, denen er als Häftling, dazu noch als Häftling eines verbrecherischen Regimes, ausgesetzt ist. Aber er wird nicht wehleidig, sondern er ist für die Anderen da, wo es nur geht. Er protestiert gegen Ungerechtigkeiten, die er und andere erleben. Er fertigt einen genauen Haftbericht an. Und er schreibt Gebete für Mitgefangene; er tröstet und ermutigt sie, wo er nur kann.

Eine große Hilfe sind ihm dabei seine Familie und seine Freunde, die immer wieder Vorstöße für ihn unternehmen, zeigen, dass er nicht vergessen ist, besonders seine Verlobte Maria von Wedemeyer, die mit ihren erst 20 Jahren beharrlich um eine Sprecherlaubnis kämpft, auch wenn das zunehmend schwieriger wird. Dass er so durchhalten kann, versteht man in mancher Hinsicht besser, wenn man den Briefwechsel mit seiner Braut liest.

An sie schreibt Dietrich Bonhoeffer am 19. Dezember 1944 den Brief, in dem unser Gedicht von den „guten Mächten“ erstmals steht, in dem er auf das vergangene Jahr zurückblickt und – in allen Ungewissheiten – auch vorausblickt auf das vor ihm liegende Jahr.

Wen und was meint Bonhoeffer mit den „guten Mächten“? Am deutlichsten wird es, wenn wir den Brief lesen, den er dazu an seine Verlobte schreibt:

„Meine liebste Maria!

Ich bin so froh, dass ich Dir zu Weihnachten schreiben kann, und durch Dich auch die Eltern und Geschwister grüßen und Euch danken kann. Es werden sehr stille Tage in unsern Häusern sein. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes, unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied heißt: ‚zweie die mich decken, zweie, die mich wecken’, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder.“ (Brautbriefe Zelle 92 Dietrich Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer 1943-1945, hg. v. R.-A.v. Bismarck u. U. Kabitz. München/Beck 1992, S. 208).

Das also will Bonhoeffer sagen, wenn er von den „guten Mächten“ spricht: Gott wirkt durch Menschen, die füreinander da sind. Er wirkt durch unsere Gebete, unsere guten Gedanken. Sie sind wie Engel, wie Boten, die von Gott kommen und durch die Gefängnismauern hindurch dringen können bis in die Einsamkeit einer dunklen Zelle.

Das ist der erste wichtige Gedanke, den Bonhoeffer in unserem Lied weitergibt: Gott wirkt durch unsere Gebete, unsere guten Gedanken. Ihm schließen sich zwei weitere Grundgedanken an, die er in den folgenden Versen entfaltet: 2. Gott begleitet uns auf schweren Wegen, und 3. Gott stellt seine schützenden Mächte um uns. Diesen Grundgedanken wollen wir mit dem Lied nachgehen.

Beginnen wir mit dem 1. Vers, in dem der erste dieser Gedanken entfaltet wird:

  1. Von guten Mächten treu und still umgeben,

            behütet und getröstet wunderbar, –

            so will ich diese Tage mit euch leben

und mit euch gehen in ein neues Jahr

Wer von uns könnte nicht sagen, dass er nicht auch diese guten Mächte kennt, die uns treu und still umgeben und die mit uns durch das Leben gehen: Es können unsere Eltern, unsere Kinder, unsere Geschwister, unsere Freunde sein – aber auch der Arzt und die Krankenschwester, der Polizist oder der Lehrer und die Lehrerin. Trotz alles Schlechten und alles Bösen, was es unter Menschen gibt: Wenn wir recht hinschauen, können wir sagen: Schutzengel sind unter uns – Menschen, die selbstverständlich und ohne Eigennutz zur Stelle sind, wenn wir Hilfe brauchen, Menschen, die uns mit ihren Gebeten und guten Gedanken begleiten und die nicht lange fragen, wenn sie von einer Not wissen. In der vom Corona-Virus geprägten Zeit haben wir das erlebt, wo auf einmal in ganz neuer Weise Nachbarschaftshilfe geübt wird, wo Menschen allein sind und Unterstützung brauchen. Und die große Solidarität mit der angegriffenen Ukraine, mit der Hilfe für dort und mit der Unterstützung der Flüchtlinge, mit der Fantasie, mit der national und international Hilfe für die von dem Krieg betroffenen und unter seinen wirtschaftlichen und sozialen Folgen Leidenden organisiert wird, sind Lichtzeichen in der Dunkelheit

Diese Erfahrung ist die Klammer des ganzen, die Überschrift über das, was Bonhoeffer in den nächsten Versen schreibt, auch über das Schwere, das ihm vor Augen tritt. Mit ihr geht er in das neue Jahr, das Jahr 1945. Spricht er in der ersten Strophe von sich, so nimmt er von der 2. Strohe an all die, an die er denkt, jetzt mit hinein in seine Worte:

  1. Noch will das alte unsre Herzen quälen,

            Noch drückt uns böser Tage schwere Last.

Wie viele quälende Stunden werden Dietrich Bonhoeffer vor Augen getreten sein! Er hat die Maskerade des Bösen erlebt, den Zynismus, wie er an den Gefangenen ausgelebt wird. Und trotz aller Gelassenheit, die er den Gefängniswärtern gegenüber zeigen kann, erlebt er sich doch auch, wie er selbst schreibt: „Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung …“ (D. Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. E.  Bethge. München/Hamburg 1954, S. 179)

Und ich denke, wir können es ihm nachempfinden, wenn wir selbst auf manche Situationen in den vergangenen Jahren zurückblicken, wo wir uns ohnmächtig, hilflos erfahren haben, dem Leiden von lieben Menschen zusehen mussten, oder auch Wut und Verzweiflung empfanden gegenüber dem Unrecht und Leid, dem unschuldige Menschen und besonders Kinder in so vielen Konflikten auf der Erde ausgesetzt sind.

Der Rückblick so belastet er ist, verwandelt sich bei Bonhoeffer direkt in ein Gebet, einen Schrei nach Gott, wie ihn auch die Psalmbeter im Alten Testament oft ausgestoßen haben:

            Ach, Herr, gibt unsern aufgeschreckten Seelen

            Das Heil, für das Du uns bereitet hast.

Das Gebet führt Dietrich Bonhoeffer aus der Verzweiflung, aus der Lähmung heraus. Er streckt sich danach aus, das Heil, die Heilung zu erfahren, für die uns Gott bereitet hat. Er ist überzeugt davon, dass Gott mit uns ein gutes, ein heilvolles Ziel hat. Er schreibt einmal: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“ (Widerstand und Ergebung S.  18)

Das ist ein großes, ein anspruchsvolles Wort. Aber es gibt uns eine Perspektive, die uns aus Resignation und Verzweiflung lösen will. Vielleicht wird es uns oft schwer, uns alle Dinge zum Besten dienen zu lassen. Aber wir können dann vielleicht auf Menschen blicken, an denen wir etwas davon erkennen können: Menschen, die in einer Krankheit eine ganz besondere Tiefe und Reife des Lebens erreichen; Menschen, die im Beistand für Behinderte, auch Schwerstbehinderte, zu wirklicher menschlicher Größe heranwachsen. Und Gott sucht sich dazu Menschen über alle Grenzen der Völker und Religionen hinweg aus, wie uns ein Mahatma Gandhi, ein Martin Luther King, ein Nelson Mandela zeigen können.

Hier kommt der 2. Grundgedanke zur Geltung, den wir uns mit unserem Lied vor Augen führen wollen: Gott begleitet uns auf schwerem Wege.

Dietrich Bonhoeffer blickt im 3. Vers voraus. Er weiß noch nicht, was das Jahr 1945 für ihn bringen wird. Aber er muss mit dem Schlimmsten rechnen – mit unmenschlichen Verhören, mit Verurteilung, mit dem Tod. Und da schreibt er:

  1. Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern

            des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,

            so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern

            aus deiner guten und geliebten Hand.

Ich muss Ihnen sagen, dass es mir sehr schwer fällt, diesen Vers mitzusprechen und mitzusingen. Denn wer kann erwarten, dieses Vertrauen in Gott behalten, wenn er schlimmstes Leid erfahren muss?!

Von Dietrich Bonhoeffer wissen wir, dass es ihm geschenkt wurde, dieses Vertrauen bis in seine letzten Tage durchzuhalten. Davon haben Gefährten berichtet, die mit ihm zusammen waren und überlebt haben.

Wir werden mit unserem Vers noch an eine andere Geschichte vom Leidenskelch erinnert, die Dietrich Bonhoeffer sicher vor Augen gestanden und die ihn in seinem Vertrauen gestärkt hat: die Geschichte aus dem Garten Gethsemane, wo Jesus Gott bittet, den Kelch des Leidens an ihm vorübergehen zu lassen – und dann doch sagt: „doch nicht, was ich will, sondern was du willst!“

Das Leiden und Sterben Jesu zeigt, dass Gott sich selbst nicht fernhält von menschlichem Leid, menschlicher Schuld und menschlicher Ausweglosigkeit. „Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not“, so drückt es Dietrich Bonhoeffer in einem anderen Gedicht aus (Widerstand und Ergebung S. 182): Er stirbt für alle den Kreuzestod. Gott, der in Jesus „der Mensch für Andere“ ist, ist es, der Bonhoeffer in seiner schweren Situation diesen Vers dichten lässt. Er schreibt dazu an einer Stelle: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.“ (Widerstand und Ergebung S. 18).

Kann das nicht auch mancher unter uns bestätigen? Da gibt es Notsituationen, die wir uns vorher gar nicht vorstellen können, und in denen uns dann doch auf einmal Vertrauens- und Hoffnungskräfte zuwachsen, die wir gar nicht für möglich gehalten haben, wo wir spüren dürfen, wie Gott den schweren Weg mit uns geht und uns trägt.

Und dann kann Dietrich Bonhoeffer in der 4. Strophe doch auch noch einmal von einem ganz irdischen neuen Morgen sprechen, von der Möglichkeit, frei zu werden und das Leben neu zu erfahren:

  1. Doch willst du uns noch einmal Freude schenken

            an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,

            dann wollen wir des Vergangenen gedenken,

            und dann gehört dir unser Leben ganz.

Man sieht, wie in der dunklen Zelle das Bild der Welt mit ihrer ganzen Helle und Schönheit vor Dietrich Bonhoeffer ersteht: ein Neuanfang nach Leiden, Schmerzen, Angst. Dabei werden die schweren wie die guten Erfahrungen nicht beiseite geschoben, sondern sie helfen, das Wesentliche im Leben zu erkennen. Wer wie Dietrich Bonhoeffer dem Tod ins Auge geschaut hat, für den sind auf einmal viele Dinge, denen Menschen nachrennen, für die sie sich anstrengen, nicht mehr so wichtig: weder der schnelle Erfolg noch der schnelle Genuss, weder die Statussymbole des Wohlstands noch die vermeintlich perfekte Absicherung des Lebens – sondern der Weg des Füreinander-Daseins, wie ihn Jesus für uns und vor uns gelebt hat.

In seiner Betrachtung geht Dietrich Bonhoeffer nun zu Bildern über, die ihm damals in der dunklen Jahreszeit besonders nahe sein mussten:

  1. Lass warm und still die Kerzen heute flammen,

            die du in unsre Dunkelheit gebracht,

            führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.

            Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

Wir können nicht davon ausgehen, dass Dietrich Bonhoeffer Kerzen in seiner Zelle hatte. Und doch sieht er sie leuchten, spürt ihre Wärme, ihre Helligkeit. Er kann sie sehen, weil sie ihm in seinem Leben so oft begegnet sind, dass sie nun ganz tief in ihm selbst leuchten. Hier wird ein ganz wesentlicher Sinn der Festzeiten in unserem Leben erkennbar: Je mehr wir uns dafür Zeit und Ruhe nehmen, die Lichter, die uns mit dem Kommen Jesu geschenkt sind, zu sehen und uns gegenseitig zu bringen, desto mehr sind wir gestärkt, auch durch dunkle Stunden hindurchgehen zu können und da Lichter wahrzunehmen, wo die Nacht ganz finster ist. Deshalb sind auch unsere Gottesdienste so wichtig als Möglichkeit, aus der geistlichen Kraft unseres Glaubens zu schöpfen, und ebenso die Lichter-, Lieder- und Erzählstunden, die wir mit unseren Kindern und Enkeln haben. Sie brauchen die Kraft des warmen Lichts, die Kraft der guten Gedanken für ihre Zukunft, für ihre Lebenswelt, als stille, warme Macht in allen Herausforderungen, Kämpfen. Aufgaben.

Natürlich ist für Dietrich Bonhoeffer die Hoffnung da, die Lichter auch gerade mit seinen Lieben wieder zu sehen, die tiefen Erfahrungen seines Lebens mit ihnen zu teilen. Aber ob sich diese Hoffnung nun erfüllt oder nicht: Dietrich Bonhoeffer ist getragen von der 3. Gewissheit, die aus unseren Versen spricht: Gott stellt seine schützenden Mächte um uns.

Und so schreibt er:

  1. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,

            so lass uns hören jenen vollen Klang

            der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,

            all deiner Kinder hohen Lobgesang.

Es ist schon wie ein Wunder: Die dunkle Zelle, in der Dietrich Bonhoeffer sitzt, wird zum Ort der Stille, der Einkehr, der Ruhe, der Meditation. Und da weichen auf einmal die engen Mauern. Unsichtbar weitet sich die Welt um ihn, ein Klangraum tut sich auf – großartiger als jeder noch so festliche Konzertsaal.  Es erklingt ein einzigartiger öku­menischer Gesang all derer, die Gott in ihren verschiedenen Sprachen, Melodien, Rhythmen und Tänzen loben.

Er mündet in die 7. Strophe, die zu Recht die bekanntesten Worte Bonhoeffers geworden sind. Wenn alle Menschen hier wären, die diese Worte, die die Quintessenz des ganzen Liedes bilden, in frohen wie in bangen Stunden ihres Lebens gesagt, gedacht, gesungen oder gesummt haben, dann müsste unser Kirchenraum wohl fast unendlich groß werden. Mit diesen Worten und mit dem erneuten Singen des Liedes wollen wir vertrauensvoll in das neue Jahr gehen, wollen uns von ihnen begleiten, stärken und aufrichten lassen.

  1. Von guten Mächten wunderbar geborgen,

            erwarten wir getrost, was kommen mag.

            Gott ist mit uns am Abend und am Morgen

            und ganz gewiss an jedem neuen Tag.


Prof. em. Dr. Johannes Lähnemann, Goslar, johannes.laehnemann@gmail.com


Johannes Lähnemann (geb. 1941) hatte von 1981-2007 den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Ev. Religionsunterrichts an der Universität Erlangen-Nürnberg inne. Er lebt im Ruhestand in Goslar. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Interreligiöser Dialog, Interreligiöses Lernen, Religionen und Friedenserziehung. Er ist Vorsitzender der Nürnberger Regionalgruppe der Religionen für den Frieden, Mitglied am Runden Tisch der Religionen in Deutschland und Mitglied der internationalen Standing Commission Interreligious Education der internationalen Bewegung Religions for Peace (RfP).

Seine Autobiografie ist erschienen unter dem Titel „Lernen in der Begegnung. Ein Leben auf dem Weg zur Interreligiosität.“ Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2017.

Liedempfehlungen (EG): 58 (Nun lasst uns gehen und treten), 64, 1-3.6 (Der du die Zeit in Händen hast), (65 (Von guten Mächten treu und still umgeben – das Lied zur Predigt) 436 (Kanon: Herr, gib uns deinen Frieden)


Die Predigt wird im Gottesdienst am Altjahresabend, 31.12.2022, in der Kirche St. Peter und Paul auf dem Frankenberge in Goslar gehalten.

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