Wenn meine Sünd mich kränken …

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Wenn meine Sünd mich kränken …

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


(Zur Übersicht der
Predigtreihe)

Predigtreihe „Passion im Lied“ – Okuli,
18.3.2001

EG 82 „Wenn
meine Sünd mich kränken … “, Paul Kluge


Anmerkungen

Wenn meine Sünd mich kränken …

Er sah auch im Alter noch gut aus: Groß und
stattlich, von gerader Haltung, volles, leicht gewelltes Haar. Er trug Jeans
und einen blauen Leinenkittel, an einem Lederband ein kleines Holzkreuz vor der
Brust. So waren auch die anderen gekleidet, die mit ihm den heruntergekommenen
Hof wieder aufgebaut hatten. Angefangen hatten sie zu zweit, neben ihm ein
Aussteiger. Nach und nach waren andere dazugekommen. Menschen, die für ein
paar Tage eine Bleibe suchten und Aufnahme fanden, Unterkunft und Essen gegen
Arbeit. Die meisten zogen bald weiter, aber einige blieben. Lernten ein Leben
kennen, daß ihnen bis dahin fremd war: Ihre Vergangenheit spielte keine
Rolle, sie wurden, wie sie waren, angenommen. Bekamen Verantwortung
übertragen für die Gänse oder für die Schweine, für
den Gemüsegarten oder – im Winter – für die Heizung. Das tat ihnen
gut, und manches, was ihnen vorher so wichtig erschien, wurde nichtig und
klein. Z. B tranken sie Früher ihr abendliches Bier bis alles schwankte;
jetzt reichte auch Tee. Hatten sie sonst, wenn etwas Brauchbares herumlag,
dieses an sich genommen, brachten sie es nun an seinen Platz. Manchmal
verstanden sie selbst nicht, was für Menschen sie geworden waren.

Dann waren da diese Kinder. Sie kamen von weit er, waren schwer
krank. Jeweils sechs Wochen blieben sie, und die Leute vom Hof kümmerten
sich um sie. Schraubten aus Sperrmüllteilen brauchbare Fahrräder
zusammen, organisierten Ausflüge, spielten Fußball mit ihnen oder
Tischtennis. Bevor sie auf den Hof kamen, hätten die Männer sich das
nicht vorstellen können. Nun war es ihnen selbstverständlich
geworden. Wie auch die regelmäßigen Gebetsstunden, an die sie sich
nach anfänglichem Sträuben gewöhnt hatten und die manchem schon
fehlte, wenn einmal eine ausfiel. Aber das kam selten vor.

Natürlich war das Miteinander nicht immer
einfach, und ab und an dachte der eine oder andere daran, seine Sachen zu
packen und abzuhauen. Das kam auch vor. Aber die meisten machten sich vorher
klar, was das bedeuten würde: Wieder auf der Straße leben, um Essen
Diebereien begehen, und sicherlich auch wieder Knast. Da blieben sie dann doch
lieber auf dem Hof und bei ihm. Er sorgte für sie, wenn sie selbst es
nicht konnten, er traute ihnen zu, etwas zu können und – vor allem – er
vertraute ihnen. Sie bekamen immer wieder zu spüren, wie sehr er in und
aus seinem Glauben lebte.

Das war bei ihm nicht immer so. Sein Elternhaus
war weder fromm noch unfromm gewesen. Als Kind und Jugendlicher war er ein
ziemlicher Rabauke, hatte nach der Schule ein Handwerk gelernt, war dann zur
See gefahren. Verlockungen war er gern gefolgt und Streitereien hatte er mit
seinen starken Fäusten geregelt, manchmal auch mit dem Messer. Er hatte
dann geheiratet, eine Arbeit an Land angenommen, Kinder gezeugt und die Abende
in Kneipen verbracht. Seine enttäuschte Frau geschlagen und auch die
Kinder. Zum Trinken kam bald das Spielen, und das Geld wurde knapp. Er
verhökerte Sachen aus seinem Betrieb, wurde erwischt, entlassen und
angezeigt. Bewährungsstrafe. Seine Frau ließ sich scheiden.

Dann kam die Krankheit. Langsam, fast schleichend
kam sie über ihn. Als er sie nicht mehr ignorieren konnte, ging er zum
Arzt: Hirntumor, inoperabel. „Das hast du nun davon,“ schoß es
ihm durch den Kopf. Später fiel ihm eine Geschichte ein, die er als
Konfirmand einmal gehört hatte: Jesus hatte einem Kranken die Sünden
vergeben, und der war daraufhin gesund geworden. Damals hatte er darüber
nur gegrinst. Wie über alles, was ihm da erzählt wurde. So etwas gab
es einfach nicht, das waren doch Märchen, und überhaupt: Was hatte
denn dieser Jesus mit ihm zu tun! Daß der für seine Sünden
gestorben sein sollte, verstand er nicht, damit wußte er nichts
anzufangen. Pastorengeschwätz halt; die mußten ja so reden, weil sie
dafür bezahlt wurden. Für ihn hatte das keine Bedeutung. Damals nicht
und jetzt auch nicht.

Oder doch? Sollte seine Krankheit etwa mit seinem
Leben zusammenhängen? Könnte er vielleicht gesund werden, wenn ihm
seine Sünden, seine Schuld vergeben würden? Er überdachte sein
Leben, und manches fiel ihm ein, an das er sich gern und mit Freuden erinnerte:
Zeiten, in denen er gut verdiente und sich vieles leisten konnte. Menschen, mit
denen ihn Freundschaft oder Liebe verbunden hatten. Fröhliche Stunden beim
Becherklang. Doch da gab es auch vieles, das er besser nicht getan hätte.
Das er gern ungeschehen machen würde. Wo er Menschen geschadet, sie an
Leib und Seele verletzt hatte. Seine Frau, seine Kinder, auch andere. Er
schämte sich.

An diesem Tag betete er zum ersten mal seit seiner
Kindheit, am nächsten Sonntag ging er zum ersten mal seit seiner
Konfirmation in einen Gottesdienst. Predigttext war die Heilung des
Gichtbrüchigen, und der Pastor sagte: „So, wie Jesus diesem einen
seine Sünden vergeben und ihn dadurch geheilt hat, hat er durch seinen Tod
und seine Auferstehung unser aller Sünden ausgelöscht. Unsere
Vergangenheit ist vergangen, wir dürfen neu zu leben beginnen!“

Nach dem Gottesdienst erzählte er dem Pastor
seine Geschichte. Der bestätigte ihm, daß seine Schuld vergeben sei,
und segnete ihn. Lud ihn in die Gemeinde ein und bot ihm Gespräche an,
auch Beichte, wenn er sie wünsche.

Er nahm die Angebote an, begann, in der Bibel zu
lesen, betete immer wieder. Es fiel ihm schwer, für sich anzunehmen,
daß seine Schuld vergeben, seine Sünde bedeckt sei. Immer wieder
dachte er, daß er bestraft werden müsse. Denn wer Böses getan
hat, gehöre ja wohl bestraft. Und wenn einen keiner bestraft, muß
man es eben selber tun und sich z. B. einen Tumor nehmen. So gingen seine
Gedanken. Doch irgendwann, nach vielen Gebeten und vielen Gesprächen,
dämmerte es ihm: Daß Jesus für mich gelitten hat, gestorben und
auferstanden ist, heißt: Ich darf mit meinen Schwächen und Fehlern,
darf trotz meiner Sünden leben. Sie zählen nicht. Vergangen ist
vergangen. Ganz begreifen konnte er das nicht, aber er wollte es glauben.

Das Unerwartete geschah: Die Krankheitssymptome
gingen zurück, verschwanden schließlich völlig, und die
Ärzte schrieben ihn gesund.

Das gab seinem Leben eine neue Richtung: Er suchte und fand wieder
Arbeit, sogar in seinem erlernten Beruf. Verdiente nicht schlecht, zog in eine
andere Wohnung, richtete sich solide ein. Legte Geld beiseite. Anfangs war er
richtig stolz auf sich, daß er das schaffte. Doch mit der Zeit nahm sein
Stolz ab, er wußte immer weniger, wofür er das alles tat. Er hielt
engen Kontakt zu seiner Gemeinde, doch der blieb einseitig. Er war neu und die
anderen kannten sich schon lange, er kam nicht dazwischen.

Durch Zufall – später sprach er von
Fügung – lernte er eine mönchische Bruderschaft kennen. Dort war
er willkommen, dort wurde er wie ein Bruder angenommen, dort fühlte er
sich wohl. Nach längerer Zeit, nach vielem Bedenken bat er um Aufnahme. Er
wollte sich ganz in den Dienst Gottes, in den Dienst am Nächsten stellen.
Er löste seine Wohnung auf, verkaufte, worauf er einmal stolz gewesen war,
und zog zu den Brüdern. Betete mit ihnen, arbeitete mit ihnen, teilte ihr
bescheidenes Leben. Und wurde immer zufriedener oder, mit seinen Worten, er
fand seinen Frieden.

Dann entdeckte er den heruntergekommenen Hof,
machte aus ihm ein Zentrum der Nächstenliebe, einen Ort der
Sündenvergebung. Hier konnte er „an andern üben, was Gott
für ihn getan.“

Amen

Gemeinde: EG 82, Strophen 4 – 8

Gebet: Ach Gott, wir können nicht
Leben, ohne an anderen Menschen schuldig zu werden, und diese Schuld quält
uns manchmal, macht uns sogar krank an Körper, Geist oder Seele. Zwar
hören wir immer wieder, daß durch Leiden, Tod und Auferstehung
Christi unsre Sünde, unsre Schuld vergeben ist – doch oft fällt es
uns schwer, diese Vergebung für uns anzunehmen. Statt dessen rechnen wir
mit Strafe und Vergeltung. Guter Gott, wir bitten dich: Hilf uns, deiner
Vergebung zu glauben.

Ach Gott, manchmal fällt es uns schwer,
Schuld und Sünde einzugestehen. Dann werden wir hart, dann sind wir
gelähmt, zu anderen Menschen zu gehen und um Vergebung zu bitten. Dann
laß du uns daran erinnern, daß du uns schon vergeben hast. Und,
Gott, manchmal verweigern wir anderen die erbetene Vergebung, obwohl du schon
lange vergeben hast. Darum bitten wir dich um ein wenig von deiner Güte,
daß wir sie weitergeben können.

Du hast uns durch Leiden, Tod und Auferstehung
deines Sohnes Heil und Heilung geschenkt. Laß uns dies Geschenk aus
Dankbarkeit mit anderen teilen. So wird es noch größer, bringt auch
anderen Menschen Heilung und Heil.

Anmerkung

Justus Gesenius lebte von 1601 bis 1673, war Pfarrer in
Braunschweig, Schloßprediger in Hildesheim, Oberhofprediger und
Generalsuperintendent in Hannover und gab gemeinsam mit seinem Freund David
Denicke 1646, im Dreißigjährigen Krieg also, ein „Neu
ordentlich Gesang-Buch“ heraus, das auch den von ihm verfaßten Text
„Wenn meine Sünd mich kränken“ enthielt. Die Melodie hat er
übernommen.

Dieser Text hat mich vor allem deshalb
angesprochen, weil er – im Unterschied zu manchen anderen Passionsliedern
– den „Erlösungsegoismus“ durchbricht und den Schritt vom
„Für-mich“ zum „Für-dich“ geht als
„Dankbarkeit für die Erlösung aus dem Elend“ (Heidelberger
Katechismus) und gewissermaßen aus der Dogmatik eine Ethik entwickelt.
Ferner fiel die Verbindung „Sünde – Krankheit – Vergebung –
Heilung“ auf, die in Verkündigung und Seelsorge wohl seltener als in
Therapeuten-Praxen angesprochen wird.

Außerdem ist der Text ziemlich frei von in
Passionsliedern nicht seltener Romantisierung des Leidens (Christi). Diese
(ver)führt gelegentlich zu dem Kurzschluß, eigenes Leiden als
identifizierende Partizipation am Leiden Christi zu interpretieren und dann das
eigene Leiden pfleglich zu behandeln und zu konservieren. Solches Verhalten
aber ignoriert die Auferstehung Christi.

Schließlich hat der Text des Gesanges mich an einen Menschen
erinnert, dessen Biographie mich zu der folgenden Erzähl-Predigt angeregt
hat; das Wirken der Evangelischen Josephsbruderschaft in 29416 Amt Dambeck ist
ebenfalls in die Geschichte mit eingeflossen.

Zum Gottesdienst

Eingangspsalm: 130

Lesung: Mk 2, 1 – 12

Vor der Predigt: EG 82, Strophen 1 – 4 singen. Danach die
Gemeinde bitten, den ganzen Gesang aufmerksam und in Ruhe zu lesen.

Paul Kluge
Provinzialpfarrer im Diakonischen
Werk in der
Kirchenprovinz Sachsen
Postfach 54, 39028 Magdeburg
E-Mail: Paul.Kluge@t-online.de


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