Das Wort geht vom Vater aus

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Das Wort geht vom Vater aus

Predigtreihe „Passion im Lied“ – Gründonnerstag,
12.4.2001

EG 223 „Das Wort geht vom Vater aus“, Ulrich Braun


Das Wort geht von dem Vater aus

1. Das Wort geht vom Vater aus,
Und bleibt doch ewiglich zu
Haus,
und geht zu der Welten Abendzeit,
das Werk zu tun, das uns
befreit.

2. Da von dem eignen Jünger gar,
der Herr zum Tod
verraten war,
gab er als neues Testament,
den Seinen sich im Sakrament

3. gab zwiefach sich in Wein und Brot,
sein Fleisch und
Blut, getrennt im Tod,
macht durch des Mahles doppelt Teil,
den ganzen
Menschen satt und heil.

4. Der sich als Bruder zu uns stellt,
gibt sich als Brot
zum Heil der Welt,
bezahlt im Tod das Lösegeld,
geht heim zum
Thron als Siegesheld.

5. Der du am Kreuz das Heil vollbracht,
des Himmels
Tür uns aufgemacht:
gib deiner Schar im Kampf und Krieg
Mut, Kraft
und Hilf aus deinem Sieg.

6. Dir, Herr, der drei in Einigkeit,
sei ewig alle
Herrlichkeit.
Führ uns nach Haus mit starker Hand
zum Leben in das
Vaterland.

Text: Otto Riethmüller 1932/34 nach dem Hymnus
„Verbum supernum prodiens“ des Thomas von Aquin 1264

Liebe Gemeinde!

Gesungene Dogmatik ist ein Widerspruch in sich und eine Zumutung
obendrein. Choräle spiegeln verdichtete Lebenserfahrung wider. Dogmatiken
dagegen sind Lehrgebäude, von den Statikern des Glaubens errichtet und auf
ihre Haltbarkeit geprüft. In Chorälen schreien Menschen „Aus
tiefer Not“ oder überschreiten mit der Ermutigung „Geh aus mein
Herz und suche Freud“ die Grenzen des Natürlichen. Die Aneignung
religiöser Lehrgebäude ist im Gegensatz zur Ekstase nicht wirklich
ein religiöser Zustand.

Die scholastische Lehre vom Abendmahl bleibt für den modernen
Menschen auch in gesungener Form unverdauliche Kost. Am Rande darf
gemutmaßt werden, ob sie dem mittelalterlichen Christenmenschen je
zugänglicher gewesen ist. Aber sei es drum: In dem Lied „Das Wort
geht von dem Vater aus“, scheint noch am ehesten das darauf gereimte
„… und bleibt doch ewiglich zu Haus“ einzuleuchten. In meinem
Herzen jedenfalls will es nicht Wohnung nehmen noch darin nachklingen, und ich
empfinde wenig Neigung, irgendeinem Statiker des Glaubens mit meinem Gesang
auch noch den Mörtel für seine Konstruktionen anzurühren.

Allerdings hat der Verfasser der Verse darüber, wie denn vom
Glauben geredet werden kann, Sätze gesagt, hinter denen man keinen
Statiker des Glaubens vermuten wird: „Wir müssen die Botschaft so
sagen können“, schreibt Otto Riethmüller, „ dass es die
heutige Jugend hört und fassen kann … Der junge Mensch wird nur bereit
sein, mit mir hinzuhorchen, wenn er es mit einem zu tun hat, der nicht auf
alles schon eine fertige Antwort hat, sondern selber ergriffen vor dem
Geheimnis der Botschaft steht.“

Vielleicht hat es unser Autor doch verdient, noch einmal genauer
hinzuhorchen. Wie klingt die besungene Abendmahlslehre eigentlich, wenn man sie
vor den Grundtönen der Entstehungszeit und zusammen mit ihren Neben- und
Störgeräusche hört?

Die „heutige Jugend“, das waren für Otto
Riethmüller die Jugendlichen der frühen 30er Jahre des letzten
Jahrhunderts. In Stuttgart 1889 geboren, war Riethmüller seit 1928 Leiter
des evangelischen Reichsverbands weiblicher Jugend in Berlin-Dahlem. Dort
musste er mit ansehen, wie zu Weihnachten 1933 die evangelische Jugend der
Hitlerjugend und dem Bund deutscher Mädel (BDM) eingegliedert wurde.

Als Reaktion darauf gründete die Bekennende Kirche, also
diejenige kirchliche Organisationsform, die sich der Gleichschaltung durch den
nationalsozialistischen Staat verweigerte, eine eigene Jugendkammer.
Riethmüller wurde ihr Vorsitzender.

Die Aufgabe, den Jugendlichen vom Evangelium zu erzählen,
fand unter verschärften Bedingungen statt. Den Schlüssel zum Besitz
des Erdreichs sahen die Zeitgenossen eben mehr in der Flinkheit der Windhunde,
in der Zähigkeit des Leders und der Härte eines namhaften
Stahlprodukts und nicht in der Sanftmütigkeit verheißen. Und wie
konnte vor dem unseligen Getöse der Kraft-durch-Freude-Propaganda davon
geredet werden, dass die Leidtragenden getröstet, der Hunger nach
Gerechtigkeit gestillt und Barmherzigkeit erlangt werden soll, wie, dass
ausgerechnet die Friedfertigen Gottes Kinder heißen werden.

Der Geräuschhintergrund zeigt in Riethmüllers Versen
Wirkung. Für zarte Innerlichkeit ist kein Platz. Es gilt, gegen den
Heldenkult auf einen eigenen Siegeshelden setzen zu können. „Gib
deiner Schar im Kampf und Krieg / Mut, Kraft und Hilf aus deinem Sieg“
dichtet Riethmüller gegen völkische Heilserwartungen an.

Die sprachlichen Grundmuster seiner Zeit sind dabei
unüberhörbar und wecken gemischte Gefühle. „Führ uns
nach Haus mit starker Hand / zum Leben in das Vaterland“ muss eben erst
durch den vorangestellten Vers als Gegenmodell zum weltlichen
Führerprinzip qualifiziert werden: „Dir Herr, der drei in Einigkeit,
/ sei ewig alle Herrlichkeit!“.

Die Welt schickt sich an, aus den Fugen zu geraten.
Verständlich, dass Otto Riethmüller sich an einen besonders sicheren
Ort zu flüchten sucht. Bei Thomas von Aquin hofft er ihn zu gefunden zu
haben. Bei dem Architekten des scholastischen Lehrgebäudes, in dessen
„Summe der Theologie“ die kirchliche Lehre gewissermaßen ihre
Bauabnahme erfährt. Eine Art Kölner Dom der Gedanken, zwischen
Buchdeckeln gesichert.

Die Zeitumstände machen Riethmüllers Rückgriff auf
verlässliche Pfeiler des christlichen Lehrgebäudes verständlich.
Einleuchtender werden dogmatische Verhältnisbestimmungen dadurch freilich
noch nicht. Allerdings teilt sich darin mit, dass die Verse in der Ahnung einer
heraufziehenden Katastrophe entstanden sind.

Tatsächlich befand sich die Welt am Rand des Abgrundes, am
Vorabend der Katastrophe sozusagen. Noch saßen an Tischen die versammelt,
aus deren Reihen bald schon Mörder und Opfer, Verratene und Verräter,
Mitläufer und Umfaller, Vertriebene und Vertreiber kommen sollten. Als
dunkler Hintergrund zeichnet sie sich schon ab, was der Welt schon bald
widerfahren wird. Mit der Geschichte vom letzten Abendmahl wählt
Riethmüller die richtige Gesellschaft.

Noch einmal sitzen die Zwölf mit ihrem Jesus beisammen. Dass
sich Unheil zusammenbraut, ist fast körperlich spürbar. Wie nah es
ist, und dass es auch nicht nur in ihre Mitte einbrechen wird, sondern schon
mitten unter ihnen seinen Keim hat, ahnt unter den Jüngern wohl keiner,
aber ihre Welt wird aus den Fugen geraten.

Keine vierundzwanzig Stunden später werden zwei aus ihrer
Runde nicht mehr am Leben sein. Judas wird den Mann aus Nazareth an seine
Mörder ausgeliefert haben. Er selbst wird sich – angesichts der Folgen
seines Verrats – das Leben nehmen. Petrus wird versuchen, seine Welt mit Gewalt
daran zu hindern versuchen aus den Fugen zu gehen. Und er wird eh der neue Tag
beginnt, alles verleugnet haben, woran er geglaubt und worauf er gesetzt hat,
weil es zu nichts mehr gut ist, als sein Leben in Gefahr zu bringen. Die
Jünger werden sich erst hinter Türen verrammeln und dann in alle
Winde zerstreuen. Sie werden enttäuscht an die Orte zurückkehren, von
denen sie mit so großen Hoffnungen aufgebrochen waren.

Das Unheil wird seinen Lauf nehmen. Soviel ist klar. Und nichts
hat der Mann aus Nazareth dagegen zu setzen als Brot und Wein – und die
Worte „solches tut zu meinem Gedächtnis“. Kein Pfeiler, der in
die Statik der Welt eingezogen werden könnte, kein Zufluchtsraum, in den
sich die Seinen aus der Welt flüchten könnten, keine Siegespose, die
die unheiligen Ereignisse aufhalten würde.

Mit den Worten aber „solches tut, so oft ihr esst und so oft
ihr’s trinkt, zu meinem Gedächtnis“ ist zugleich der Keim
für die Zeit nach der Katastrophe gelegt. Keiner von denen, die dabei
gewesen sind, wird jemals das Brot brechen können und den Wein trinken,
ohne an den Mann aus Nazareth zu denken. Und die das Brot essen und den Wein
trinken können empfinden, dass es ein Band zwischen Gott und dem Menschen
gibt, das auch durch das Wüten der ganzen Welt nicht entzwei gerissen
werden kann.

Was dieses Band ist und was es bedeutet, kann nicht gelehrt und
nicht gelernt werden. Es lässt sich nicht als Gebäude konstruieren,
und sein Bestand ist nicht zwischen Buchdeckeln zu sichern. Aber es kann
empfunden und entdeckt werden. Manchmal auch in Geschichten, die gar nicht
ausdrücklich mit dem Abendmahl verbunden sind.

Wolf Biermann, der Dichter und Liedermacher, erzählte in
einem Interview folgende Erinnerung: Sein Vater saß 1941 im
Gestapo-Gefängnis in Bremen. Er war Jude und Kommunist, eine Mischung,
deren einzelne Bestandteile auch für sich genommen schon tödlich sein
konnten. Der fünfjährge Wolf wohnte mit seiner Mutter in
Hamburg-Hammerbrook in einer Arbeiterwohnung. Vor der Wohnung, im Treppenhaus,
stand ein kleiner Handwagen zum Spielen.

In diesem Handwagen nun fand sich an jedem Morgen ein Bonbon, ein
Stückchen Zucker oder irgendein süßes Nichts. Von diesem
Stückchen habe, so berichtet Wolf Biermann, seine Mutter täglich zu
berichten gewusst, wie der Vater es in Bremen vom Gefängnis aus auf den
Weg geschickt hatte.

Natürlich hatte das Bonbon auf dem Weg nach Hamburg allerlei
Abenteuer und Gefahren zu bestehen. Winters musste es über vereiste und
vom Schnee verwehte Straßen nach Hamburg gelangen. Täglich musste
das Wägelchen die Elbe überqueren und oftmals ließen die
Berichte der Mutter es nur mit knapper Not in den Hausflur gelangen. Wenn der
kleine Wolf den Geschmack des Zuckerstückchens auf der Zunge schmeckte,
dann, berichtet Biermann, habe er gewusst: „Mein Vater ist bei mir. Er
denkt an mich und hat mich lieb.“

„So oft ihr’s esst und so oft ihr’s trinkt“,
sagt Jesus seinen Jüngern, sollt ihr schmecken und sehen, dass eure
Verbindung untereinander nicht zerrissen ist. Was immer aus den Fugen geraten
ist: Ihr könnt auf das zurückkommen, was euch am Vorabend des Unheils
verbunden hat.

Nichts wird dadurch verhindert und nichts vermieden. Das Unheil
nimmt seinen Lauf, aber es wird die Verbindungen zum Leben und zum Menschsein
nicht kappen können. Indem ihr esst und trinkt sollt ihr in euch
aufnehmen, dass euer Vater im Himmel so fern nicht ist, wie das Unheil glauben
machen will.

Otto Riethmüller hat auch diesen Geschmack des Abendmahls auf
der Zunge gehabt, als er Zuflucht bei den lateinischen Versen Thomas von Aquins
suchte. Und er hat mit viel Bedacht die Melodie des Passionsliedes „Wir
danken dir, Herr Jesu Christ“ für seine Übertragung
gewählt. Dessen letzte Strophe heißt: „Und schöpfen draus
die Zuversicht, / dass du uns wirst verlassen nicht, / sondern ganz treulich
bei uns stehn, / dass wir durchs Kreuz ins Leben gehn.“

„Das Wort geht von dem Vater aus“ klingt wie gesungene
Dogmatik. Als solche ist es eine Zumutung. Aber zugleich ist es verdichtete
Lebenserfahrung vom Vorabend der Katastrophe. Otto Riethmüller hat diese
Katastrophe nicht überlebt. Er starb 1938 nach schwerer Krankheit, der er
nichts mehr entgegen zu setzen hatte. Der aus den Fugen geratenden Welt aber
hat er das Mahl vom Vorabend der Kreuzigung entgegen gehalten. Für einen
Moment sind darin alle versammelt. Und alles Getöse hat zu schweigen.

Was immer kommen muss, wird kommen. Aber es bedeutet nicht das
Ende des Menschenlebens, weil das Menschenleben immer von Neuem auf den
Geschmack des Lebens zurückkommt. Wer sich am Gründonnerstag zum
Abendmahl versammelt, der mag, wenn er den Geschmack auf der Zunge spürt,
ahnen: Mein Vater ist bei mir. Und selbst angesichts des Todes vermag er mich
auf den Geschmack des Lebens zu bringen.

Amen


Ulrich Braun
Pastor in Jühnde, Barlissen und Meensen

im Kirchenkreis Münden
eMail: Ulrich.F.Braun@t-online.de

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