Wie eine Mutter…

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Wie eine Mutter…

Predigt zu Jesaja 66, 10-14, verfasst von Verena Salvisberg |

 

Freut euch – eine seltsame Aufforderung mitten in der Passionszeit.

Freut euch – eine seltsame Aufforderung in Zeiten des Corona-Virus und all den Folgen, die seine rasend schnelle Verbreitung für unseren Alltag hat.

Schulen geschlossen, Anlässe gestrichen, Risikogruppen definiert, Verhaltensmassnahmen gefordert – von allem am Schlimmsten finde ich, was unter dem Stichwort «social distancing» gefordert wird. Eine Massnahme, die die Verbreitung des Virus stoppen oder zumindest verlangsamen soll. Damit will man verhindern, dass das Gesundheitswesen unter einer zu grossen Anzahl von Corona-Patienten zusammenbricht.

Social distancing – trostlos ist das, liebe Gemeinde. Und etwas, was die Kirche in der Mitte trifft. Was sollen wir noch, wenn man uns Gottes Menschenfreundlichkeit nicht mehr leiblich werden lässt? Wozu sind wir denn noch nütze, wenn wir nicht mehr Besuche machen dürfen im Altersheim und im Spital? Wenn wir nicht mehr einladen dürfen zu heiteren und besinnlichen Nachmittagen für ältere Menschen? Wenn wir nicht mehr zusammenbleiben dürfen nach dem Gottesdienst bei Kirchenkaffee oder Apéro? Wenn sich Konfirmand*innen im Gruppenchat darüber unterhalten, ob sie wohl besser auf den Kirchengang verzichten «i go nid…weg de alte lüt…wenn eper vo üs ds virus het de chöi d lüt us der chile dran sterbe»[1]

 

Freut euch – gerade heute kommt uns dieser Zuruf fremd vor, aber es ist der Anfang unseres Predigtwortes aus dem Propheten Jesaja:

Freut euch mit Jerusalem, und jauchzt über sie, alle, die ihr sie liebt! Frohlockt von Herzen mit ihr, alle, die ihr um sie trauert! Damit ihr trinkt und satt werdet an der Brust ihres Trosts, damit ihr schlürft und euch erquickt an ihrer prall gefüllten Mutterbrust. Denn so spricht der HERR: Sieh, wie einen Strom leite ich den Frieden zu ihr und den Reichtum der Nationen wie einen flutenden Fluss, und ihr werdet trinken, auf der Hüfte werdet ihr getragen, und auf den Knien werdet ihr geschaukelt. Wie einen, den seine Mutter tröstet, so werde ich euch trösten, und getröstet werdet ihr in Jerusalem. Und ihr werdet es sehen, und euer Herz wird frohlocken, und eure Knochen werden erstarken wie junges Grün. Und die Hand des HERRN wird sich bekannt machen bei seinen Dienern und sein Zorn bei seinen Feinden.

Die prall gefüllte Mutterbrust, an der das Menschenkind schlürfen und sich erquicken kann. Auf der Hüfte wird es getragen und auf den Knien geschaukelt. Das sind sinnliche Bilder von inniger Nähe. Die im Satz gipfeln: «Wie einen, den seine Mutter tröstet, so werde ich euch trösten, und getröstet werdet ihr in Jerusalem».

 

Wie eine Mutter…

So konkret, so lustvoll, so körperlich wird hier gesprochen, wir können gar nicht anders als an Mütter denken, die wir kennen. Uns erinnern an unsere eigenen Mütter, den Trost des Mutterschosses. Die offenen Arme, auch wenn wir uns verrannt haben.

Oder an die Mütter, die wir selber sind, die Liebe die uns widerfahren ist bei der Geburt unserer Kinder, vom ersten Moment an. Eine strapazierfähige Liebe, über die wir uns selbst immer wieder wundern.

Martin Luther hat geschrieben, Gott sei „wie ein Backofen voller Liebe“, ein persönliches Bekenntnis zum liebenden und sorgenden Gott: zu dessen Wärme und Beheimatung für uns Menschen.

 

Wie eine Mutter…

Bei allen schönen Erinnerungen, bei aller Mutter-Romantik: Nicht jede und jeder kann da einstimmen. Es gibt Menschen, für die ist dieser Vers unerträglich. Die von ihrer Mutter Ablehnung und Härte erfahren haben, die ihr Kind nicht lieben konnten. Einem Gott als liebender Mutter können sie nicht trauen. Ein trostvolles Mutterbild ist für sie eine Herausforderung.

 

Wie eine Mutter…

An dieser Stelle im Jesajabuch wird neben den vielen männlichen Gottesbildern in der Bibel eines mit deutlich weiblichen Zügen entworfen.

Die prall gefüllte Mutterbrust, an der das Menschenkind schlürfen und sich erquicken kann. Die Hüfte, auf der es getragen wird und die Knie, auf denen es geschaukelt wird.

Das mag für viele ein Trost sein, gerade auch für die, die mit einem Vatergott hadern.

Ein sorgendes, nährendes, trostreiches Bild von Gott.

Es ist wohl so: Gott ist weder männlich noch weiblich. Aber wie könnten wir ihn anders beschreiben als in Bildern, anders von ihm sprechen als in unserer Sprache, ihn anders denken als in uns zur Verfügung stehenden Kategorien?

Und das sind wir in guter Gesellschaft mit unseren Vorfahren im Glauben.

 

Wie eine Mutter…

Wenn wir von Gott als einer tröstenden Mutter sprechen, spielen unsere Mütterbilder eine Rolle.

Ich möchte heute weitere dazu legen. Zwei Bilder, die aus Filmen stammen und die sich mir unvergesslich eingeprägt haben.

 

Das erste stammt aus dem Film «Dead man walking», der 1996 erschienen ist. Er handelt von einem Mann, der ein junges Paar ermordet hat und in der Todeszelle auf seine Hinrichtung wartet. Die Nonne Helen nimmt zu ihm Kontakt auf und besucht ihn. Sie lernt sowohl die Angehörigen der Opfer und auch die des Täters näher kennen. Bei ihren Besuchen bei den Familien werden ihr die Fotoalben mit Kinderfotos gezeigt: Bei den Eltern des Opfers ein Foto eines etwa vierjährigen herzigen Jungen mit gelben Gummistiefeln und bei den Eltern des Täters ein praktisch identisches Foto eines etwa vierjährigen herzigen Jungen mit gelben Gummistiefeln. Sehr eindrücklich wird hier filmisch ausgedrückt, wie unverfügbar das Leben der Kinder für die Mütter ist. «Kei Mueter weiss, was ihrem Chind wird gscheh..», sang schon die Maria der Zäller Weihnacht.[2]

 

Das zweite Bild stammt aus dem Film «Titanic» aus dem Jahr 1997. Die ganze zweite Hälfte des dreistündigen Films dreht sich um den Untergang des Schiffs, unter anderem werden Szenen gezeigt, wie sich privilegierte Menschen einen Platz in den nicht ausreichend vorhandenen Rettungsbooten sichern. Schon relativ bald wird für die Drittklasspassagiere der Zugang zum Oberdeck abgeriegelt. Sie haben also keine Chance, sich auf dem sinkenden Schiff in Sicherheit zu bringen. In einer eindrücklichen Szene bringt eine Mutter ihre Kinder ins Bett, mit dem für sie gewohnten Gutenachtritual mit Lied und Gebet. Es ist klar, der Tod der ganzen Familie steht unmittelbar bevor, aber die Mutter lässt sich nichts anmerken. Sie ist nur Mutter, das einzige, was sie noch tun kann.

 

Und noch etwas möchte ich diesen Mütterbildern hinzufügen: So ganz fremd ist das mit dem social distancing auch den Müttern nicht. Mindestens nicht denen, die Kinder in der Pubertät haben oder Kinder, die sich von ihnen entfernt oder losgesagt haben. Die Erfahrung, dass körperliche und seelische Nähe abgelehnt wird, vielleicht nur auf Zeit, aber trotzdem. Dass Muttertrost nicht gefragt ist. Es gab eine Zeit, da war für meine Kinder die Rede von der prall gefüllten Mutterbrust, von der tragenden Hüfte und den wiegenden Knien und dass sie damit etwas zu tun gehabt haben sollen, mit grossem Ekel verbunden. Die Zurückweisung schmerzt.

 

Und das gilt auch für Gott: «Ich war erfragbar für die, die nicht nach mir fragten, ich liess mich finden, von denen, die mich nicht suchten (Jes 65,1)… die sagen: Bleib, wo du bist! Komm mir nicht nah! (65,5)».

Es tröstet die Erfahrung, dass trotz der körperlichen Distanz das Band der Liebe da ist, hindurchträgt und tröstet.

Darin besteht die Kraft dieses Jesaja-Wortes: Es verkündet die gute Nachricht, dass die Welt trotz aller Bedrohung und Gefährdung auch voller Trost ist: in den Armen von Müttern und Vätern, von Freundinnen und Freunden, Familien und Nachbarschaften, aber auch im treuen Verkünden dieser Spur des tröstlichen Friedens, den Gott seiner Welt verspricht. Einer Liebe, die Distanz aushält.

 

Wir sind die, die davon erzählen sollen, das ist unsere Aufgabe.

Social distant, nicht weil das unserem Wunsch entspricht oder unserer Berufung, sondern weil das anscheinend jetzt nötig ist. Dennoch vertrauend, beharrlich hoffend auf diese Zusage:

Und ihr werdet es sehen, und euer Herz wird frohlocken, und eure Knochen werden erstarken wie junges Grün.

Amen

 

Pfrn. Verena Salvisberg Lantsch

Roggwil

E-Mail: verenasalvisberg@bluewin.ch

 

Verena Salvisberg Lantsch, geb. 1965, Pfarrerin seit 1. Dezember 2018 in Roggwil BE, vorher in Laufenburg und Frick.

 

 

[1] Ich gehe nicht… wegen den alten Leuten…wenn jemand von uns das Virus hat, dann könnten die Leute aus der Kirche daran sterben..

[2] Die Zeller Weihnacht  ist ein musikalisches Krippenspiel und Singspiel von Paul Burkhard. Erstmals aufgeführt wurde es in der Dorfkirche in Zell (südöstlich von Winterthur) im Jahr 1960.

 

de_DEDeutsch