Jerusalem – die Widersprüchliche

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Jerusalem – die Widersprüchliche

Predigt zu Jesaja 66,10–14, verfasst von Thomas Bautz |

Liebe Gemeinde!

„Jerusalem die Goldene“, „Die Heiligkeit“ (arabisch: al-Quds), die viel Besungene, die Umjubelte, die Ersehnte, aber auch die Beklagte, die Umkämpfte, die Kritisierte und die Untreue, die Abtrünnige und die Totschlägerin – eine Stadt, die zum Symbol geworden ist für all die Menschen, die sich Frieden für die Völker im Nahen Osten und für die Einheit der drei großen Buchreligionen wünschen. Eine starke theologische Konzentration „aller Traditionen in Jerusalem“ ist erkennbar und dass „einzig Jerusalem kontinuierlich über die Jahrhunderte hinweg Zentrum Israels und des Judentums ist“.[1]

Ein wichtiger Begriff ist der Zion, zunächst auf den Berg bezogen, auf den Jerusalem erbaut wurde, dann aber auch synonym für die Stadt selbst gebraucht, häufig als poetische Variation für Jerusalem, aber schließlich „als theologische Chiffre für die Heiligkeit und Uneinnehmbarkeit des Tempelberges und der Stadt“. Nach der „Jerusalemer Tempeltheologie“ (Zionstheologie) wohnt und thront JHWH auf dem Zionsberg in seinem Heiligtum in Jerusalem, deklariert als ein gleichermaßen himmlischer wie irdischer Bereich, verbunden mit der Vorstellung eines „neuen Jerusalem“.[2] Gegenwart JHWHs beinhaltet „Heil und Wohl der Stadt und des Staates“, „Uneinnehmbarkeit, Fruchtbarkeit und Schönheit“ und „soziale Gerechtigkeit“.[3]

Jerusalem hat eine beherrschende Ausstrahlung, weil in ihr „alles absolut ist: die Gerüche, die Enge, die Geschichte, die Religion.“ Dieser Ort lässt seine Besonderheit spüren, jedes Kopfsteinpflaster ist beladen mit Geschichte und „getränkt vom Blut“. Jerusalem, „die an jeder Ecke ein anderes Gesicht hat“: „abweisend, erdrückend, aber auch anziehend und unwiderstehlich“.[4]

Die Ambivalenz spiegelt sich schon in prophetischen Traditionen, worin harmonische Verhältnisse zwischen Jerusalem (Israel) und JHWH wie friedvolle Beziehungen des Volkes zu Nachbarvölkern angesprochen werden. Häufig ist der Frieden mit Nachbarländern eine Frucht der Harmonie Israels mit seinem „Gott“. Kriselt es aber im Verhältnis zu JHWH, gerät auch die friedliche Koexistenz mit den Nachbarn in eine Krise. Konsequenter als später das Christentum mahnt die prophetische Kritik soziale Gerechtigkeit für alle an und klagt bei der Politik ein verantwortungsvolles, besonnenes Handeln nach innen und nach außen ein.

Die Bildsprache der Prophetie ist behutsam, ermutigend, tröstend, aber auch drastisch, zynisch, drohend. Vergangenes, gegenwärtiges oder nahendes Unglück kann als Folge des Ungehorsams Israels (Jerusalems) interpretiert werden, wird aber oft genug auf „Gottes“ souveränen Willen und sein autonomes Handeln gedeutet. Daneben darf Jerusalem großzügige, unverdiente Geschenke empfangen, die ihr durch die Liebe des göttlichen Beschützers zuteilwerden, der sie wie eine Mutter umsorgt. Dabei ist es durchaus ungewöhnlich und „äußerst selten“, weibliche Metaphern auf den Gott Israels zu beziehen,[5] während das Bild „Zion als Mutter“ geläufiger ist.[6]

Durch die Vorstellung der Präsenz JHWHs werden Tempelberg, Tempel und Jerusalem theologisch aufgeladen: alles erhält den „Status des Heiligen“; als Folge der göttlichen Gegenwart wird dem Zion „universale Bedeutung zugesprochen“. Er versteht sich als Zentrum, als „Mittelpunkt der Welt“.[7] Da man sich JHWH metaphorisch gut als König vorstellen kann, der vom heiligen Berg in Zion universale Herrschaft ausübt, liegt ein Absolutheitsanspruch gegenüber anderen Göttern, Religionen, Kulturen und Völkern nicht fern. Einen solchen Anspruch erheben auf ihre Weise auch Christentum und Islam.

Es ist dem selbstkritischen theologischen Potential des biblischen Prophetentums zu verdanken, dass der Absolutheitsanspruch immer wieder neu hinterfragt wird. Problematisch bleibt sein Auftreten da, wo er im politischen, pseudoreligiösem Gewande auftritt. Hasserfüllte Konflikte zwischen Muslimen und Juden (Israelis) beruhen zum Teil auf fehlgeleiteten, pseudohistorischen Ansprüchen, ihrerseits aber auf den Absolutheitsanspruch der eigenen Religion zurückgehend. Bei diesem angedeuteten Gemenge kann man Jerusalem als widersprüchlich und zwiespältig empfinden.

Ich präsentiere Ihnen Liedgedichte (in Auszügen), die mit Niveau die Zwiespältigkeit dieser Stadt poetisch zur Sprache bringen; das erste singt Daliah Lavi (1942–2017): „Jerusalem“ (1971):[8]

„Where the mothers of sons never cease their weeping / Where the fathers of faith in the ground lie sleeping / Where the seeds of time have a whirlwind reaping / Oh Jerusalem is. //  Where the cobblestones / Wet with the blood of ages / Hear the echo of wheels turning history’s pages – / Where the cries of fools stilled the words of sages // Oh Jerusalem is.”

„Wo die Mütter der Söhne niemals aufhören zu weinen / Wo die Väter des Glaubens in der Erde ruhen / Wo die Samen der Zeit eine Wirbelwind-Ernte halten / Ach, Jerusalem! // Wo das Kopfsteinpflaster nass ist vom Blut der Jahrhunderte / Hör das Echo der Räder welche Seiten der Geschichte umschlagen / Wo die Schreie der Dummen die Worte der Weisen zum Schweigen brachten // Ach, Jerusalem!“

„Oh When will tomorrow’s sons / Tomorrow’s daughters / Never taste of the bread cast upon the waters / And put down the sword that performed the slaughters / Where Jerusalem is?”

„Ach, wann werden die zukünftigen Söhne und Töchter / nicht mehr das in Wasser geweichte Brot essen / und das Schwert niederlegen, welches die Schlächter präsentieren / wo Jerusalem ist.“

„And the river / Oh the river runs and the world keeps turning / And the water’s cold / Though the sands are burning / And the mountains know while we still are learning / What Jerusalem is.”

„Und der Fluss / Ach, der Fluss fließt und die Welt die dreht sich weiter / Und das Wasser ist kalt / obwohl die Sande brennen / und die Berge wissen wohingegen wir ständig lernen müssen / was Jerusalem ist.“

Das Lied verwendet realistische Andeutungen und Metaphern („Bildworte“), wie man sie aus der hebräischen Bibel kennt. Schon seit Jahrhunderten fließt Blut auf dem Kopfsteinpflaster Jerusalems, nicht nur verursacht von Besatzungsmächten und Zerstörern wie Assyrer, Babylonier und Römer, deren Streitwagen auf den Straßen Angst und Schrecken verbreiten, sondern von einflussreichen Leuten des eigenen Volkes. Durch den Mund des Propheten Jeremia wird daran erinnert, dass Gott seine Diener, die Propheten, immer wieder mit Eifer gesandt hat. Das Volk hat aber nicht auf sie gehört: „sie haben ihren Nacken hart gemacht, sie waren schlimmer als ihre Vorfahren“ (Jer 7,25.26).

Der Rabbi aus Nazareth greift das Prophetenwort auf und radikalisiert es. Geht es bei Jeremia noch um die Entweihung des Tempels durch unsoziales, unethisches, kriminelles Verhalten und Verehrung der Götzen (Jer 7), so nimmt der Nazarener speziell Schriftgelehrte und Pharisäer ins Visier, die nicht nur als „theologisch“ geschult, sondern auch als besonders fromm gelten wollen. Sie rechtfertigen sich, was die düstere Vergangenheit betrifft (cf. Mt 23,29–24,2 in Auszügen):[9]

„Wir wären nicht schuldig geworden am Blut der Propheten.“ Doch Jesus lässt sich nicht irremachen; auch ihnen würden Propheten, Weise und Schriftkundige gesandt. Und „ihr werdet einige von ihnen töten und kreuzigen, und einige werdet ihr auspeitschen in euren Synagogen (…); so soll über euch kommen all das gerechte Blut, das immer wieder vergossen wird (…) Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst die zu dir gesandt sind!“

„Seht, man wird euch das Haus verwüstet hinterlassen!“ „(…) Amen, ich sage euch: Hier wird kein Stein auf dem andern bleiben, jeder wird herausgebrochen“ (Jesus angesichts der Tempelbauten). Daher ist frommen, teilweise auch liberalen Juden die Westmauer als Überbleibsel unerhört wichtig. Man nennt sie dort nicht „Klagemauer“, denn sie ist auch ein Ort des Bitt- und des Dankgebets.

Es gibt aber nicht nur Mahn- oder Drohworte an die Adresse Jerusalems. Vermutlich überwiegen die Zusagen für Frieden und Sicherheit; daher sind Berge ein Symbol für Geborgenheit in Gott (Ps 125,2): „Von Bergen rings umgeben ist Jerusalem, so umgibt JHWH sein Volk, von nun an bis in Ewigkeit.“[10]

Jerusalem verkörpert den Orient in seiner Vielfalt, drei Buchreligionen auf engstem Raum: Judentum, Christentum, Islam. Und alle drei haben ihre gewichtigen Kultstätten oder Heiligtümer an diesem Ort. Jede der drei Weltreligionen hat ihre eigene Historie und spezifischen Traditionen; daher haben sich verschiedene Auffassungen zur spirituellen Bedeutung Jerusalems entwickelt. Diese Ideen lassen sich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Die erste beruht auf wichtigen Ereignissen aus der Historie, die den Impuls zur Ausformung der spirituellen Bedeutung Jerusalems gegeben haben; die zweite Perspektive besteht in ideologischen oder theologischen Vorstellungen, die auf Jerusalem bezogen sind und die sich in neuen religiösen, theologischen oder sozialen Kontexten entwickelten. Im Unterschied zur historischen Perspektive ist die zweite weitaus schwieriger zu analysieren, zumal sich beide Perspektiven mitunter überschneiden.[11]

Es gibt Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten. Was die drei Religionen vereinen könnte, sind  schriftliche Überlieferungen, die trotz der Verschiedenheiten gemeinsame Wurzeln aufweisen. Die Interpretationen der als heilig erachteten Texte und der mündlichen Tradition sind innerhalb jeder Religion kontrovers. Daher gilt es, jene zunächst auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, um erst hernach in einen interreligiösen Dialog zu treten. Andererseits können besonders ausgefallene, exzeptionelle Schriftauslegungen Gespräche zwischen den Religionen auch befeuern, vorantreiben oder fruchtbare Kontroversen auslösen.

Schaut man sich die Geschichte Jerusalems etwas vereinfacht an, so wird deutlich, dass sich die Gemüter am meisten daran erhitzen, wie man das Verhältnis von Religion und Politik betrachtet. Innerhalb des Judentums hat es dazu im Grunde noch nie eine einhellige Anschauung gegeben. Man macht es sich vermutlich zu einfach, wenn man von außen den Staat Israel und das Judentum nicht nur voneinander unterscheidet – was in einer Hinsicht sinnvoll ist –, sondern sie sogar trennt. Aber das würde streng genommen bedeuten, dass man unterstellt, es gäbe Israelis im eigenen Land, die keine Juden sind und Juden in Israel, die keine Israelis sind. Wäre das ihr Selbstverständnis? Leute, die ihre Religion gewechselt haben (Konvertiten) stellen womöglich ein eigenes Problem dar.

Ist das Christentum befähigt, zwischen den Religionen zu vermitteln? Es ist jünger als das Judentum, aber älter als der Islam. Es stellt sich heute entspannter, gelassener zu politischen Verwicklungen, als dies im Laufe seiner Geschichte häufig geschehen ist. Freilich darf das Christentum, wenn es Rede und Antwort stehen soll, seinen Gesprächspartnern gegenüber nichts vorgaukeln, als hätte es jemals eine weiße Weste getragen. Diese Ehrlichkeit darf man allerdings auch vom Judentum und vom Islam erwarten. Am schwierigsten dürfte es sein, dem Islam mit Respekt zu begegnen, seine innerreligiösen und politischen Probleme – durch die oft bestrittene, aber faktisch vorhandene Vermischung von Religion und Politik – nicht nur zu erkennen, sondern behutsam zu  versuchen, mit gesprächswilligen Vertretern des Islam Instrumentarien zu entwickeln, die realistisch und wirksam Hilfe bieten.

Dazu scheint Jerusalem, auch pars pro toto für ganz Israel (s. Sprachgebrauch der hebräischen Bibel), das geeignete Terrain zu bieten; diese Stadt ist ohnehin Schmelztiegel für religiöse und politische Konflikte und Auseinandersetzungen.[12] Aber vielleicht wäre sie in ferner Zukunft einmal Vorbild für Israels Nachbarländer im Nahen Osten. Dafür ist freilich eines unverzichtbar, nämlich eine kritische Aufarbeitung eigener Geschichte; eine Konsequenz wäre die gerechte Auf- und Zuteilung der Gebiete, deren Zugehörigkeit bis dato nicht wirklich geklärt ist. Dabei muss man sich von außen vor einseitiger Parteinahme hüten. Die Geschichte der Israelis und Palästinenser prägt bis heute auch das Schicksal Jerusalems – eine faktisch geteilte Stadt, wobei die Kultstätten aller drei Religionen in Ostjerusalem liegen, beansprucht von den Palästinensern, allenthalben aber auch von den Israelis.[13]

Zweifellos ist die Geschichte Israels und Jerusalems vom Krieg und dem Ringen um Frieden geprägt, und man könnte ohne Zynismus, aber mit Realitätsbewusstsein behaupten, dass diese Region quasi gleichzusetzen sei mit dem Nahostkonflikt. Gewalt, Terrorakte, Anschläge und Selbstmordattentate erschüttern immer wieder das Alltagsleben, reißen viele Menschen in den Tod, fordern über Jahre Hunderte von Schwerverletzten. Das sind keine kriegerischen Aktionen, sondern heimtückische, Menschen verachtende Mordtaten, die weder Zivilisten noch betende Leute verschonen. Man hat den Eindruck, dass alle Friedensbemühungen und der Wille für gegenseitiges Verständnis angesichts dieses Hasses und der bösartigen Gewalt sinnlos sind. Aber um der Menschen Willen, die dort leben, dürfen wir uns weder Resignation noch Gleichgültigkeit erlauben.

Pilger, Touristen, die jährlich Jerusalem besuchen, sagen, dass man auch Religiosität und Romantik dort erleben kann. Manche erzählen, wie sie gestärkt nach Hause fuhren. Eine israelische Sängerin, Ofra Haza (1953–2000) hat auf überzeugende Weise Jerusalem als die Goldene besungen:[14]

„Die Luft der Berge ist klar wie Wein, / Und der Duft der Pinien / schwebt auf dem Abendhauch. / und mit ihm, der Klang der Glocken. // Und im Schlummer von Baum und Stein, / gefangen in ihrem Traum; / liegt die vereinsamte Stadt / und in ihrem Herzen eine Mauer.

Wie vertrocknet die Brunnen sind, / wie leer der Marktplatz. / Keiner, der den Tempelberg besucht, in der alten Stadt. // Und in den Höhlen der Felsen, heulen die Winde. / Und es gibt keinen, der hinabstiege zum Toten Meer, auf der Straße nach Jericho. // Brennt doch Dein Name auf den Lippen, wie ein Kuss der Serafim: / Wenn ich Dein vergäße –  Jeruschalajim, Du ganz und gar Goldene. //

Ja, wir sind zurückgekehrt, / zu den Brunnen, zum Markt und Deinen Plätzen. / Der Klang des Schofars hallt über dem Berg, dort in der Altstadt. // in den Höhlen am Felsen scheinen Tausende von Sonnen. / Lass uns wieder hinabsteigen zum Toten Meer, über die Straße nach Jericho. // Jerusalem aus Gold / und aus Kupfer und aus Licht, / lass mich doch, für all deine Lieder, die Geige sein.“

Man kann, sollte und darf diese in ihrer Schönheit und Widersprüchlichkeit beeindruckende Stadt nicht vergessen; so bekunden es bereits die Exilierten aus Babylon (Ps 137,4–6):

„Wie könnten wir Lieder JHWHs singen auf fremdem Boden. Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, soll meine Rechte verdorren. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht mehr gedenke, wenn ich Jerusalem nicht erhebe über die höchste meiner Freuden.“

Religionsgeschichtlich, historisch und politisch bleibt dauerhafter Frieden für Jerusalem, für Israel ein Traum, der sich leider immer wieder in einen Alptraum verwandelt. Seit Staatsgründung im Mai 1948 ist Israel ein permanenter Kriegsschauplatz, an dem mehrere Länder beteiligt sind. Noch in der Nacht nach der Gründung erklären Ägypten, Saudi-Arabien, Transjordanien, Libanon, Irak und Syrien dem neuen Staat den Krieg, worauf Israel einen Unabhängigkeitskrieg (erster Arabisch-Israelischer Krieg) führt. Angesichts der militärischen Übermacht der arabischen Angreifer ist es erstaunlich, dass die Israelis lange genug Widerstand leisten,[15] bis ein Waffenstillstandsabkommen zustande kommt.

In den Jahren und Jahrzehnten danach gibt es in kürzeren und längeren Abständen immer wieder  Kriege,[16] in denen es um Gebietsabtretungen und Gebietseroberungen geht. Eine große Rolle spielt auch das Ringen um die Anerkennung Jerusalems – nicht nur des West-, sondern auch des Ostteils der Stadt – als Hauptstadt. Der Staat Israel will nicht länger mit einer geteilten Stadt leben.[17] Aus palästinensischer Sicht ist Ostjerusalem Hauptstadt eines zukünftigen Palästinenserstaates. Man kann sich auch ohne genaue Kenntnisse ausmalen, dass es genug Potential gibt, um das Pulverfass Naher Osten bzw. die näheren Umstände Jerusalems zu explosiven Entladungen kommen zu lassen. Hilfreiche Regularien bietet theoretisch das Völkerrecht.[18] Aber es käme auf den Friedenswillen der betroffenen Parteien an, der sich aus einer gemeinsamen Quelle speisen müsste:

Keine Historie, Kultur, Religion eines Volkes rechtfertigt religiöse oder politische Absolutheits- oder Herrschaftsansprüche. Jedes Volk soll seine eigenen Traditionen bewahren, ihre Gültigkeit und Wert aber gegenüber anderen Wertgemeinschaften als relativ betrachten. Gegenseitige Toleranz ist im Ringen um dauerhaften Frieden unabdingbar. Selbstkritisches Bewusstsein und Bescheidenheit sind weitere Stützpfeiler für einen Dialog zwischen den verfeindeten Völkern. Schuldzuweisungen aber sind in keiner Weise hilfreich. In Jerusalem und im Nahen Osten überhaupt sind alle Kriegsparteien massiver Verletzungen des Völkerrechts und der Missachtung von Menschenrechten schuldig. Es ist sehr schwierig, von außen Hilfestellungen anzubieten, besonders wenn keine Neutralität vorliegt. Ein warnendes Beispiel sind die USA, die durch ihr proisraelisches Verhalten einen Konflikt in Jerusalem und Gesamtisrael provozieren. Israel und die USA haben ein nahezu symbiotisches Verhältnis.[19]

Was lernen wir aus dem Nahostkonflikt? Wie stehen wir zu Jerusalem? Unbestreitbar sind Christen sehr unterschiedlich auf Jerusalem und auf das Judentum zu sprechen. Lassen wir die Vorurteile, Abneigungen und Gewalttaten einmal beiseite, so dürfen wir registrieren, dass es viele Touristen in die heilige oder goldene Stadt zieht; viele von ihnen sind religiös oder christlich motiviert,[20] wollen tatsächlich das Judentum näher kennenlernen. Wer so seinen Horizont erweitert, wird auch daheim Menschen anderen Glaubens offener begegnen, seine eigene Religion vielleicht etwas relativieren. Mögen Fremdes und Gemeinsames inneres Wachstum schenken und Toleranz wachsen lassen!

Jerusalem – eine Stadt, wo JHWH Präsenz zeigt: „Auf ewig lässt Gott sie bestehen“ (Ps 48,9c).

Amen.

Pfarrer Thomas Bautz

Bonn

E-Mail: thomas.bautz@ekir.de

 

 

[1] TRE 16 (1987), Art. Jerusalem (I.) Altes Testament, 590–609 (Peter Welten): 600.

[2] Cf. Understanding the Spiritual Meaning of Jerusalem in Three Abrahamic Religions, hg.v. Antti Laato, Studies on the Children of Abraham 6 (2019): (1) Hebrew Bible – Common Background: Jerusalem as the Centre of Blessing in Isaiah 65–66 and 1 Enoch 26,1–2 (Stefan Green), 41–70: 41–55.

[3] Simone Paganini/ Annett Gierke-Ungermann: Zion / Zionstheologie (2013), S. 2f (wibilex); Marc Wischnowsky: Tochter Zion (2006), S. 2 (wibilex).

[4] Juliane von Mittelstaedt: „Ein Versuch über Jerusalem“ (2006), in: Gisela Dachs: israel kurzgefasst (2010), 34.

[5] Leszek Ruszkowski: Volk und Gemeinde im Wandel. Eine Untersuchung zu Jesaja 56 – 66, FRLANT 191 (2000), 109.

[6] Wolfgang Lau: Schriftgelehrte Prophetie in Jes 56 – 66. Eine Untersuchung zu den literarischen Bezügen in den letzten elf Kapiteln des Jesajabuches, BZAW 225 (1994), 132–133.

[7] S. Paganini/ A. Gierke-Ungermann: Zion / Zionstheologie (2013), S. 3–4. Zion/ Jerusalem als „Axis Mundi“, s. Understanding the Spiritual Meaning of Jerusalem in Three Abrahamic Religions (2019): Jerusalem as the Centre of Blessing in Isaiah 65–66 and 1 Enoch 26,1–2 (Stefan Green), 45–46.

[8] https://www.songtexte.com/songtext/daliah-lavi/jerusalem-2bcce886.html; zu dem Text gibt es eine relativ gute Übersetzung, s.: https://www.songtexte.com/uebersetzung/daliah-lavi/jerusalem-deutsch-73d6320d.html. Daliah Lavi war israelische Schauspielerin und Sängerin.

[9] S. Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/3 (1997): Das Jerusalemwort (23,37–39), S. 376–386; Das harte, aber realistische Wort über den Tempel (24,1–2), S. 386–387.

[10] „Die auf JHWH vertrauen“, werden mit dem „Berg Zion“ verglichen, „der nicht wankt, der ewig bleibt“ (V. 1).

[11] Cf. Understanding the Spiritual Meaning of Jerusalem in Three Abrahamic Religions (2019): Understanding the Spiritual Meaning of Jerusalem. A Religious Historical and Theological Overview (Antti Laato), 3–40: 3–4.

[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Jerusalem.

[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Ostjerusalem; s. Noah Flug/ Martin Schäuble: Die Geschichte der Israelis und Palästinenser (2007, 2008).

[14] Yerushalayim shel Zahav; hebräischer Text: Naomi Shemer, ges. 1967 (Juni: Sechstagekrieg) v. Shuli Nathan gesungen; Transkr. u. Übersetzung: D. Gall, hagalil.com, https://www.hagalil.com/iwrith/jerusalem.htm; Daliah Lavi singt es 1968; später hat das Lied außer Ofra Haza noch viele Interpreten. Das Lied (hier in Auszügen) hat der Nationalhymne Israels (haTikwa; Hoffnung) für kurze Zeit Konkurrenz gemacht; in Israel kennt es jedes Kind, s. https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/lied-aus-gold/ (aktualisiert 12. März 2020).

[15] Cf. N. Flug/ M. Schäuble: Geschichte der Israelis und Palästinenser (2008): Die Teilung Palästinas, die Staatsgründung Israels und der erste Arabisch-Israelische Krieg, 41–56: 47–53.

[16] Einen kurzen Überblick gibt https://de.wikipedia.org/wiki/Arabisch-Israelische_Kriege; cf. Flug/ Schäuble: Geschichte der Israelis und Palästinenser (2008).

[17] S. Helmut Hubel/ Tilman Seidensticker (Hg.): Jerusalem im Widerstreit politischer und religiöser Interessen. Die Heilige Stadt aus interdisziplinärer Sicht (2004): Der Staat Israel und sein Anspruch auf das „ungeteilte Jerusalem“ (Angelika Timm), 161–181.

[18] S. Jerusalem im Widerstreit (2004): Der Status Jerusalems – eine völkerrechtliche Betrachtung (Martina Haedrich), 183–195.

[19] Cf. Jerusalem im Widerstreit politischer und religiöser Interessen (2004): Die USA und Jerusalem (Jörg Nagler), 197–223: 197–202. Ob die Entscheidung von Präsident Trump, Jerusalem als Hauptstadt anzuerkennen, richtig ist, muss die Zukunft zeigen. Für Palästinenser ist es ein „Akt der Aggression“ (Pressemeldung).

[20] Cf. Jerusalem im Widerstreit (2004): Jerusalem aus der Sicht des Christentums (Georg Hentschel), 73–97.

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