Wolke der Veränderung

Wolke der Veränderung

Predigt zu 2. Chr 5, 2-5.12-14 | verfasst von Uland Spahlinger |

 

2 Damals versammelte Salomo die Ältesten Israels, alle Stammeshäupter, die Fürsten der Familien der Israeliten in Jerusalem, um die Lade des Bundes des HERRN heraufzuholen aus der Stadt Davids, das ist Zion.

3 Und alle Männer Israels versammelten sich um den König am Fest, es war der siebte Monat.

4 Und alle Ältesten Israels kamen, und die Leviten hoben die Lade auf,

5 und sie trugen die Lade hinauf, das Zelt der Begegnung und alle heiligen Geräte, die im Zelt waren. Die Priester und die Leviten trugen alles hinauf.

12 und als die Leviten, die Sänger waren, sie alle, Asaf, Heman, Jedutun und ihre Söhne und ihre Brüder, in Byssus gekleidet, mit Zimbeln und Harfen und Leiern östlich vom Altar standen, und mit ihnen hundertzwanzig Priester, die die Trompeten bliesen,

13 und als die Trompeter und die Sänger wie ein einziger Mann eine einzige Stimme anzustimmen hatten, um den HERRN zu loben und zu preisen, und als sie einsetzten mit Trompeten und mit Zimbeln und mit anderen Musikinstrumenten und als sie den HERRN lobten: Ja, er ist gut; ja, ewig ist seine Güte!, da wurde das Haus von einer Wolke erfüllt, das Haus des HERRN.

14 Angesichts der Wolke aber konnten die Priester nicht hinzutreten, um den Dienst zu verrichten, denn die Herrlichkeit des HERRN hatte das Haus Gottes erfüllt.

-2. Chr 5, 2-5.12-14 (Zürcher Bibel)

 

Liebe Gemeinde,

was für eine witzige Pointe am Schluss dieser alten Erzählung über die Weihe des Jerusalemer Tempels! Der gewaltige Aufmarsch – die ganz große Inszenierung – und dann: als die Musiker „einsetzten mit Trompeten und mit Zimbeln und mit anderen Musikinstrumenten und als sie den HERRN lobten: Ja, er ist gut; ja, ewig ist seine Güte!, da wurde das Haus von einer Wolke erfüllt, das Haus des HERRN. Angesichts der Wolke aber konnten die Priester nicht hinzutreten, um den Dienst zu verrichten, denn die Herrlichkeit des HERRN hatte das Haus Gottes erfüllt.“ – „Wo Gott anwesend ist, müssen die Priester Pause machen,“[1] fasst der Leipziger Theologieprofessor Alexander Deeg augenzwinkernd zusammen.

Und ich kenne so manchen Zeitgenossen, dem diese Pointe durchaus gefallen könnte. Übrigens auch manche KirchenmusikerInnen……

Der weihevolle Klang der Kirchenmusik ruft Gottes Gegenwart im Raum hervor, aber der Kultus – oder sagen wir: die Liturgie – kommt zum Ende.

Heute, am Sonntag Kantate des Jahres 2020, können wir nach acht Wochen wieder anfangen mit den Sonntagsgottesdiensten in Bayern. Wie schön ist das, wenn auch ohne die an diesem Sonntag üblichen großen, feierlichen und hoffnungsvollen Chöre, die zu diesem Sonntag der Osterzeit so gut passen. Ohne Ehrung von verdienten Sängerinnen und Sängern oder Chorleitern. Mit einer Gemeinde, die auf markierten Plätzen und mit Mund-Nase-Bedeckung Platz nehmen muss, nur verhalten singen soll (das aber immerhin, soweit das mit den Masken geht) und weiterhin allgemeine Vorsicht walten lässt.

Mit einem Blödsinn, der ab und an behauptet wurde, will ich an dieser Stelle aber aufräumen. Es stimmt einfach nicht, dass das Versammlungsverbot in Kirchen gleichbedeutend mit einer modernen Form der Christenverfolgung sei. Im Gegenteil: Wir haben viele neue Formen der Verkündigung entdeckt, notgedrungen, aber schnell und kreativ. Das Internet als Medium ist zwar kein Ersatz für Gemeinschaft live, aber mehr als ein Notbehelf. Die Videogottesdienste, mit denen wir begonnen haben, werden wir weiterführen – für die, die nicht kommen können, sei es aus Vorsicht oder aus Angst oder aus nachvollziehbaren medizinischen Gründen.

Vielleicht haben wir ein Stück Unbefangenheit und Sorglosigkeit verloren, was unsere Alltagsgestaltung betrifft. Wir haben vielleicht die überraschende Entdeckung gemacht, dass nicht alles gut ist, was möglich ist – nur weil man es halt machen kann.

Aber wir haben auch dazugewonnen: an Solidarität, am Ausloten kreativer Möglichkeiten, an „Nähe durch Abstand“ (und damit meine ich, dass Gemeinschaft eben nicht nur Schulter an Schulter erlebbar wird).

Eins aber stimmt auch – und ich weiß, das geht mir nicht allein so: Als leidenschaftlichem Chorsänger fehlt mir dieses Erlebnis, das Einstudieren, die Proben, dieser Moment, wenn aus geschriebenen Noten gesungener Klang wird – eine Sprache ganz eigener Qualität, die auch dann funktioniert, wenn die Worte nicht deine Muttersprache sind. Musik schafft Verbindungen über alle menschlichen Grenzen hinweg: Sprache, Kultur, Hautfarbe, Religion. Eines der besten Originalklangensembles der Welt ist das Bachkollegium Japan. Jazzmusiker waren in vorderster Reihe bei den Überwindern der Rassentrennung in den USA. Musik, diese strenge und gleichzeitig so vielfältige Formensprache, hilft Grenzen zu überschreiten – sie schafft fast so etwas wie eine eigene Ökumene des Klangs (und ich meine dasjetzt nicht religiös – man muss nicht alles gleich überhöhen).

Aber nicht nur der Wohlklang geschulter Chöre fällt mir ein. Nicht nur die dürfen ja nicht singen. Ich kann sie ein bisschen verstehen, die Fußballfans, die für ihre Mannschaft Schlachtgesänge anstimmen. Oder die großen Rockkonzerte: Wenn etwa Deep Purple „Smoke on the Water“ anstimmen – dann könnten sie gleich wieder aufhören, das Publikum übernimmt, und alle wissen, warum sie in dieses Konzert gekommen sind. Ich war schon ein paarmal dabei. Oder auch – geradezu paradox und doch wieder irgendwie stimmig: die Weihnachtssingaktionen in den großen Stadien, angefangen bei Union Berlin, nicht gerade der Inbegriff eines christlichen Vereins? Ob es die geben wird – heuer im Dezember?

Ja, wenn Menschen gemeinsam singen können und sich dabei noch ein bisschen verlieren dürfen, dann entsteht etwas Beglückendes. Dann verbinden sich Worte, Melodien, Leute.

Und noch so ein Beispiel, dies wieder aus der jüngsten Vergangenheit. In Italien wurde der Lockdown verkündet, aber die Leute gingen auf ihre Balkone und sangen gegen die tödliche Krankheit an. Sie sangen ihr Dankeschön, sie sangen sich gegenseitig Mut zu. Sie sangen über die Vereinzelung hinweg. Egal ob Schlager oder Europahymne, Volkslied oder „Der Mond ist aufgegangen“ – wir singen gegen die eigene Unsicherheit an und erfahren dabei die Solidarität der Nachbarn, denen es ja in dem Moment ganz ähnlich geht wie uns.

„und als die Trompeter und die Sänger wie ein einziger Mann eine einzige Stimme anzustimmen hatten, um den HERRN zu loben und zu preisen, und als sie einsetzten mit Trompeten und mit Zimbeln und mit anderen Musikinstrumenten und als sie den HERRN lobten: Ja, er ist gut; ja, ewig ist seine Güte!, da wurde das Haus von einer Wolke erfüllt, das Haus des HERRN.

Es ist eigenartig mit dem Gesang und der Musik. Sie entstehen im Augenblick und vergehen gleich wieder, vielleicht mit ein paar Sekunden Nachhall. Aber sie machen etwas. Ich glaube, das ist es, was die Erzählung von der Tempelweihe sagen will: die Wolke der Herrlichkeit Gottes könnte ein Bild für diese Veränderung sein.

Nun ändert das Singen nichts an der Bedrohung durch ein Virus oder einen Krieg oder ein Erdbeben. Die Gefahren bleiben. Das Leben bleibt – mit all seinen Wendungen zwischen Geburt und Tod, mit den Brüchen, mit den krassen Unterschieden zwischen Reichen und Armen, mit Glück und Unglück, Fairness und Ausbeutung, Zerstörung von Lebensgrundlagen und solidarische Hilfe in der Not. Alles da, alles nebeneinander und oft nicht zusammenzubringen. Unsere Lebenskonzepte und unsere Wertehierarchien sind eben sehr, sehr unterschiedlich. Wir erleben das gerade.

In diesen Tagen werden überall in Bayern Stadträte und Gemeinderäte vereidigt. Quasi gleichzeitig führt ein Oberbürgermeister vor, wie man über lebenswertes Leben nicht reden darf. Keinesfalls. Boris Palmers Äußerung war ein Dammbruch. Und ist, Gott sei Dank, auch in aller Deutlichkeit als solcher aufs Schärfste kritisiert worden. Das ist kein Wohlklang zum Wohle der Menschen oder gar zum Lobe Gottes.

Was ich damit sagen will: die alte Geschichte vom Gesang zur Tempelweihe ist ein Bild dafür, wie es am Ende idealerweise herauskommen kann. Nämlich im Zusammenspiel der vielen so harmonisch, dass man gern zuhört und vielleicht sogar einstimmt. Wir haben davon, von diesem Zusammenspiel, viel erleben können in den letzten Wochen.

Dabei ging es auch in dieser Geschichte keineswegs von Anfang an harmonisch zu. Dieser Tempelbau war ja kein gemeinsamer Akt freiwilliger religiöser Baulust. Initiiert hatte ihn der König Salomo, errichtet wurde er durch Sklavenarbeit. Ein Ehrenplatz für die Bundeslade, in der die beiden Tafeln mit den Geboten Gottes aufbewahrt waren. „Als in Jerusalem der Tempel geweiht wird, markiert dies sichtbar das Ende der Zeit der Wanderung und des Unterwegsseins,“[2] schreibt Alexander Deeg. Feuerschein und Wolkensäule sind damit zu Zeichen der Vergangenheit geworden. Gott hat einen festen Ort bekommen – aber irgendwie ist er damit auch festgesetzt…. Salomo, der mächtige König, organisiert das Weihefest. Er lädt ein, er führt Regie. Es ist ein Fest auch zu seinen Ehren, nicht nur zur Ehre Gottes. In die Ordnung gehört dann auch, dass die Priester ihre Opfer bringen sollen und dass die vorgegebene Ordnung, die Liturgie, das Regelwerk eingehalten wird. So hatte es der König bestimmt. Und das Spannende ist, dass der König scheiterte. Die Priester gerieten ins Chaos. Es sind die Sänger und die Musiker, die den Raum so mit ihrem Klang füllen, dass Gottes Anwesenheit erfahrbar wird als „Wolke seiner Herrlichkeit“.

Darin liegt eine Kritik verborgen: Das Regelwerk ist es am Ende nicht, worauf es ankommt. Auch der Kultus nicht. Nicht die vermeintlich richtige, sauber durchgeführte Liturgie. Worauf es ankommt – sagt die Tempelweiheerzählung – ist allein dies: Gottes Gegenwart unter den Menschen soll erfahrbar werden. Dazu dienen die alten Erzählungen, dazu dienen unsere Lebenserfahrungen, dazu dient die Gemeinschaft, die wir Kirche nennen.

Und deshalb freue ich mich darüber, dass wir – und wenn auch noch so umständlich – wieder Gemein­de­gottesdienst feiern können. Hier in der Paulskirche. Nebenan in der katholischen Kirche. In den Dör­fern. In den Fernsehgottesdiensten oder am Radio. Egal. Wichtig ist: du bist nicht allein. Du bist verbun­den. Mit vielen anderen und mit Gott. Im Klagen wie im Loben. Im Bitten wie im Danken. Du bist nicht allein. Und Gott ist mit dir – an dem Ort, an dem du dich befindest. Auf den Wegen, die du gehst. Und deshalb, mit Hanns Dieter Hüsch gesprochen: „Lobe, den Herrn, du kleines sterbliches Ge­schöpf, sing ihm deine Liebe ins Gesicht.“[3] Wie schön, dass wir das wieder gemeinsam tun können. Amen.

Dekan Uland Spahlinger, Dinkelsbühl

uland.spahlinger@elkb.de

Zur Situation: Zum 10. Mai sind in Bayern Gemeindegottesdienste unter Auflagen wieder erlaubt – ein Schritt hin zur Gemeinschafts­erfah­rung, wenn auch noch längst nicht zum wünschenswert Gewohnten. Wir hier in Dinkelsbühl lernen gerade – und das recht erfolgreich – uns auf die veränderten Gegebenheiten auch längerfristig einzustellen.

[1] Alexander Deeg zum Text, Göttinger Predigtmeditationen 74. Jg, Heft 2 Göttingen 2020 S. 279

[2] AaO. S. 281.

[3] Hanns Dieter Hüsch, Kirche ist zu!, in: Das kleine Buch zwischen Himmel und Erde, Düsseldorf 2000, S.12

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