Mutter unser

Mutter unser

Predigt zu Jes 66,10–14 von Pfarrer Dr. Christoph Kock |

I. An der Brust

Das hat sie sich anders vorgestellt. Paul ist erst ein paar Wochen alt und verlangt volle Aufmerksamkeit. Sie hält ihn auf dem Arm und hofft, dass er die Feier durchhält. Ihr Jüngster rülpst vernehmlich und spuckt. Nicht alles landet auf der Windel, die über ihrer Schulter liegt. Es riecht säuerlich. Sie drückt Paul dem Kindsvater in den Arm, um die gröbsten Spuren zu beseitigen. Lenas Gesicht erscheint neben ihr über der Schultüte und sie erhält einen strengen Blick von ihrer Tochter. Sie hofft auf eine kurze Rede der Direktorin. Sie hofft auf einen schönen ersten Schultag für ihre Große. Sie hofft auf ein entspanntes Fest. Im Garten ist alles vorbereitet, die Sonne scheint – aber als sie endlich nach Hause kommen, ist Paul durch den Wind und schreit. Während sich der Vater ums Essen und die Getränke kümmert, läuft sie mit ihrem Sohn auf und ab. Sieht auf die Uhr. Aber dann ist ihr die Zeit egal. Sie legt Paul an. Schlagartig kehrt Ruhe ein.

 

„Marie!“ Die Stimme des Vaters schallt durchs Haus. Seufzend schleicht Marie die Treppe herunter. Warum hat Papa sie nicht einfach in Ruhe lassen können. Aber er besteht darauf, dass Marie Tante Annabell begrüßt. Sie ist Omas Schwester, also eigentlich Maries Großtante. Marie hat sich dem bevorstehenden Ritual entziehen wollen. Weil Tante Annabell sie wie ein Baby behandelt. So hat Marie es gestern ihrer Freundin Caro erklärt. „Sie redet mit mir wie mit einem Baby. Sagt andauernd, wie süß ich bin und das mit so hoher Stimme. Hallo, ich werde in zwei Wochen 9. Und dann drückt sie mich an ihre Brust und ich muss ihr Parfüm riechen.“ „Echt jetzt?“, in Caros Blick lag tiefstes Bedauern. Marie atmet noch einmal tief durch und tritt auf die Terrasse. „Hallo, Tante Annabell!“

 

Mit zerrissener Hose und aufgeschlagenem Knie steht Jonas vor der Tür. Ein Bild des Jammers. Er hat versucht, die Tränen zurückzuhalten. Aber als er seine Mutter sieht, beginnen sie zu laufen. „Ich bin mit dem Fahrrad hingefallen“! Sie nimmt ihn erst in den Arm und setzt ihn dann auf ihren Schoß, um sich das blutende Knie näher anzusehen. Die Nähe tut ihm gut. Jonas entspannt sich, der Schmerz lässt nach. Während sie die Wunde abtupft und schließlich ein Pflaster draufklebt, erzählt er ihr in allen Einzelheiten, was passiert ist. „Mein kleiner Junge“, denkt sie zärtlich und streicht ihm übers Haar. „Sonst muss ich dir jedes Wort aus der Nase ziehen und fürs Schmusen bist ja schon viel zu alt.“ Sie küsst ihm zum Abschied auf die Stirn und sieht ihm nach, wie er fröhlich aus dem Haus springt. Der Riss in der Hose stört kein bisschen.

 

 

II. Kinder, Kinder

So sind Kinder. Angewiesen auf Geborgenheit und Nähe. Und doch neugierig auf die Welt, die es zu entdecken gilt. Selbständig unterwegs, eigene Schritte erproben. Gehören dazu und grenzen sich ab. Nur wer Wurzeln hat, kann auch fliegen lernen.

Wie die Kinder. Wenn Frauen das von ihren Männern sagen, ist das kein Kompliment. Wenn Kinder das mit ihren Eltern erleben, ist das tragisch, begleitet von Sorge und Ohnmacht. Wenn Jesus fordert, so zu werden wie die Kinder, was hat er da nur im Sinn gehabt?

Kinder, Kinder! Gott schaut auf sein Volk Israel. Wo Ruinen das Bild bestimmen, sieht Gott eine Stadt. Wo Krieg und Gewalt ihre Spuren hinterlassen haben, sieht Gott eine Heimat. Da stehen sie in Jerusalem herum, aus dem Exil gekommen, und wissen nicht, was sie tun sollen. Enttäuscht, ratlos, erschöpft. Ein Bild des Jammers.

Was passiert ist? Die Kurzfassung: Ihre Großväter hatten Krieg geführt, auf Waffen vertraut – mit fatalen Folgen: Die Hauptstadt Jerusalem dem Erdboden gleichgemacht, der Tempel in Schutt und Asche. Viele derer, die überlebt hatten, wurden nach Babylon verschleppt. Mussten ihren neuen Herren im Exil dienen. Israel verschwand von der Landkarte. Eine Katastrophe. 50 Jahre später veränderten sich die Verhältnisse. Eine neue Großmacht besiegte ihre alten Feinde. Der neue Machthaber erlaubte ihnen, in die Heimat ihrer Vorväter und -mütter zurückzukehren, Jerusalem und Tempel wiederaufzubauen. Erst große Freude in Babylon, dann der Katzenjammer in Israel. Jetzt sind sie in der Heimat, die zugleich eine Fremde geworden ist. Ruinen werfen einen langen Schatten. Wiederaufbau? Wie ist der nur zu schaffen? Was ihre Großeltern und Eltern so inbrünstig herbeigesehnt haben, entpuppt sich als ihr Alptraum.

Wie die Kinder stehen sie da und beten: „Du, HERR, bist unser Vater; ‚Unser Erlöser‘, das ist von alters her dein Name.“ Gott hört sein Volk Israel und Gott geht das Herz über. Eine Tür geht auf und Gott nimmt sein Volk in den Arm.

 

Im Jesajabuch heißt es im 66. Kapitel:

10 Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt!

Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid.

11 Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes

denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust.

Denn so spricht der HERR:

Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom

und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach.

Da werdet ihr saugen,

auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen.

13 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet;

ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden.

Ihr werdet‘s sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras.

14 Dann wird man erkennen die Hand des HERRN an seinen Knechten

und den Zorn an seinen Feinden.

 

 

III. Überraschung!

Sie beten zu Gott als ihrem Vater und Gott verhält sich wie eine Mutter. Gott lässt sich nicht auf ein Bild festlegen. Ist für eine Überraschung gut. Eröffnet neue Wege. Stellt einen neuen Himmel und eine neue Erde in Aussicht. Bei Gott, durch Gott und mit Gott kann alles auch ganz anders werden. Auch das Bild, das sich Menschen von Gott machen. Machen müssen, um von Gott überhaupt reden zu können. Sie beten zu Gott als ihrem Vater und Gott gibt sich als Mutter zu erkennen. Diese Überraschung ist gelungen. Weil so oft von Gott als Mann die Rede ist. Vom Vater, Erlöser, seiner Liebe, seiner Gnade, seiner Treue. So selbstverständlich, so prägend, so lange eingebettet in einer von Männern dominierten Kultur, dass die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch dabei auf der Strecke geblieben ist. Überraschung! Gott ist anders als du denkst. Jenseits von Definitionen unterwegs. Wie ein Vater, aber auch wie eine Mutter. Wie ein Hirte, der sich um seine Schafe kümmert. Wie eine Frau, die ein verlorenes Geldstück sucht und sich freut, wenn sie es gefunden hat. Wer die Bibel aufschlägt, trifft auf Vielfalt, nicht auf Uniformität. Auf Widersprüchliches, das sich nicht verbinden lässt und doch nebeneinander Platz hat. Das mag zuweilen anstrengend sein, ist aber vor allem spannend. Gott, du bist wie du bist.

 

 

IV. Zwischen Vertrauen und Verantwortung

Gott wie ein Vater, wie eine Mutter. So verschieden die Bilder sind, eines verbindet sie: Wir werden zu Kindern. Und zu Geschwistern. Nicht durch die Geburt, sondern durch den Glauben. Vertrauen ist gefragt. Dass bei Gott alles gut wird. Gott alles gut macht.

Ja, darum geht es. Aber nicht ausschließlich. Es geht um Vertrauen, aber auch um Verantwortung. Um Talente und Gaben, die Gott jedem ihrer Kinder gegeben hat. Um Entscheidungen, die wir treffen können und müssen. Um das, was Gott uns da zumutet und zutraut. Ob wir es schaffen, umzukehren von ausgetretenen Wegen, die in der Sackgasse enden. Ob wir in der Lage sind, uns auf neue Wege zu trauen.

Gott traut uns eine Menge zu. Mitdenken, mitreden, mitentscheiden. Wie wir mit der Corona-Pandemie umgehen. Mit den bisher nie dagewesenen Einschränkungen. Wie wir uns solidarisch verhalten mit denen, die zur Risikogruppe gehören. Augenmaß behalten. Angst im Zaum halten. Zuhause bleiben. Neuland liegt vor uns. Mit anderen Menschen verbunden sein, indem wir Abstand halten. Das hört sich merkwürdig an, ist aber bitter nötig. In dieser Passionszeit ist Verzicht kein Selbstversuch, sondern allen auferlegt. Keine Reisen, keine Konzerte, keine Feiern. Zugleich ist Fantasie gefragt: Wie wir Kontakt halten können, ohne einander zu begegnen. Was wir teilen können. Zeit am Telefon. Was wir für einander tun können: Wege übernehmen für die, die besonders gefährdet sind. Und immer wieder zuhören. Gott traut uns eine Menge zu.

Es geht um Verantwortung, aber auch um Vertrauen. Dass alles, was wir tun, bei Gott gut aufgehoben ist. Dass Gottes Liebe den Ausschlag gibt – allen Unwägbarkeiten zum Trotz. Was für ein Vertrauen! Du kletterst bei Gott auf den Schoß und lässt dich trösten. Gott klebt ein Pflaster auf die Wunde und alles ist gut. Die Angst ist weg. In diesem Moment wirst du, was du längst schon bist. Wie ein Kind, das da betet:

Herr, meine Seele ist still und ruhig geworden,

wie ein Kind, das getrunken hat an der Brust seiner Mutter,

ein Kind, das getrunken hat,

so ist meine Seele in mir.

Israel, hoffe auf den Herrn

von nun an bis in Ewigkeit! [1]

 

Amen.

 

 

Liedvorschläge:

EG 98 (Korn, das in die Erde)

EG.RWL 664 (Wir strecken und nach dir)

WL 90 (Wo Menschen sich vergessen)

 

Eingangsgebet:

Ja, Gott, bei dir sind wir Zuhause.

Wie oft wir auch kommen.

Ob wir lieber hinten sitzen oder mittendrin.

Der Blick geht auf die Bibel.

Dein Wort für uns:

Du liebst, wo wir nur Ohnmacht spüren.

Du gibst dich hin,

wo uns andere gleichgütig sind.

Du säest Freude,

wo die Angst überhandnimmt.

Und manchmal überraschst du uns,

weil du uns menschlicher begegnest,

als wir es dir zugestehen.

Schenke uns offene Augen, Ohren und Herzen für deine Spuren, die unsere Wege kreuzen.

Darum bitten wir dich durch Jesus Christus,

in dessen Leid und Tod der Anfang großer Freude verborgen ist.

Amen.

 

Fürbittengebet:

Du öffnest deinen Himmel für uns.

Uns erreichen Nachrichten von Kriegen und Konflikten,

in denen Menschen auf der Strecke bleiben.

Sie stranden in Lagern fern der Heimat,

an Grenzen, die unüberwindbar bleiben.

Hilf, dass ihnen der Himmel aufgeht

und zeige uns, wo wir dazu beitragen können.

Dein Himmel ist stärker ist als jede menschgemachte Hölle.

 

Du öffnest deinen Himmel für uns.

Die Corona-Pandemie schränkt das Leben mehr und mehr ein.

Mit den Viren verbreitet sich Angst.

Der Kontakt zu anderen birgt Risiken.

Hilf, dass uns der Himmel aufgeht

und wir verantwortlich mit uns selbst und anderen umgehen,

ohne in Panik zu verfallen.

Dein Himmel reicht weiter als jede Ansteckungsgefahr.

 

Du öffnest deinen Himmel für uns.

Manche spüren davon nichts.

Sie sind einsam und haben sich vom Leben zurückgezogen.

Sie sind traurig, weil der Tod ihnen jemand genommen hat.

Hilf, dass ihnen der Himmel aufgeht

und zeige uns, wo wir dazu beitragen können.

Menschen aus unserer Gemeinde sind gestorben.

Wir müssen sie loslassen und vertrauen sie dir an.

In deinem Himmel werden sie Zuhause sein.

 

Barmherziger Gott, dein Himmel ist ein Geschenk.

Darum bitten wir mit den Worten deines Sohnes Jesus Christus,

der uns zu beten gelehrt hat:

 

 

Pfarrer Dr. Christoph Kock

Wesel

E-Mail: christoph.kock@ekir.de

 

Dr. Christoph Kock, geb. 1967, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland. Seit 2007 Pfarrer an der Friedenskirche in der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel.

 

[1]                Psalm 131; V. 2 nach: Nico ter Linden, Es wird erzählt …, Bd. 2: Markus und Matthäus sehen die Geschichte Jesu, Gütersloh ²2004, S. 116.

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