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Predigt über Joh 9,1-7 zum 8. Sonntag nach Trinitatis am 2.8.2020 | verfasst von Wolfgang Vögele |

Segensgruß

Der Predigttext für den heutigen 8.Sonntag nach Trinitatis steht Joh 9,1-7:

„Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.“

Liebe Schwestern und Brüder,

in diesen Ferientagen verwandeln sich die Masken tragenden Passanten, die den Großteil der Woche in ihre Wohnung eingeschlossen sind, in Touristen. Als solche wollen sie etwas Neues sehen, vor allem die Sehenswürdigkeiten an ihren Urlaubszielen: Aussichtstürme, Gebirgspanoramen, Rokokoschlösser, dazu die Parks, Museen, Boulevards, die Wahrzeichen der Großstädte. Ein Fernsehturm, die Freiheitsstatue und der Tower von London dienen als willkommene Kulisse für ein per SMS versandtes Foto an die Lieben daheim. Es zeigt die Familie in umarmender, lachender Einigkeit vor dem Zaun des Weißen Hauses oder auf der oberen Besucherplattform des Eiffelturms oder an der Bergstation der Seilbahn in den Alpen. Wer nur sehen will, dem wird die Sehenswürdigkeit zur Kulisse, um den Lieben daheim den gegenwärtigen Zustand der eigenen Erholung zu präsentieren und vielleicht ein wenig Neid zu wecken. Für ein tieferes Verständnis reicht der bloße, der oberflächliche Blick nicht aus. Zum Sehen muß die Information kommen, das Sehenswerte also durch das Wissenswerte ergänzt werden, durch einen Reiseführer, durch das Studium einer Informationstafel oder durch die Nachfrage bei einem einheimischen Passanten. Beide, der oberflächliche und der tiefere Blick auf die Sehenswürdigkeit eröffnen im günstigen Fall neue Eindrücke, Erfahrungen in zuvor nicht gekannten Kulturen. Nicht nur im Urlaub, auch zuhause richten sich die Augen stets auf Interessantes, Ungewöhnliches, Verborgenes, das sich im eigenen Blickfeld aufbaut.

Wenn das Ungewöhnliche keine Gefahr verheißt, vor der man fliehen müßte, können es die Blicke auch schnell wieder links liegen lassen. Das Sehen ist der menschliche Sinn für den oberflächlichen schnellen Kontakt. Wer nicht nur sehen, sondern auch durchschauen will, der braucht neben den Augen auch Ohren, Nase, Mund, Hände, also Hören, Riechen, Sprechen und Tasten, um sich einen umfassenden Eindruck von dem zu verschaffen, was man zuerst gesehen hat.

Die als Predigttext gehörte Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen ist eine Geschichte über Sehenswürdigkeiten im Reich Gottes, eine Geschichte von den vielen Varianten des Sehens, die ich in einem tieferen Blick nun Glauben, Barmherzigkeit und Wahrnehmung zuordnen möchte.

Für den Blindgeborenen, der in dieser Geschichte aus dem Johannesevangelium geheilt wurde, ergibt sich zunächst die interessante Frage, ob er nach seiner Spontanheilung im Gehirn wieder alles verarbeiten konnte, was er plötzlich an zuvor nicht Gesehenem wahrnahm. Genauso wie Jesus interessieren sich seit Jahrhunderten Augenärzte für blind geborene Menschen. Wenn solche Menschen nach einer Operation, die etwa eine Linsentrübung beseitigt, plötzlich zum ersten Mal sehen können, benötigt das Gehirn einige Zeit, um die entsprechenden visuellen Eindrücke auch in den Rahmen der Wahrnehmungen einordnen zu können. Das Gehirn muß erst lernen zu sehen. Das dauert einige Wochen, wenn nicht sogar Monate. Der Evangelist interessiert sich schon nicht mehr für diesen Lernprozeß.

Ihn beschäftigt auch nicht das moderne Mißtrauen gegenüber den Augen, wonach der menschliche Blick mehr vom zeitvertreibenden Fernsehen als vom genauen Hinsehen und Durchschauen bestimmt wird. Durch die kurze Geschichte des Evangelisten zieht sich statt dessen wie ein roter Faden die Unterscheidung zwischen der physiologischen Sehkraft, die jeder Brillenträger beim Augenarzt einmal im Jahr kontrollieren läßt, und dem geistlichen Sehen, das den Blick über die Wirklichkeit hinaus auf das Dasein des treuen, barmherzigen Gottes lenkt.

Das gesamte Johannesevangelium ist ganz zentral auf Sichtbarkeit angelegt: In jeder Geschichte, in jeder Rede ist Jesus damit beschäftigt, den Blick der Anhänger, der Jünger und der Interessierten zuerst auf sich und dann über sich selbst hinaus auf Gott zu lenken. „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“ (Joh 14,9) Daneben war Jesus von Nazareth geübt im genauen Beobachten. Seine Blicke gingen nicht ins Leere, er verlor sich nicht in Gedanken abseits der Menschen, sondern er nahm genau wahr, was um ihn herum geschah. Weil er glaubte, war er aufmerksam, dauernd bereit, ein nebensächliches Detail in eine Hauptsache der Barmherzigkeit zu verwandeln.

Er ging durch seine galiläische Provinzwelt, um geistlich zu beobachten. Hat der Blindgeborene auf ihn gewartet? Ich glaube nicht. Der Erzähler sagt nichts darüber. Vielleicht hat er ihn kommen hören. Er hat wohl nichts getan, um die Aufmerksamkeit Jesu auf sich zu ziehen. Vielleicht bettelte er; vielleicht saß er einfach nur da und ließ den Tag an sich vorüberziehen – so lange, bis Jesus auf ihn aufmerksam wurde. Der, der in besonderer Weise sehen und Durchblicke verschaffen konnte, traf zufällig auf den verarmten Blinden, der noch nichts etwas gesehen hatte – weder von Gott noch von der Welt.

Wir, die Zuhörer, wissen zu Anfang noch nicht, was Jesus von ihm will. Zuerst drängen sich andere vor: die Jünger. Und die Szene verwandelt sich von der zufälligen Begegnung in ein kalkuliertes theologisches Streitgespräch: Der Blindgeborene wird darin zum Gegenstand wie der Patient, an dessen Krankenbett die lernenden Ärzte im Praktikum ihren bewunderten Chefarzt über Symptome, Ursachen und Therapiemöglichkeiten einer seltenen Krankheit befragen. Die Jünger kümmert die Blindheit des Blindgeborenen offensichtlich wenig. Für sie, die theologischen Assistenzärzte, ist der Blinde nur ein ‚Fall‘, den sie mit ihrem Professor diskutieren wollen: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist?“ Die Frage fordert den Professor aus Nazareth zur Ursachenforschung auf. Jede Krankheit, also auch Blindheit, muß ihre Gründe haben: Hat er sich falsch ernährt? Hat er sich irgendwo angesteckt? Haben ihm die Eltern eine Krankheit vererbt? Hat er Schuld auf sich geladen, für die ihn Gott mit Blindheit schlug?

Dem Blindgeborenen stellen die Jünger die Frage nicht. Im Patienten sehen sie nur die interessante Krankheit, nicht den Menschen. Das ist nun ihrerseits eine Mediziner- und Theologenkrankheit, die sie am medizinischen und geistlichen Durchblick hindert. Denn für Jünger, die theologischen Ursachenforscher in den Berufsjahren steht fest: Da muß etwas gewesen sein. Darauf bestehen sie hartnäckig. Darin erinnern die Jünger an andere theologische Assistenzärzte, die Freunde Hiobs. Auch sie hatten darauf bestanden, daß es für Leiden, Krankheiten und die Armut Hiobs einen Grund und eine Ursache geben mußte. Hiob selbst hatte sich gegen diesen Verdacht immer gewehrt. Er war sich – zu Recht – keiner Schuld bewußt.

Die Jünger reproduzieren darin gelerntes theologisches Examenswissen. Sie sind von der Voraussetzung überzeugt: Krankheit muß irgendwie erklärt werden. In ihrer herrschenden Meinung steht Krankheit als eine Folge von vorherigen Sünden. Ihre theologische Korrektheit gipfelt in dem Satz: Mit Blindheit bei den Nachgeborenen straft oder sühnt Gott begangenes Unrecht. Dieser Satz ist wiederum von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig: Der Schöpfer der Welt hat Menschen und Dinge gut geschaffen. Eigentlich kann es Krankheit, Leid und Behinderung gar nicht geben. Wenn das alles trotz der guten Schöpfung vorkommt, dann muß eine einfache Erklärung herhalten. Mit Leiden will Gott begangenes Unrecht bestrafen. Davon sind die Jünger fest überzeugt. Ihnen ist nur fraglich, ob in dem Blindgeborenen seine Eltern bestraft werden oder der Blinde selbst. Damit die Jünger, Jesu Assistenzärzte, nun nicht allzu schlecht wegkommen – sie sind nicht die einzigen, die die Frage nach dem Grund einer Krankheit oder einer Behinderung stellen. Bestimmt hat sich auch der Blindgeborene selbst diese Frage gestellt. Ein Freund, der nach einer Tumoroperation im Krankenhaus lag, erzählte mir beim Besuch vor einiger Zeit: „So lange ich hier liege, suche ich nach Erklärungen für meine Krankheit. Ich will das verstehen: … wieso es gerade mich getroffen hat. Wenn ich den Grund wüßte, egal welchen, könnte ich leichter damit fertigwerden. Aber zu wissen, daß es für diese Krankheit vielleicht gar keinen Grund gibt, daß sie mich aus bloßem Zufall getroffen hat – das ertrage ich kaum.“

Um auf den Blindgeborenen zurückzukommen: Was wäre, wenn Jesus die Frage der Jünger positiv beantworten würde? Was wäre, wenn er sagte: ‚Ja, er ist blindgeboren, er wird bestraft, weil seine Eltern gesündigt haben.‘ Die Jünger könnten sagen: ‚Dann ist ja alles klar. Dann gibt es einen Schuldigen, der verantwortlich gemacht werden kann. Gott bestraft eben niemand umsonst.‘ Dann ist die Welt für sie wieder in Ordnung. Und heimlich könnten die Jünger zu sich sagen: ‚Wenn das so ist, dann müssen wir keine Angst haben, selbst mit Blindheit geschlagen zu werden. Denn Blindheit trifft die Menschen ja nur, wenn sie zuvor gesündigt haben.‘

Im Argument der Jünger steckt ein duales System: Wer wissen will, ob einer bei Gott gut oder schlecht angesehen ist, der schaut darauf, wie er im Leben zurechtkommt. Die Villa, Freunde und blühende Gesundheit noch im hohen Alter deuten Gottes Wohlgefallen und Segen an. Von Tumoren, fehlendem Bargeld für die Tasse Kaffee und Behinderungen wäre auf eine Bestrafung durch Gott zu schließen. So lange sich Gottes Gerechtigkeit auf diese Weise ausrechnen läßt, bleibt die Welt für Sünder und Glaubende in Ordnung. 

Aber wenn das die Ordnung der Welt ist, liebe Gemeinde, dann bringt sie Jesus mit seiner Antwort auf die Frage der Jünger kräftig durcheinander: „Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“ Jesu Antwort erledigt das System von Ursache und Wirkung. Wenn einer blindgeboren ist, dann ist das nicht ein Zeichen seiner eigenen Sünde oder der Sünde seiner Eltern. Und wenn ein sehr alter Mensch an COVID-19 erkrankt und künstlich beatmet werden muß, dann rächt sich Gott nicht an diesem alten Menschen, auch wenn das einige unverbesserlich ewiggestrige Theologen glauben machen wollen. Wenn ein zwölfjähriges Kind an Leukämie stirbt, wer wollte nach dieser Aussage Jesu behaupten, dabei habe ein strafender Gott sein tödliches Werk betrieben?

Jesus bringt das Gerechtigkeitssystem durcheinander, indem er es vom Kopf auf die Füße stellt. Die Jünger und alle anderen theologischen Assistenzärzte, die nach den Ursachen und Gründen von Krankheiten suchen, fragen zurück in die Vergangenheit. Was ist passiert, daß es dazu kommen konnte? Wieso wurde der Blinde blind geboren? Wieso erkrankte der Zwölfjährige an Leukämie? Wieso starb die Achtzigjährige an COVID-19? Jesus dagegen fragt nicht in die Vergangenheit hinein, sondern er bricht auf nach vorn in die Zukunft. Die Vergangenheit bleibt bei ihm links liegen: Er betreibt nicht rückwärtsgewandte Ursachenforschung, sondern vorwärtsgewandete, in die Zukunft gerichtete Therapie. An dem Blindgeborenen „sollen die Werke Gottes offenbar werden“. Jesus geht es um den Zweck der Krankheit, nicht um ihre Ursachen. Er sieht den leidenden und kranken Menschen nicht als Opfer am Ende einer langen Kette von Sünden, sondern als Anfang der Neuschöpfung, als Anfang des Heilwerdens.

Und dieses Heilen setzt Jesus sofort in die Tat um. Spuckt auf die Erde und macht daraus einen heilkräftigen Brei. Es ist einzuräumen: In der Gegenwart werden hygienischere Methoden verwendet, um Salben anzurühren. Aber mit dieser Fachfrage sollen sich Apotheker beschäftigen. Entscheidend ist Jesu Elan, seine Energie, sich mit dem Leiden des anderen nicht abzufinden. Er weigert sich, nur den kleinsten Gedanken an die Sünden der Vergangenheit zu verschwenden. Er besitzt den unbeugsamen Willen, Lebensförderndes zu bewirken, Leid zu wenden und so ein Werk Gottes zu tun. Jesus steht dafür, daß Gott das Leben der Menschen zum Heil ergänzen will. Nicht in Gottes Absicht liegt es, kranke und gebrechliche Menschen mit Tumoren, Wucherungen und Behinderungen zu quälen.

Krankheit ist keine Strafe Gottes. Die Vorstellung von einem Gott, der straft, gehört sowieso in die Mottenkiste des Christentums. Krankheit ist der Anfang des Heilwerdens. Aus diesem Satz entstanden und bestehen christliche Krankenhäuser, Altersheime, Hospize und Diakoniestationen. Gott will nicht das Leiden der Menschen, sondern ihr Heil. Richtig ist: Nicht jede Krankheit ist heilbar. Doch auch der kranke Mensch ist nicht als angeblich Unreiner, als angeblich von Gott bestrafter von seinen Verheißungen ausgeschlossen.

An dem Blindgeborenen sollen die großen Taten Gottes offenbar werden. Diese Geschichte will nicht nur unsere Sicht von Krankheiten ändern, sie will Mut machen, auch im Angesicht der Epidemie, die wir mit Masken und Abstand bekämpfen. Die Geschichte vom Blindgeborenen ist geschrieben gegen das Verzweifeln, gegen das Aufgeben und das Angsthaben. Und ich behaupte nach dieser Geschichte: Es gibt keinen Menschen auf der Erde, an dem nicht die Werke Gottes offenbar werden sollen.

Wenn ich einen Menschen daraufhin anschaue, ob er mir Schlechtes tut oder Gutes, ob er mich geärgert hat oder ob er zu mir freundlich war, dann mache ich mich selbst zum Maßstab der Einschätzung anderer. Wenn ich aber einen Menschen daraufhin anschaue, wie an ihm Gottes Werke offenbar werden, dann schaue ich ihn an unter dem Blickwinkel der großen Verheißungen Gottes, seines Segens und seiner Barmherzigkeit an. Aus diesem Blickwinkel sehe ich ihn anders als zuvor. Er macht mich frei von den blinden Flecken meiner eigenen Interessen.

Die Geschichte des Blindgeborenen erzählt von einer Heilung. Johannes, der Evangelist erzählt sie auch, weil sich an ihr das Sehen neu lernen läßt: Sie öffnet den Blick auf die Liebe Gottes zu uns Menschen. Sie setzt ein sichtbares Zeichen, in einer Zeit, da vieles von dem, was wir sehen, von den Masken gegen das COVID-Virus über die Bürgerkriege im Nahen Osten bis zum grassierenden Rassismus und Rechtsradikalismus in die Verzweiflung treibt. Die Hoffnung auf Gott hebt Verzweiflung und Fassungslosigkeit nicht auf, aber sie stellt beides in ein neues Licht, das Licht des Satzes: An ihm, an uns, an allen Menschen sollen die Werke Gottes offenbar werden.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alles, was wir uns vorstellen und sehen können, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

PD Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

 

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er bloggt über Theologie, Gemeinde und Predigt unter www.wolfgangvoegele.wordpress.com.

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