Predigt zu 1. Joh 3,1-2

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Predigt zu 1. Joh 3,1-2

Seht, welche Liebe! | Christfest 25.12.2021 | Predigt zu 1. Johannes 3,1-2 | verfasst von Thomas Muggli-Stokholm |

Seht, welche Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Kinder Gottes heissen und wir sind es. Darum erkennt die Welt uns nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat. Ihr Lieben, jetzt sind wir Kinder Gottes, und es ist noch nicht zutage getreten, was wir sein werden. Wir wissen aber, dass wir, wenn es zutage tritt, ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.

(1. Joh 3,1 und 2)

Liebe Gemeinde.

Beim ersten Lesen machte mich dieser Text ratlos. Nicht etwa, weil er schwer verständlich und sperrig wäre, im Gegenteil: Er legt uns die Botschaft von Weihnachten so wunderbar einfach ans Herz, dass es nichts mehr zu auszulegen und damit auch nichts mehr zu predigen gibt. Der Text nimmt das auf, was Jesus im Johannesevangelium sagt: Gott liebt diese Welt so sehr, dass er seinen einzigen Sohn hingibt, damit jeder der glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben findet. Gott adelt uns in seiner unendlichen Liebe zu seinen Kindern. Darum ist es nichts als logisch, wenn wir unser Leben heiligen: Wir begegnen einander und allen Menschen dieser Erde wie Geschwister. Wir jagen dem Frieden nach, trachten nach der Gerechtigkeit, tragen dem göttlichem Geschenk des Lebens Sorge – und alles wird gut.

Amen – so sei es und so bleibe es. Mehr gibt es nicht zu sagen. Nur: In der Praxis wird es schwierig. Zwar bekennt sich ein Drittel der Menschheit zum christlichen Glauben. Knapp 2,3 Milliarden Menschen verstehen sich als Kinder Gottes. Dennoch sind Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung – angesichts der Weltlage nur mehr leere Schlagworte. Ich muss die gewaltigen Probleme, Krieg, Gewalt, physische und seelische Not nicht darlegen. Wir sehen, hören und lesen täglich davon.

Die frohe Botschaft hat ihren Glanz ohnehin verloren. Das Wunder der Heiligen Nacht, der grossartige Erweis der Liebe Gottes, wird hemmungslos kommerzialisiert. Das Kind in der Krippe beschert den Geschäften Rekordumsätze. Der gesellschaftliche Druck, die Liebsten mit Waren zu überhäufen, treibt die weniger Bemittelten an den Rand des Ruins. Nicht nur deswegen verkommt Weihnachten als Fest der Liebe zum Hohn. Nie sind Spannungen und Konflikte am Arbeitsort und in den Familien schmerzhafter als in dieser Zeit. Vom Frieden auf Erden, den die Engel besingen, ist nichts zu spüren. Wie nahe liegt da für mich die Versuchung, ins Moralisieren zu verfallen. Denn damit lässt sich noch die fadeste Weihnachtspredigt würzen. Ich verurteile den Kommerz und die Verlogenheit von Weihnachten scharf und appelliere an Sie, liebe Gemeinde, und an die Gesellschaft im Allgemeinen, auf Konsum und Äusserlichkeit zu verzichten. Allein damit können wir uns neu auf das wahre Wunder der Heiligen Nacht besinnen!

Nur: So schnell derartige Appelle formuliert sind. Und so gut ich mich fühle, wenn ich sie den Leuten um die Ohren schlage: Bin ich ehrlich mit mir selbst, muss ich zugeben, dass ich wie die allermeisten ein Kind der Zeit und ein Teil der Gesellschaft bin und bleibe. Ja, wer von uns zeigt sich kompromisslos als Kind Gottes, das sich von Herzen freut über den Säugling in der Krippe und nichts weiter begehrt, als dieses zarte Wunder zu geniessen?

Wir sind uns ja nicht einmal einig, was in der Heiligen Nacht wirklich geschah. Die wissenschaftliche Theologie weist stichhaltig nach, dass Matthäus und Lukas mehr Legenden als Tatsachen überliefern. Und über die Frage, wie das Heilige Kind in den Bauch Marias fand, ist man sich in der Christenheit dermassen uneinig, dass man sich deswegen gegenseitig entweder den Glauben oder den gesunden Menschenverstand abspricht.

Seht, welche Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Kinder Gottes heissen, und wir sind es.

Unser Text unterbricht mein Lamento über den trostlosen Zustand der Welt und der Christenheit heilsam – Gott sei Dank! Hören wir genau hin, führt er uns weg von uns selbst, unseren Wahrnehmungen und Urteilen, hin zu Gott allein: Wir sollen sehen – hinschauen, Acht geben auf die Liebe, die Gott, der Vater uns gegeben hat. Wir heissen seine Kinder. Und wir sind es auch,

nicht weil wir besonders klug, nett und edel sind oder uns wenigstens darum bemühen, sondern darum, weil Gottes Liebe all unserem Denken, Fühlen und Handeln zuvorkommt. Und wir bleiben Kinder Gottes, auch wenn alles in der Welt dagegenspricht, eben weil Gott uns zu seinen Kindern erklärt – und nicht wir selbst.

Das macht klar: Weihnachten begreifen wir nicht, wenn wir uns das Geschehen in der Heiligen Nacht aneignen, es erörtern, analysieren und theologisch deuten. Die Heilige Nacht ist in menschlicher Perspektive zuerst einmal ein Moment völliger Finsternis und Leere, eine Zeit, wo wir selbst absolut nichts erwarten sollen, können und dürfen. Gottes Liebe bricht ein in diese Leere.

Und sie bleibt nur Liebe, wenn wir sie uns schenken lassen.

So altvertraut uns die Weihnachtsgeschichte ist. Ihre Botschaft bleibt skandalös: Das in Windeln gewickelte, uneheliche Kind in der Krippe, armselig und wehrlos, soll der Sohn Gottes sein? Das ist für unseren gesunden Menschenverstand so absurd, dass wir es entweder als völligen Blödsinn abtun.

Oder wir vergessen alles, was in dieser Welt Rang und Namen hat, was klug und weise daherkommt, was bestaunt und bewundert wird, um uns einzig allein auf dieses Kind einzulassen.

So, wie der Sohn Gottes in eine leere Krippe gelegt wird und später mit dem leeren Grab die neue Schöpfung begründet. So werden wir Kinder Gottes, wenn wir leer werden von allen Gedanken, Vorurteilen, Leistungsausweisen und Sündenregistern. Wenn wir offen werden und die frohe Botschaft vernehmen:

Seht, welche Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Kinder Gottes heissen und wir sind es.

Die Hirten geben uns ein Beispiel. Sie führen ein mühseliges Leben mit unmöglichen Arbeitszeiten, einem schlecht bezahlten Job ohne Karrierechancen. Genau sie, die nichts vorzuweisen haben, sehen den Engel und hören seine Botschaft. Sie springen auf aus ihrem trostlosen Dasein, laufen zur Krippe und werden zu den ersten Evangelisten, indem sie verkünden, was es mit diesem Kind auf sich hat. Schön – und doch bleibt hier ein „Aber“, ein „Aber“, dem unser Text Rechnung trägt:

Darum erkennt die Welt uns nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat.

Tatsächlich geht das Wunder der Heiligen Nacht vor 2‘000 Jahren spurlos an der Welt vorbei. In den vollen Herbergen Bethlehems feiert man kräftig, ohne irgendeinen Gedanken an das Kind in der Krippe. Politik und Wirtschaft wollen schon gar nichts wissen von dieser Geburt.

Nun könnte ich erneut ins Lamentieren und Moralisieren geraten. Dabei ist das „Aber“ unseres Textes überaus heilsam. Nochmals gilt es zu betonen, dass Weihnachten allein die Sache Gottes ist. Dieses Wunder lässt sich darum nicht dingfest machen. Es geht nicht nur verloren, wenn wir es mit Fress- und Geschenkorgien kommerzialisieren. Wir zerstören es auch, wenn wir es als Anlass zu ethischen Appellen und Versuchen, die Welt zu verbessern, missbrauchen. Die Welt erkennt nicht, was in der Heiligen Nacht geschieht. Wir Christinnen und Christen sind Teil dieser Welt. Umnachtet, verblendet erkennen wir von uns aus nicht, was uns zu Teil wird, wenn wir es uns nicht von Gott allein schenken lassen.

Ihr Lieben, jetzt sind wir Kinder Gottes, und es ist noch nicht zutage getreten, was wir sein werden.

Die Hirten treten an die Krippe, lassen sich vom Kind verzaubern und bringen das, was sie wahrnehmen, in Beziehung zur Botschaft des Engels. Sie haben keine Beweise für diese Erkenntnis. Selbst wenn es damals schon Handys gegeben hätte, hätte ihnen dies nichts gebracht. Die Selfies mit dem Engel wären misslungen, weil sich die himmlischen Boten nicht mit Sensoren einfangen und auf Speichermedien bannen lassen. Die Hirten sehen das Kind, und sie wissen nicht, was aus diesem Kind wird. Sie sehen nur, welche Liebe hier zutage tritt, so unbegreiflich und geheimnisvoll, dass es Gottes Liebe sein muss. Sie werden von der Hoffnung erfüllt, die all ihre vor Augen liegende Hoffnungslosigkeit übersteigt. Diese Hoffnung beflügelt sie und öffnet ihnen den Mund, dass sie die frohe Botschaft verkündigen.

Darin liegt die Sprengkraft unseres Textes: Wenn wir die Liebe Gottes wirklich wahrnehmen, bereit, uns von ihr in Kinder Gottes verwandeln zu lassen. Dann werden wir offen für alles, was uns von Gott zukommt. Und wie der Weg Jesu deutlich macht, wird es immer anders und weit mehr sein, als wir uns vorstellen und ausmalen können.

Die Versuchung wäre jetzt gross, dafür Beispiele anzuführen. Und es gäbe etliche, vom Paulus, der zum Saulus wird, bis zu Bonhoeffer, der den Widerstand gegen die Nazis wagt, obwohl ihn seine Freunde dazu drängen, in den USA ins sichere Exil zu gehen.

So schön diese Beispiele sind, sie tragen die Gefahr in sich, dass sie uns ablenken vom Eigentlichen: Weihnachten geht uns ganz persönlich an. Ich selbst bin herausgefordert zu sehen, welche Liebe mir Gott in der Heiligen Nacht schenkt. Mir persönlich mutet das Kind in der Krippe zu, dass ich alles ablege, womit ich mich absichere und schütze, damit ich selbst zum Kind werde, das völlig abhängig wird vom Vater und alles von ihm erwartet.

Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie oft diese Erwartung enttäuscht werden kann. Wage ich den Glauben, erfahre ich Zeiten der Dürre, dunkle Nächte ohne Heiligkeit, wo ich nichts von Gott spüre und dafür umso mehr von meinen Grenzen, Schwächen und Zweifeln. Der Weg des Vertrauens kann steinig und mühsam sein. Anfechtungen werden so mächtig, dass das Herz verzagt und man am liebsten aufgäbe.

Doch es gibt auch die kostbaren Momente, wo die Liebe Gottes sich zeigt und die eigene Leere erfüllt; Augenblicke, wo ich sehe und gewiss werde, dass ich Kind Gottes bin und bleibe, was auch immer geschehen mag. Es sind geschenkte Momente, unerwartet und unverdient. Sie sind ein unverhoffter Ausblick auf die Fülle, welche am Ende unseres Textes aufscheint:

Wir wissen aber, dass wir, wenn es zutage tritt, ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.

Als Kinder Gottes dürfen wir in einem guten Sinn unverschämt sein, so, wie es  Kinder von Hause aus sind.  Gott schenkt uns in der Heiligen Nacht nicht bloss ein wenig Liebe, Freude und Hoffnung. Er schenkt uns sein ein und alles.

Das eröffnet eine grossartige Perspektive: Das Licht, welches in der Heiligen Nacht aufstrahlt. Das Licht, welches sich schon jetzt da und dort zeigt, uns Wärme, Orientierung und Hoffnung schenkt. Dieses Licht wird einmal die ganze Welt erfüllen. Und wir, die jetzt noch unmündige Kinder sind, die immer wieder stolpern und straucheln. Wir werden einmal sein wie Gott. Schon Adam und Eva waren erfüllt von dieser Ursehnsucht nach Vollendung und Harmonie.

Sie versuchten, sie aus eigener Kraft zu stillen, mit all ihren tragischen Folgen. Weihnachten verheisst uns, dass diese Sehnsucht endgültig gestillt wird, wenn jener, der jetzt noch als Kind in der Krippe liegt, seine Sendung in dieser Welt erfüllt hat, so wie es im Philipperbrief heisst:

Jesus erniedrigte sich und wurde gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Deshalb hat Gott ihn auch über alles erhöht und ihm den Namen verliehen, der über allen Namen ist, damit im Namen Jesu sich beuge jedes Knie, all derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Amen.

Pfarrer Thomas Muggli-Stokholm

Wolfhausen

E-Mail: thomas.muggli@zhref.ch

Thomas Muggli-Stokholm, geb. 1962, Pfarrer der Reformierten Kirche des Kantons Zürich, seit 1997 Pfarrer in Bubikon (70%), seit 2020 Koordinator der Liturgie- und Gesangbuchkonferenz der Deutschschweiz (LGBK).

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