1. Korinther 13

1. Korinther 13

Grundgesetz | Estomihi | 19.02.2023 | 1.Kor 13 | Wolfgang Vögele|

Segensgruß

Der Predigttext für den Sonntag Estomihi, das so genannte Hohelied der Liebe steht 1Kor 13:

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe höret nimmer auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

Liebe Schwestern und Brüder,

wir alle sind gefesselt, verdrahtet, angekettet an die digitale Welt. Wir hängen am Tropf sozialer und kommunikativer Medien. Wer nicht vernetzt ist, existiert nicht. Die meisten Menschen besitzen ein Handy, einen Fernseher, einen Laptop, ein Radio. Über WLAN und Funknetze strömen Schlagzeilen und grelle, schockierende Fotos in das Bewußtsein von Menschen ein. Und diese lassen sich nur allzu gerne zerstreuen oder ablenken. Im Strom der Videoclips läßt sich das Wichtige nicht mehr vom Unwichtigen unterscheiden. Wörter und Bilder zerstören durch ihre schiere Masse Aufmerksamkeit und Konzentration, Nachdenken und Selbständigkeit der Konsumenten. Es macht keinen Sinn, gegen den Wasserfall der Wörter zu kämpfen. Aber dafür zahlen die Nutzer, die nach den sozialen Medien süchtig geworden sind, einen hohen Preis. Sie vergessen das, was grundlegend wichtig ist.

Sie ahnen nun schon, was ich sagen will. Was grundlegend wichtig ist für Christenmenschen, die glauben wollen, hat Paulus hier ein für allemal aufgeschrieben: ein Kapitel Schwarzbrot des Christentums. Verfassungspatrioten reden von der Menschenwürde, aufgeklärte Philosophen von den Menschenrechten, die amerikanische Demokratie betont in ihrer Unabhängigkeitserklärung von 1776 das Recht jedes einzelnen auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück. Alles wichtig, alles richtig, alles grundlegend. Aber, so Paulus, noch wichtiger ist die Liebe. Liebe ist dabei kein abstraktes Rechteck der Richtigkeiten, sondern Tätigkeit, Tuwort, Aktion. Liebe umarmt, Liebe küßt, Liebe sieht das Gute im Menschen. In der Liebe kommen sich Menschen so nah wie nie sonst, Haut an Haut, Zärtlichkeit für Zärtlichkeit. Liebe nimmt Rücksicht, Liebe tröstet und baut auf. Sie schweigt mit den Traurigen und jubelt mit den Fröhlichen. Liebe faltet sich auf in ein ganzes Ensemble von Tätigkeiten, die allesamt nur eines zum Zweck haben: den liebevollen, fürsorgenden Blick auf den anderen oder die andere. Liebe blickt auf den Anderen und denkt von ihm her. Liebe ist das Gegenteil von Egoismus und Selbstsucht. Liebe beschränkt sich nicht auf den gewählten Partner. Liebe nimmt ganz unterschiedliche soziale Gestalten an, die in vielen Nuancen weit über Erotisches und Sexuelles hinausreichen. Liebe kann so vieles sein: erstens Küssen, zweitens Umarmen, drittens Füreinanderdasein und Vertrauen, viertens Trösten und Telefonieren – und das in jeder beliebigen Reihenfolge, in jeder beliebigen Intensität. Liebe ist keineswegs nur für Ehe, Partnerschaft und Beziehung reserviert. Christen – so Paulus – sind aufgerufen, andere Menschen unbedingt zu lieben.

Zwei Warnungen seien ausgesprochen: Im Sprühwasser der vielen Wörter und Bilder, die auf den Menschen einprasseln, ist darauf zu achten, nicht zu häufig von der Liebe zu reden. Wie alle anderen Worte nutzt sich die Rede von der Liebe ab. Sie verkommt leicht zu Kitsch, Hülse und Klischee. Zweitens: Jeder von Ihnen hat wohl schon einmal an einer Trauung teilgenommen, bei der der Pfarrer mit Hilfe dieser Passage des Paulus seinen Segen zugesprochen hat. Aber auch die fromme Rede von der Liebe kann zu Kitsch verkommen. Und Liebe ist keineswegs für die Ehe reserviert. Liebe ist inklusiv. Liebe zum Ehepartner schließt Liebe zu anderen Menschen ein – mit wechselnder Intensität.

Handeln, Fühlen und Denken der Liebe verbinden sich mit vier Grunderkenntnissen, die aufeinander aufbauen.

Erstens: Wer in der Wort- und Bilderflut mitschwimmt, muß den Kopf über Wasser halten, um nicht zu ertrinken. Glaubende Menschen tun das, indem sie sich auf das Wesentliche, die Grundlagen besinnen. Die Bilderflut der Moderne läßt sich nicht abschalten. Aber es lohnt sich, zum Beispiel einen Gottesdienst lang aus dem Wasser zu klettern und über das nachzudenken, was eigentlich wichtig ist. Die Besinnung auf Grundlagen eigenen Menschseins kann bei aller Zerstreuung und Unübersichtlichkeit zu ganz anderen Ergebnissen führen als zu denen, die Paulus in seinem Brief aufgeschrieben hat: Menschenrechte, Diversität, Pluralismus. Paulus fügt dem die Stimme des Christentums hinzu: Eckpfeiler ist das Lieben. Liebe ist so etwas wie die Magna Charta, das christliche Manifest, die Menschenrechtserklärung des Glaubens.

Zweitens: Paulus‘ Rede über die Liebe vermittelt Grundlegendes über die Tiefenstruktur des christlichen Glaubens. Es lohnt sich sehr, darauf zu achten, worüber Paulus nicht redet. Er redet nicht über Frömmigkeit, nicht über Klerikalismus und die Mitgliedschaft in einer Kirche, er redet auch nicht darüber, woran man Christenmenschen in dieser unübersichtlichen Welt mit ihren vielen Religionen, Weltanschauungen und Ideologien erkennen kann.  Und Paulus beschäftigt sich nicht mit Einstellungen, Haltungen und Tugenden, obwohl Theologen des Mittelalters angefangen haben, Glaube, Hoffnung und Liebe als Kardinaltugenden des Christentums zu bezeichnen. Der Unterschied wird im folgenden Punkt deutlich.

Drittens: Paulus redet von der Liebe als einer Tätigkeit. Sie ist Handlung und Aktivität, nicht Einstellung. In der Liebe denken und handeln Menschen, Glaubende wie Nichtglaubende, von einer anderen Person (oder Personen) her. In der Liebe denken und handeln Menschen nicht an sich selbst.  Die Liebe bläht sich nicht auf. Sie dient nicht zum Bau frommer menschlicher Kulissen. Sie läßt sich auch nicht in ein Gerüst frommer Einstellungen pressen. In der Liebe wechseln Glaubende die Perspektive. Egoistische Liebe denkt an sich selbst. Die wahre Liebe, von der Paulus redet, denkt zuerst an den anderen. Und sie handelt dann auch danach. Liebe ist darum nicht das Kennzeichen einer institutionalisierten Religion, auch nicht des Christentums, sondern Liebe ist im gelungenen Fall ein Kennzeichen des Menschseins. Erst die Liebe, das Denken und Handeln vom anderen her, macht einen Menschen zum Menschen.

Wer über den anderen nachdenkt und danach handelt, wird versuchen, diesen anderen Menschen zu verstehen. Oft wird sich zeigen, daß dieser Versuch zu verstehen, an seine Grenzen gerät, weil der Andere Widersprüche offenbart oder etwas verborgen hat. Wer liebt, wird versuchen, den anderen zu verstehen. Und er wird die Grenze respektieren, die der verständnisvollen Liebe gesetzt sind. Der Andere bleibt ein Geheimnis. Wer liebt, der respektiert dieses Geheimnis: das Geheimnis seiner Würde und seiner Gottebenbildlichkeit. Die hier gemeint Liebe als Handlung beschränkt sich nicht auf das Intellektuelle. Die Nächsten sollen nicht berechnet, durchschaut oder ausgeleuchtet werden. Sie werden einfach akzeptiert, in ihren Widersprüchen, Fehlern und Stärken. Liebe heißt: Fürsorgliches Handeln fängt an, lange bevor das Nachdenken darüber an sein Ende gekommen ist.

Viertens: Ich habe gesagt, daß das Handeln der Liebe das Geheimnis der anderen, geliebten Menschen respektiert. In seinem Hohelied verstärkt Paulus diesen Gedanken noch. Er spricht von der Wirklichkeit als Spiegel. Wenn diese Welt in der Wirklichkeit, die wir erleben, aufgeht, so ist darin für das Wirken Gottes kein Platz. Das läuft nach dem Prinzip: Was man nicht sieht, das kann es auch nicht geben. Naturalismus und Wissenschaften haben plausible Erklärungen für das gefunden, was früher Gott zugeschrieben wurde. Dem entspricht eine Lebenshaltung, die wir schon lange als pragmatisch bezeichnen: Die Wirklichkeit ist, wie sie ist; jeder von uns steht vor der Aufgabe, sie anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Dieser Pragmatismus kommt vielen Menschen vernünftig, aber auch ein wenig langweilig vor. Er ist so spröde, weil sich aus dieser Einstellung keine Ideen für den Sinn des Lebens ergeben.

Paulus kannte die Diskussionen darüber noch nicht. Aber er hat mit seinem Hohelied der Liebe schon eine zweiteilige Antwort darauf gefunden.  Der erste Teil seiner Antwort lautet: Es geht beim Christentum nicht um das Fürwahrhalten bestimmter inhaltlicher Glaubenssätze. Niemand, der glaubt, muß deswegen wissenschaftliche Überzeugungen, etwa über die Entstehung der Welt, preisgeben. Aber Paulus sagt noch etwas zweites: Die Wirklichkeit, in der wir leben, genügt nicht sich selbst. Sie verweist über sich selbst hinaus. In dieser Wirklichkeit leben wir, aber sie läßt sich auch betrachten wie ein Spiegel. Wer das verstanden hat, der ahnt etwas vom Geheimnis dieser Welt. In der Wirklichkeit spiegelt sich etwas von dem, den Paulus und Jesus und alle, die ihnen nachgefolgt sind, Gott nennen. Diese Wirklichkeit enthält ein Geheimnis, das nur aus ihr selbst, nicht vollständig entschlüsselt werden kann.

Weil das so ist, so Paulus, ‚glauben‘ wir in dieser Wirklichkeit nur, aber wir ‚sehen‘ nicht. Und dieser kleine Unterschied verhindert wirkungsvoll die Selbstvergiftung des Christentums in fundamentalistische ‚Wahrheiten‘, die jedem, der nicht glaubt, mit großem Getöse auf den Kopf gehauen werden. Liebe wird zur zentralen Arznei gegen einen penetranten und aufgeblähten Glauben. Einfacher gesagt: Wer lieben will, muß nicht immer rechthaben. Er kann sich zurückziehen aus dem erbitterten Kampf um vorgeblich ewige Wahrheiten. Erkenntnisse blähen auf. Liebende konzentrieren sich darauf, den Menschen und der Welt um sie herum etwas Gutes zu tun.

Die Welt, welche die Menschen wie durch einen Spiegel anschauen, lebt von dem einen unerklärbaren Geheimnis, das Paulus Gott nennt. Dieses Geheimnis steckt in jedem Menschen. Rechtsphilosophen späterer Jahrhunderte haben es die Würde des Menschen genannt. Sie gründet darin, daß der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen ist. Zwischen dem Geheimnis Gottes und dem Geheimnis der Menschen bestehen Parallelen, die Paulus genau kennt, aber nicht anspricht. Durch Rechnen und Programmieren kann diesem Geheimnis niemand beikommen.

Trotzdem ist es möglich, dem genannten Geheimnis gerecht zu werden. Paulus sagt: Das geschieht nur durch die Liebe, durch Tätigkeit, durch Fürsorge, durch Trösten und Beistehen. Paulus spricht von einer Konzentration auf die Liebe, gegen alle Zerstreuungen und Ablenkungen. Manchmal ist es gut, sich an die Grundlagen zu erinnern. Wer stets von hierhin nach dorthin läuft, um der nächsten Sensation nachzugaffen, der bleibt ein Kind, das in dieser Wirklichkeit dauernd herumgewirbelt wird. Wer den Zusammenhang von Glaube, Geheimnis und Liebe verstanden hat, der gewinnt Reife, Souveränität und Widerstandskraft gegen alle Zerstreuungen. Glaubende gewinnen den aufrechten Gang. Sie geben Gottes unendliche Liebe, sein großes Geheimnis an andere Menschen weiter. Das bleibt – Paulus gibt es offen zu – Stückwerk.

Aber ein paar Stückchen Liebe reichen für ein ganzes Leben aus. Amen.

Prof. Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Apl. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com).

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