1. Korinther 13, 9-12

1. Korinther 13, 9-12

Paulus schreibt in seinen Briefen an die Korinther:
Unser Wissen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene,
so wird das Stückwerk aufhören. Wir sehen jetzt durch einen
Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt
erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt
bin. (1. Korinther 13, 9-12)

1. ‚Was wir wissen, ist nur Stückwerk‘ – das hört
sich wie der Stoßseufzer eines Ermittlungbeamten in einem ‚Tatort‘-Krimi
an.
Die Kommissare sitzen mit ihren Pappbechern um den Tisch und
legen alles zusammen, was sie in mühevoller Kleinarbeit gesammelt
haben: ein paar verwischte Fußspuren, undeutliche Fingerabdrücke,
vage Zeugenaussagen, ein widersprüchliches Protokoll. Alles ‚dunkle
Bilder‘, die entschlüsselt werden wollen. Und alles nur Bruchstücke,
aus denen am Ende ein fertiges Puzzle entstehen soll. Aber wie sie es
auch drehen und wenden, die Teile passen nicht zusammen. Und so bleibt
die Geschichte, die sich in Bremen abgespielt hat, lange im Dunkeln:
Was geschah wirklich am Tatort; was geschah in den Tagen davor? Wer
war das Opfer, wer der Täter? Was war sein Motiv?

Heute abend um viertel vor zehn werden wir es wissen. Da werden die
Masken fallen. Der Täter wird der Hauptkommissarin Inga Lürsen
gegenüberstehen, von Angesicht zu Angesicht, und als der erkannt,
der er wirklich ist.

Aber wenn es ein Krimi von der neuen Sorte ist, dann bleiben auch am
Ende Fragen offen. Früher, als die Farbfilme noch nach dem Schwarz-Weiß-Schema
aufgebaut waren, da schien die Welt noch in Ordnung. Es gab Gute und
Böse, Lichtgestalten, die es zu etwas gebracht haben und mit Recht
stolz auf sich sein können, und Dunkelmänner, die anderen
das Leben nehmen und damit auch ihr eigenes Leben zerstören. Und
dazwischen die Kommissare, die gelernt haben, die Indizien zu deuten,
in den Gesichtern der Menschen wie in Spiegeln zu lesen, die Fäden
einer verschlungenen Geschichte zu entwirren und Klarheit ins Dunkel
zu bringen. Sie trennten die Böcke von den Schafen, brachten den
Schuldigen hinter Gitter und legten den Fall zu den Akten.

Heute geht die Ermittlungsarbeit den Tatortkommissaren nicht mehr so
leicht von der Hand. Moderne, psychologisch geschulte Detektive geben
sich nicht mit der kriminaltechnischen Feldarbeit zufrieden. Sie verfolgen
den Täter an ihren Computern bis tief in seine Vergangenheit. Und
wenn es dabei spät wird, dann kommen die Lebensforscher ins Grübeln.
Je mehr sie sich in das Schicksal des Mörders vertiefen, desto
undeutlicher werden die Rollen. Irgendwie läßt sich zwischen
Tätern und Opfern nicht so recht unterscheiden. Das Leben macht
sein eigenes Spiel; und manchem Täter hat es genauso übel
mitgespielt wie seinem Opfer.

Es gibt nicht nur die eine Lesart der Geschichte, die glatte, in der
sich alles nahtlos ineinanderfügt und die Rechnung ohne Rest aufgeht.
Will man eine Lebensgeschichte nicht nur oberflächlich protokollieren,
sondern in ihrer Tiefenschärfe verstehen, dann muß man sie
gegen den Strich bürsten. Man muß die Brüche in der
Lebenslinie entdecken, wo etwas unwiderruflich zu Ende ist; und keiner
weiß, wie es weitergehen soll. Und man muß die Wendepunkte
markieren, wo sich das Leben vom Kopf auf die Füße stellt
und noch einmal von vorne beginnt, bis es wieder in einer Sackgasse
endet.

Keiner hat nur eine Geschichte. Jede hat mehrere Leben: vergangene
Glückszeiten, denen sie nachtrauert: ‚Warum kann ich nicht
mehr so sein wie damals, so heiter und beschwingt?‘ und künftige
Leben, von denen sie träumt; aber das Leben geht so schnell vorüber.
Noch bevor wir richtig damit angefangen haben, neigt es sich schon seinem
Ende zu. Und dazwischen die Gegenwart, das unentwirrbare Ineinander
von Tatkraft und Lähmung, himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt.
Das Leben hat viele Gesichter. Man muß sie wie in einer Galerie
nebeneinander stellen. Sonst wird man das eine dunkle Bild für
die ganze Wahrheit halten und am Ende so wenig wissen wie am Anfang.

2. Im wirklichen Leben geht es so zu wie in einem waschechten Krimi.
Jeder spielt eine Doppelrolle, den Täter und das Opfer. Als Kind
gerät man leicht in die Rolle des Opfers. Da wird einem kräftig
in das eigene Leben hineingeredet. Die Erwachsenen führen Regie
im Lebensspiel. Die Kinder sind die Komparsen. Sie haben zu folgen.
Und wenn sie es nicht tun und dabei ertappt werden, dann spielen sich
Szenen ab, wie wir sie aus dem Fernsehen kennen: Verhöre, Spurensicherungen,
Zeugenaussagen und Indizienbeweise. Am Ende droht Hausarrest oder –
noch schlimmer – das vernichtende Urteil des Familienrats: ‚so
kann es mit dir nicht weitergehen!‘

Aber es ging genauso weiter. Als wir ein paar Jahre älter wurden,
bekamen wir die Ohnmacht des Jugendschicksals zu spüren, die Ohren
voller gut gemeinter Lebensweisheiten; auf SMS-Format gestutzte Moralpredigten,
die einem den Spaß am Leben verderben können. Manchmal warnten
einen die Eltern regelrecht vor dem Leben, so als stünde man mit
seiner Abenteuerlust ständig mit einem Bein im Gefängnis.
Aber das legte sich mit den Jahren. Wir drehten den Spieß um und
wechselten auf die andere Seite der Bühne. Die Spielräume
wurden erweitert, notfalls mit den Ellenbogen. Manches ging dabei in
die Brüche. Aber wer weiterkommen will, der muß auch Verluste
in seine Lebensrechnung einkalkulieren.

Und wenn einer dann mit 40 immer noch nicht weiß, was er aus
seinem Leben machen soll, und sich ständig in den Schatten der
anderen stellt, dann sollte er einmal Bilanz ziehen, einen Strich unter
sein bisheriges Leben machen und seiner Lebenslinie eine andere Richtung
geben, vom Opfer zum Täter. Wir kennen solche Ratschläge.
Wenn sich eine in ihrer Ratlosigkeit einer guten Freundin anvertraut,
dann bekommt sie den Ruf zur Umkehr zu hören: ‚Jetzt lamentier
nicht ständig über das, was andere mit dir machen, tu selbst
was für dich! Tritt auf die Bühne deines Lebens und mach dein
Spiel!‘

Aber das ist leichter gesagt als getan. Nicht weil die aktiven Rollen
längst vergeben sind. Das Lebensspiel hält für jeden
Akteur und für jede Lebensepoche das passende Skript bereit. Und
mit den Jahren haben ja auch die meisten gelernt, ihr Leben tatkräftig
in die Hand zu nehmen, ihr privates Glück nach ihren Wünschen
zu gestalten und ihre berufliche Karriere auf Erfolg zu trimmen. Aber
wer mit der Rolle des Täters einige Erfahrung gesammelt hat, der
weiß, daß einem auf der Tour d´vie vieles in die Quere
kommt. Und es sind nicht nur die anderen, mit denen sich unsere Wege
kreuzen und die uns dabei aus der Bahn werfen können. Wir kommen
mit uns selbst nicht zurecht.

Einmal merken wir, wie uns etwas in uns treibt und treibt: ‚Auf
zu neuen Ufern!‘ Wir folgen der inneren Stimme. Aber wir können
das Tempo nicht halten. Wir fallen hinter uns selbst zurück und
müssen zusehen, wie unsere andere Hälfte am Horizont verschwindet,
in ein Land, das uns verschlossen bleibt, vielleicht für immer.
Wir haben es einfach nicht geschafft.

Das andere Mal geht es uns genau umgekehrt. Wenn wir wieder einmal
weit ausholen und zum Sprung nach vorne ansetzen, dann spüren wir
plötzlich, daß es nicht weiter geht, als hätte mir einer
Fußangeln angelegt. Wie gelähmt bleiben wir stehen. Und dann
merken wir, warum der Lebenslauf ins Stocken gerät. Als spielte
ich eine Doppelrolle, so stehe ich mir selbst im Weg. Und wenn ich aus
meinem eigenen Schatten heraustreten will, dann zieht der dunkle Doppelgänger
mit. Wenn ich ihm eine lange Nase mache, dann macht er es auch. Ich
bin ich selbst; und ich bin der andere, der Fremde. Er sieht genauso
aus wie ich, dieselbe Gestik, dieselbe Mimik. Und doch ist er mir unheimlich.
Ich kann ihm nicht über den Weg trauen, und ich komme ihm auch
niemals auf die Schliche. Es ist der andere in mir, der mir die Prügel
zwischen die Beine wirft, in einem Stück, das ich mit mir selbst
spiele.

3. Aber das ist noch nicht alles. Bevor wir uns versehen, stehen
wir in einer dritten Rolle auf der Bühne unseres Lebens. Erst spielt
einer den Täter, dann sein eigenes Opfer; und als hätte er
mit der Doppelrolle nicht schon genug zu tun, nun setzt er sich auch
noch als Privatdetektiv auf sich selbst an und spielt den Ermittler
in eigener Sache.

Wenn uns die Regie über unser Leben entgleitet und das Leben aus
dem Ruder läuft, dann fangen wir zu recherchieren an. Wie die Spurensicherung,
so fahnden wir nach dem geheimen Fremden in uns, nach dem Drahtzieher,
der hinter den Kulissen die Fäden in der Hand hält und einen
wie eine Marionette zappeln läßt. Ich weiß, daß
ich den Unruhestifter im eigenen Haus zu suchen habe, in mir selbst.
Aber er hält sich gut versteckt, irgendwo im tiefsten Dunkel. Man
hat alle Hände voll zu tun, um ihm auf die Spur zu kommen, seine
Taktik herauszufinden und ihn dingfest zu machen.

Da werden Schubladen mit alten Erinnerungsstücken aufgezogen;
vielleicht findet sich hier ein Hinweis auf den anderen in mir. Da wird
der Unrat aus Jahrzehnten ausgegraben; vielleicht läßt sich
das Durcheinander doch noch auf die Reihe bringen. Da werden die Einbrüche
in den Seelenhaushalt früher Jahre wieder aufgerollt; vielleicht
ging damals etwas verloren, was mir mehr bedeutet, als ich mir eingestehe.
Und je länger wir nach dem geheimnisvollen Fremden in uns fahnden,
desto mehr zweifeln wir daran, daß wir es sind, nach dem wir suchen.
Es muß ein anderer gewesen sein, einer, der ich einmal war, aber
längst nicht mehr bin. Und doch: es gibt ihn noch, den Doppelgänger
aus vergangenen Zeiten. Wir wollen ihn abschütteln, hinter die
Kulissen schieben, wegschließen. Aber es nützt nichts. Das
alter ego ist allgegenwärtig, am Tag als ungebetener Gast und in
der Nacht als bedrohlicher Feind.

Manche warten nicht, bis es soweit kommt. Sie schätzen präventive
Maßnahmen und setzen auf permanente Selbstkontrolle. Sie führen
laufend Protokoll über ihr Leben, zeichnen wichtige Daten auf,
schreiben Geschichten in Tagebücher und füllen Skizzenblöcke
mit kritischen Anmerkungen und guten Vorsätzen. Andere, die Kopfrechner,
verwalten ihr Leben in Gedankenspielen. Wieder andere kramen gerne in
vergilbten Erinnerungen, betrachten Fotoalben aus vergangenen Welten
und suchen damit ihre Spuren zu sichern. Etwas typisch Protestantisches
soll das sein, der biographische Aufklärungsdrang, das Eintauchen
in die eigene Geschichte.

Aber das geschriebene Leben ist nicht anders als das gelebte. Man kann
sein Leben so oder auch anders gestalten; es wird nie der große
Wurf, das Leben aus einem Guß. Das Leben spielt sich auf einer
kleinen Bühne ab. Da läßt sich nicht alles realisieren,
was einem so vorschwebt. Und man kann die Geschichte seines Lebens auf
vielerlei Weise schreiben, aus ganz verschiedenen Blickwinkeln: als
Erfolgsgeschichte oder als Krisenbilanz, als die Erfüllung eines
großen Kindheitstraums oder als eine Liste vieler offen gebliebener
Wünsche, als ergreifenden Liebesroman oder als erschütternde
Tragödie. Aber man sieht nie alles auf einen Blick. Immer wird
vieles, das meiste, ausgeblendet. Wie immer wir unser Leben in Szene
setzen, es bleibt ein Fragment, nichts Ganzes und nichts Halbes.

4. Gibt es also das eine, das in sich runde Leben gar nicht?
Nicht im Rückblick, wenn wir die Rätsel der Vergangenheit
lösen wollen; aber die Schlösser lassen sich nicht knacken?
Nicht im gegenwärtigen Augenblick, wo sich das Leben so schillernd
ausnimmt, so zwiespältig, so irritierend und diffus? Nicht in der
Zukunft, in der alles besser werden soll; aber dann gehen unsere Träume
in die Brüche? Und auch nicht, wenn wir versuchen, die verschiedenen
Leben miteinander zu verknüpfen, das vergangene, das gegenwärtige
und das zukünftige? Daß sich einer mit den Jahren verändert,
das bringt der Lauf der Dinge so mit sich. Aber daß er heute gar
nicht mehr der ist, der er früher einmal war, daß es keinen
roten Faden gibt, der sich durch die Wechselfälle des Lebens hindurchzieht,
kann das wirklich so sein?

Man sagt immer: Erst vom Ende her können wir das Ganze überblicken.
Wenn das Buch des Lebens geschlossen wird, dann rundet sich das Leben.
Aber da sind wir nicht mehr dabei, nicht mehr am Leben. Da ist unser
Tagebuch längst in fremde Hände gefallen. Da blättert
dann ein anderer in unseren Skizzenblöcken, sortiert die Bruchstücke
eines unvollendeten Lebensprojekts und macht sich seinen eigenen Reim
darauf.

Ein anderer? Oder doch ich selbst? Paulus bringt mit seinen Briefzeilen
Bewegung in die Szene. Was wir von uns selbst wissen, ist Stückwerk,
so lange wir leben. Aber das muß nicht so bleiben. Und es wird
auch nicht so bleiben. Wenn das Vollkommene anbricht, dann wird das
gestückelte Leben aufhören. Dann erkennt jeder die Gestalt
seines Lebens.

Man weiß auf den ersten Blick nicht so recht, was damit gemeint
sein soll. Aber das kann auch nicht anders sein. Denn unser Wissen ist
immer nur Stückwerk. Da können uns auch die gelehrten Theologen
nicht weiter helfen, selbst Paulus nicht. Aber wir ahnen, was Paulus
im Sinn hatte, als er seine Briefzeilen diktierte. Denn keinem von uns
ist der Traum vom vollkommenen Leben fremd, von dem anderen Leben, das
wir ewig nennen, himmlisch, wolkenlos und weit. Wenn unser gebrochenes
Leben zu Ende geht und die dunklen Bilder in uns verschwinden, dann
wird Klarheit herrschen. Dann ist es mit der stückweisen Erkenntnis
vorbei. Dann werde ich mich so erkennen, wie ich wirklich bin, so wie
ich in den Augen Gottes bin, aus der anderen, aus seiner Perspektive.

Aber das ist noch nicht alles, was Paulus in seine Sätze vom gebrochenen
und vom klaren Leben gepackt hat. Wir brauchen gar nicht in den Himmel
zu schweben, um zu entdecken, wo das Geheimnis unseres Lebens verborgen
ist. Wir können das himmlische Leben im irdischen erkennen, wenn
wir den richtigen Blick dafür entwickeln. Wenn wir mit dem finsteren
Blick in den Spiegel unseres Lebens schauen, dann sehen wir nichts als
dunkle Bilder: verschwommene Vergangenheiten, von denen wir uns nicht
lösen können, eine trübe Gegenwart, die sich niemals
so recht erschließt, und düstere Zukunftsaussichten. Alles
gebrochen und verzerrt, eben spiegelverkehrt. Keiner von uns hat jemals
sein wahres Gesicht sehen können, immer nur das Gegenbild, eine
verkehrte Ansicht.

Aber wenn wir an den Tag zurückdenken, an dem alle Menschen und
damit auch wir ins Leben gerufen wurden, dann bekommt der Spiegel des
Lebens eine andere Bedeutung. Es war der sechste Schöpfungstag,
an dem Gott zu sich selbst sprach: Ich will Menschen schaffen, Bilder,
die mir gleichen. Am Abend dieses Tages sind sich dann Gott und Mensch
zum ersten Mal begegnet, ‚von Angesicht zu Angesicht‘. Und als
sie sich in die Augen blickten, da war es, als würden sie beide
in einen Spiegel schauen. Ich bin Gottes Spiegelbild. Und er ist das
meine.

Von da an waren Gottes Leben und mein Leben für immer miteinander
verbunden. Von da an behielt Gott mich im Auge. Er trauerte um sein
Spiegelbild, wenn wieder einmal ein Stück meines Lebens in die
Brüche ging. Er freute sich mit mir, wenn plötzlich ein Glücksmoment
im Spiegel aufblitzte. Er behielt mich im Auge, wenn alles um mich herum
zu schwanken anfing. Und er wird sein Abbild auch dann nicht vergessen,
wenn der Bau meines Lebens einmal endgültig in sich zusammenfällt.
Wenn wir diesen Spiegel nicht hätten, wüßten wir nicht,
wer wir sind: Ebenbilder Gottes, Menschen, die sein Antlitz tragen.

Unser Lebenswissen bleibt Stückwerk, solange wir leben. Aber unser
Lebensglaube läßt uns das Ewige im Irdischen erkennen, Gottes
Leben im Menschenleben, das Vollkommene in jedem einzelnen Bruchstück.
Wenn wir auf unserem Weg die Spuren Gottes entdecken, dann fangen wir
zu leben an.

de_DEDeutsch