1. Korinther 15,1-11

1. Korinther 15,1-11

Vor-österliche Grabesgedanken | Ostersonntag | 09.04.2023 | 1. Kor 15, 1-11| Thomas Schlag |

1 Ich erinnere euch aber, Brüder und Schwestern, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch fest steht,

2 durch das ihr auch selig werdet, wenn ihr’s so festhaltet, wie ich es euch verkündigt habe; es sei denn, dass ihr’s umsonst geglaubt hättet.

3 Denn als Erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; 4 und dass er begraben worden ist; und dass er auferweckt worden ist am dritten Tage nach der Schrift;

5 und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen. 6 Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch heute leben, einige aber sind entschlafen. 7 Danach ist er gesehen worden von Jakobus, danach von allen Aposteln.

8 Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden. 9 Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, dass ich ein Apostel heiße, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe. 10 Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.

Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist. 11 Ob nun ich oder jene: So predigen wir, und so habt ihr geglaubt.

Nun stehe ich wieder hier. Vor kurzem erst wurde die geliebte Person an diesem Ort zu Grabe getragen. Der Blumenschmuck der Bestattungsfeier ist noch nicht ganz und gar verwelkt. Aber die Trauerschleifen mit den letzten Worten des Abschieds sind bereits weggeräumt. Die harten Lehmbrocken des ausgehobenen Grabes sind auch schon nicht mehr zu sehen. Sie sind zugedeckt von frischer Erde, darauf ein neues, tänzelndes Ensemble aus blauen, lilafarbenen und orangenen Stiefmütterchen, weißen Narzissen, umgeben von keck dastehenden rosaroten Gänseblümchen. Hoffentlich werden die kleinen Blüten die angekündigten frostigen Nächte überstehen. Denn einstweilen ist, so die Wetterlage, nicht mit wärmenden Frühlingstemperaturen zu rechnen.

Das hölzerne Kreuz mit dem vertrauten Namen und den Daten von Lebensbeginn und Lebensende ist leicht aus seiner neuen Erdfassung geraten und steht im Vergleich zu den vielen Grabsteinen in der näheren Umgebung fast ein wenig schief da. So als ob hier noch Leben ist und sein will. Das frische Datum scheint gegenüber den in Bronze geschlagenen Jahreszahlen auf den wuchtigen Marmor- und Granitsteinen so zu wirken, als ob es nun an diesem Ort einen Neuankömmling zu begrüßen gälte, der sich mit der neuen Existenz erst noch allmählich vertraut machen muss.

Erst vor wenigen Wochen hat einen die schreckliche, unglaubliche Nachricht vom Tod erreicht. Wenn es nicht so banal klänge, würde man wohl formulieren, dass damit ein ganzer, gewohnter Teil des eigenen Lebens auf einmal und auf immer verschwunden ist. Wahrlich keine menschliche Ersterfahrung. Und doch eine persönliche Urerfahrung, die die eigene Lebensbahn erschüttert, während zugleich das eigene Leben weitergeht und an einem zieht und zerrt. Jemand hat mir gesagt: „Wundere Dich nicht: Um Dich herum geht alles weiter, so als ob nichts geschehen wäre – Du wirst sehen, der Autoverkehr fließt weiter und die Geschäfte bleiben alle geöffnet.“

Dunkle Gegenwartstrauer und helle, dankbare Erinnerungen an ein langes, gesegnetes Leben tragen ihren Kampf mit absehbarem Ergebnis aus. Jetzt hier am Grab tauschen wir Angehörige uns frierend und zugleich umarmend, Geschichten und Erinnerungen an letzte Momente aus. Wir sind uns schmunzelnd darin einig, dass dem Gartenfreund dieses Blumenensemble „über sich“ bestens gefallen würde und er jetzt wohl am liebsten selbst Hand anlegen würde, um für ein bestmögliches Aufblühen und Gedeihen zu sorgen.

Aber ich merke schon, wie sich die vorherige selbstverständliche Alltäglichkeit des Daseins und Zusammenlebens langsam und unaufhaltsam zu verflüchtigen beginnt. Das ist auch „diesseits“ des Grabes so: Noch kann ich mich wenigstens etwas an den typischen Gerüchen der letzten Wohnung des Verstorbenen festhalten. Und die Bilder in den Fotoalben werfen noch blasses Licht zurück. Aber der Tod wird gewinnen – und hat schon gesiegt.

Nur für wenige Tage ist in diesem „untragischen“ Fall Trauer erlaubt. Man würde wohl jetzt schon als sonderbar wirken, wenn man immer wieder „davon anfangen“ würde oder womöglich gar bekunden würde, dass man damit „gar nicht zurecht käme“. Aber zugleich merke ich, dass es den nahen Angehörigen nicht viel anders geht als mir. Jeder trägt es irgendwie für sich aus und kämpft still mit dem ganz persönlichen Erinnerungsverlust.

Aber einige Kolleginnen und Kollegen schütten angesichts der Todesnachricht auf einmal ihr Herz aus und teilen ihre Tränen über eigene Verluste, selbst wenn diese teilweise Jahrzehnte und damit schrecklich weit zurückliegen. Offenbar braucht es erst einen solchen Anlass, damit der akademische Austausch persönliche, existenzielle Gestalt annehmen darf.

Zugleich rückt mir die Frage der eigenen zukünftigen Lebensgestaltung auf einmal wieder so intensiv nahe wie seit der Geburt der eigenen Kinder nicht mehr. Manche Kreise schließen sich auf wundersame und staunenswerte Weise – und öffnen sich zugleich zum weiteren eigenen Leben hin – wie lange auch immer.

Hier am Grab suche ich nach Präsenz – wo ist der Verstorbene? Einfach drunten im Erdreich, schon jetzt oder alsbald den physikalisch erwartbaren Verfallsprozessen ausgesetzt? Oder ist er „jenseits“ auf dem Weg, womöglich schon am Ort der erwünschten Rückkehr ins Heimatliche? Wo ist der Verstorbene „für mich“? Womöglich ja mir näher als je zuvor? Ein Freund hat zum Abschied formuliert: „Nun ist alle räumliche Trennung aufgehoben“. Dieser nur im ersten Moment paradox erscheinende Trost begleitet mich seit Tagen und gibt mir zu denken. Wieviel Hoffnung darf ich mir einbilden? Und welche Hoffnung überhaupt?

In diesen Tagen komme ich in der Zürcher Altstadt an einem großen Brunnen vorbei. Erst traue ich meinen Augen nicht. Aber tatsächlich: die Wasseroberfläche ist bedeckt mit unzähligen, großblättrigen Rosenblüten unterschiedlichster Couleur – und der steinern eingefasste Wassertrog daneben auch. Gezählt habe ich die Rosen nicht, aber vermutlich ist eine Zahl von mehreren Hundert nicht übertrieben. Die auf dem oberen Brunnenring positionierten orangenen Stiefmütterchen und orangenen Tulpen gehen demgegenüber – visuell gesehen – geradezu unter und fallen zahlenmäßig gesehen ohnehin überaus bescheiden aus.

Was ich erst für einen Marketingtrick der örtlichen Geschäftswelt halte, klärt sich durch das in tiefes Lila gehaltene, mit einem Bild von Dornenzweigen unterlegte Plakat auf, das neben dem Brunnen positioniert ist: Auf diesem heißt es: „Ohne Dornen keine Rosen. 1.-10. April 2023“. Die Zürcher reformierten Altstadtkirchen laden ein zu „Überraschungen“ an verschiedenen Brunnen der Stadt an unterschiedlichen Tagen der Woche, zu einem „Stadtsegen als urbaner Betruf über die Stadt“, zu Konzerten und Gottesdiensten in der Karwoche und zur Osterzeit.

Das ist nicht nur ästhetisch anschaulich und „vermögend“ inszeniert. Sondern ich wundere mich auch ein wenig über die vorösterliche Opulenz. Vielleicht bin ich einfach nicht in der angemessenen Stimmung für ein solches passionsbedeckendes Blütenmeer. Und natürlich sorgt diese Blumeninszenierung für erhebliche Aufmerksamkeit unter den Passantinnen und Passanten. Ich freue mich darüber, dass Kinder staunend die auf dem Wasser schwimmenden Rosen berühren. Ihre Eltern scheinen ihnen aber nicht zu erklären, worum es hier gehen soll, sondern achten vor allem darauf, dass die Kleinen nicht ins Dornige fassen oder womöglich gar ins Wasser fallen. Der eine oder andere Erwachsene greift mutig ins Nass, um vermutlich die eine oder andere Blüte alsbald einem anderen, romantischeren Zweck zuzuführen.

Ich bin froh, dass ich in den Blüten des Familiengrabes eine andere, kleinere und wirkmächtigere Form österlicher Lebendigkeit habe. Und auf einmal meine ich zu begreifen, wie Paulus den Tod und den Neubeginn des Lebens verstanden hat, wenn er von „Gottes Gnade, die mit mir ist“ spricht; wenn er ganz unverblümt, aber eben nicht unverblüht daran erinnert, was mitten im Tod über den Tod hinaus bleibt, was ins Dunkle hinab vergangen ist und was ins Helle hinein neu zu leben beginnt: „Selig werdet, wenn ihr’s so festhaltet, wie ich es euch verkündigt habe“, bezeugt der Apostel. Man mag das als entschiedene Aufforderung lesen, sich nun im Angesicht des Kreuzestodes ultimativ zu entscheiden.

Ich höre es einfach als tröstendes Wort, dem von meiner Seite aus nichts hinzugefügt werden muss, weil alles Wesentliche und Neue schon gesagt ist. Viel mehr brauche ich im Moment nicht für meinen nächsten Gang ans Grab und zum Grab – und für meine tagtäglichen vorösterlichen Erinnerungs- und Hoffnungsgedanken auch nicht.

Amen.

de_DEDeutsch