1. Petrus 5,1-4

1. Petrus 5,1-4

Was für eine Sitzung! | Misericordias Domini | 23.04.2023| 1 Petr 5,1-4 | Verena Salvisberg |

Liebe Gemeinde

Heute nehme ich Sie mit. An einen Ort, an den man als gewöhnliches Kirchgemeindemitglied meist nicht hinkommt. Zu einer Veranstaltung, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet und wovon in der Regel nicht berichtet wird und wenn, dann nur sparsam und gezielt. Denn es gibt ja das Amtsgeheimnis. Nicht mal Pfarrerinnen und Pfarrer sind dabei immer willkommen und die kommen doch eigentlich wirklich überall hin.

Habe ich Sie neugierig gemacht?

Gut, dann kommen Sie mit. Heute ist Kirchgemeinderatssitzung.

Anderswo heisst das Gremium der Menschen, das in einer Gemeinde eine spezielle Verantwortung übernommen hat, Presbyterium oder Kirchenpflege oder Rat der Ältesten, womit übrigens nicht eine Versammlung der meist zahlreichen Hochbetagten in der Gemeinde gemeint ist. Und wenn es Kirchenpflege heisst, ist damit wohl auch nicht gemeint, dass die Kirche erkrankt ist und deshalb besonderer Zuwendung bedarf.

Dennoch: schon der Name des Gremiums ist Programm.

Aber gehen wir einen Schritt weiter: Haben Sie sich die Frage schon mal gestellt, was der Kirchgemeinderat oder das Presbyterium, die Kirchenpflege oder der Ältestenrat eigentlich genau macht? Was ist seine Aufgabe, sein Auftrag?

In der bernischen Kirchenordnung steht in Paragraph 110: «Der Kirchgemeinderat leitet die Kirchgemeinde nach Massgabe und im Rahmen der Bestimmungen des staatlichen Rechts, der Kirchenverfassung und dieser Kirchenordnung… Der Kirchgemeinderat lässt sich vor seinen Entscheidungen durch das Pfarramt theologisch beraten und holt den Rat der weiteren Mitarbeiter ein… Er plant und koordiniert die Tätigkeiten der Kirchgemeinde. Er legt Ziele und Schwerpunkte fest, unterstützt die anderen Organe, die Ämter und die weiteren Dienste in der Erfüllung ihrer Aufgaben und überprüft, ob diese ihrem Auftrag nachkommen».

Darum geht es also:

  • die Kirchgemeinde leiten, dabei staatliches und kirchliches Recht beachten
  • sich theologisch beraten lassen
  • planen und koordinieren, was in der Gemeinde läuft
  • Ziele und Schwerpunkte festlegen
  • Die MitarbeiterInnen bei ihrer Arbeit unterstützen und überprüfen, ob sie ihren Auftrag erfüllt haben

Soweit die gesetzlichen Vorgaben. Aber was heisst das eigentlich? Was heisst das praktisch und konkret?

Eben, ich wollte Sie ja mitnehmen an eine Sitzung.

Es ist Mittwochabend, 20 Uhr. Reto, der Präsident, hat die Tische zu einem grossen U umgestellt. Er kämpft mit dem Beamer, bekommt bald Unterstützung von der Pfarrerin Jasmin, die die Tücken des Geräts bestens kennt. Nach und nach treffen die Mitglieder des Rates ein.

Eva und Sandra, wie immer unzertrennlich, setzen sich nebeneinander. René breitet Baupläne aus. Elsbeth versorgt alle mit Wasser und Gläsern und als Fritz, der wie immer zuletzt eintrifft, Platz genommen hat, eröffnet der Präsident die Sitzung.

Traktandum 1, Einstimmung. Ich gebe dir, Jasmin, das Wort.

Die Pfarrerin überlegt kurz, ob die Einstimmung unter dem Stichwort «theologische Beratung» abzubuchen sei und teilt einige Gedanken zur Tageslosung, die sie sich kurz vor der Sitzung auf einen Zettel notiert hat.

Auch bei Traktandum 2, Bericht aus dem Pfarramt, fühlt sie sich unwohl. Einerseits hat sie in den letzten Wochen viel gearbeitet und berichtet gerne davon. Andererseits ist sie nicht sicher, ob sie die Mitglieder des Rates nicht langweilt. Das meiste ist Rückblick auf Veranstaltungen, aber die sind ja vorbei. Jasmin hat den Eindruck, dass der Rat zufrieden ist, wenn die Arbeit gemacht wird, und wenn es keine Reklamationen gibt. Zu viele Details verbrauchen nur kostbare Sitzungszeit.

Traktandum 3. Einbau einer Photovoltaikanlage auf dem Kirchendach. René, der das Ressort Liegenschaften bekleidet, berichtet ausführlich von seinen Abklärungen bezüglich dieses Bauvorhabens. Denkmalpflege und Architekt raten dringend ab. Das kommt René sehr entgegen, der dem Projekt gegenüber von Anfang an skeptisch eingestellt war. Er musste sich aber darum kümmern, denn es war ein Antrag aus der letzten Kirchgemeindeversammlung.

Der Rat beschliesst, das Vorhaben nicht weiter zu verfolgen.

Traktandum 4: Sandra berichtet von dem erneuten Streit zwischen dem Gärtner und der Leiterin der Spielgruppe. Die Kinder haben nach dem Spielen im Garten das Spielzeug liegen lassen. Als der Gärtner den Rasen mähen wollte, musste er zuerst aufräumen. Es ist nicht das erste Mal. Eva empört sich, dass der Gärtner kein Verständnis hat für die Kinder. Ihnen muss man doch besonders Sorge tragen, denn sie sind die Zukunft der Kirchgemeinde. Reto erinnert daran, dass der Rat absichtlich einen Nischenarbeitsplatz für den Gärtner geschaffen hat, der mit psychischen Problemen zu kämpfen hat. Es funktioniert sehr gut, wenn alle ein bisschen Rücksicht nehmen. Auf einmal gehen die Emotionen hoch. Fritz ärgert sich, dass man sich Sitzung für Sitzung mit diesem Thema befassen muss. Da die Spielgruppe die Räume gratis nützen kann, wäre ein bisschen Dankbarkeit wohl das Mindeste.

Das Gespräch geht hin und her, bis der Präsident ein Machtwort spricht. Er will erneut zwischen den Parteien vermitteln und sie an ihre Pflichten erinnern. Obwohl alle wissen, dass Reto in den nächsten Wochen dafür keine Zeit finden wird, da er beruflich sehr eingespannt ist, sind alle mit diesem Vorschlag einverstanden.

Traktandum 5: Die Sigristin will ein neues Kollektenkässeli montieren lassen, da das alte allzu unscheinbar und mit den Jahren unansehnlich geworden ist. Fritz stellt fest, dass diese Ausgabe nicht budgetiert ist. Eva wendet ein, dass man diesen einmaligen Aufwand wohl leisten könne mit Blick auf die allfällige Steigerung der Kollekteneinnahmen durch die bessere Sichtbarkeit des Kässelis. Aber wenn man schon etwas ändert, meint René, dann soll auch gleich ein QR-Code erstellt werden, womit man die Kollekte digital einzahlen kann. In seinen Ferien in Skandinavien habe er gesehen, dass das in allen Kirchen ganz selbstverständlich sei. Hier ist man natürlich nicht in Skandinavien, aber es macht sich gut. Die Kirche gibt sich modern, das kann ja nicht schaden. Dieses Argument leuchtet allen ein.

Der Rat beschliesst, neue Kollektenkässeli anzuschaffen und die Möglichkeit des digitalen Kollekteneinzugs einzurichten.

Traktandum 6: Sandra hat beim Einkaufen eine treue Gottesdienstbesucherin getroffen, die sich darüber beschwert hat, dass Jasmin in der letzten Predigt gesagt hat, alle Menschen würden von Gott geliebt, auch homosexuelle. Sandra ist prinzipiell einverstanden mit der Aussage von Jasmin, aber sie hat im Gottesdienst auch gedacht, dass sie sich da vielleicht ein bisschen weit zum Fenster hinausgelehnt hat. Der Präsident stellt fest, dass es sich um ein heikles Thema handelt. Warum eigentlich? Wegen des Themas der Homosexualität? Weil sich jemand über die Pfarrerin beschwert hat? Es gibt eine Ausspracherunde, in der jedes Mitglied seine persönliche Meinung sagt. Jasmin beruft sich auf ihre Verkündigungsfreiheit. Sie ist enttäuscht, dass die Kritik nicht persönlich vorgebracht wurde, so dass sie hätte reagieren können.

In Zukunft, so das Fazit der Diskussion, soll man die Leute, die etwas kritisieren, anhalten, damit direkt zur Pfarrerin zu gehen.

Traktandum 7, Verschiedenes: Eva bittet darum, dass die Informationen im Kirchenblatt genau und von mehreren Personen kontrolliert werden, bevor sie veröffentlicht werden. Es hatte schon wieder einen Fehler bei den Angaben zur Andacht im Altersheim gegeben.

Da niemand sonst etwas hat unter Verschiedenem, schliesst Reto die Sitzung. Alle packen ihre Unterlagen zusammen und machen sich auf nach Hause.

Das war also eine Sitzung des Kirchgemeinderats, wie sie sich in der Regel abspielt.

Doch stellen Sie sich nun vor, liebe Gemeinde, die Sitzung wäre für einmal anders zu Ende gegangen.

Es hätte sich doch noch eine weitere gemeldet beim letzten Traktandum.

Zum Beispiel Elsbeth.

Es ist zwar schon spät, sagt sie, aber ich habe etwas gelesen. Im Hauskreis haben wir darüber diskutiert. Ich habe versprochen, in der Kirchgemeinderatssitzung davon zu erzählen. Umständlich blättert sie in der Bibel.

Hier ist es, im 1. Petrusbrief, Kapitel 5:

1 Die Ältesten unter euch ermahne ich – das sind im Fall wir, der Kirchgemeinderat –

Die Ältesten unter euch ermahne ich, euer Mitältester und Zeuge der Leiden Christi, der ebenfalls teilhat an der Herrlichkeit, die sich künftig offenbaren wird:

2 Weidet die Herde Gottes, die euch anvertraut ist, und sorgt für sie, nicht unter Zwang, sondern aus freien Stücken, so wie es Gott gefällt! Seid nicht auf schnöden Gewinn aus, sondern tut es von Herzen,

3 seid nicht Herren über eure Schützlinge, sondern ein Vorbild für eure Herde!

4 Dann werdet ihr, wenn der Hirt der Hirten erscheint, den unverwelklichen Kranz der Herrlichkeit davontragen.

5 Ebenso ihr Jüngeren: Ordnet euch den Ältesten unter! Macht euch im Umgang miteinander die Demut zu eigen, denn Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber schenkt er seine Gnade.

Stellen Sie sich vor, was dann passiert. Also, wenn sich nicht alle nur darüber aufregen, dass ihre Amtskollegin zu später Stunde noch mit der Bibel kommt. Mit dieser altertümlichen, schwer verständlichen Sprache und das, wenn eigentlich die Sitzung schon vorbei ist.

Stellen Sie sich vor, was dann passieren könnte.

Wenn eine in der Runde ganz spontan angesprochen ist von dem Bild mit der Herde und den Hirten, denen sie anvertraut ist.

Ein bekanntes biblisches Motiv.

Es gibt da diesen Hirten, der 100 Schafe hat und eines, das verloren geht. Das Fest, das gefeiert wird, nachdem er es gefunden hat.

Oder dieser Psalm «Der Herr ist mein Hirte». Der Lieblingspsalm meiner Grossmutter.

Oh ja, ich liebe ihn auch. Dieses Vertrauen, auch wenn man im finsteren Tal wandert, ist man nicht alleine.

Ich habe Mühe mit diesem Bild der Schafe, für die gesorgt wird. Wir wollen doch mündige Gemeindeglieder, nicht solche, die einfach dem Rat hinterhertrotten.

Ja, aber es gibt doch auch diese Stelle, wo Jesus sagt: Ich bin der gute Hirte.

Und dass der gute Hirte sein Leben lässt für die Schafe.

Also, das geht mir jetzt zu weit. Es reicht schon, wenn man den ganzen Mist der Gemeinde hören und bearbeiten muss, aber mein Leben dafür geben… meine Frau findet jetzt schon, dass mich mein Amt auffrisst und ich gar nicht mehr nach Hause komme.

Ja, aber irgendwie hat das, was mit Jesus geschehen ist, doch etwas mit unserer Arbeit zu tun.

Ja, da steht es ja: Er ist der Hirt der Hirten.

Und der Lohn für das Engagement, das wir ganz freiwillig machen, ohne Aussicht auf Ruhm, uneigennützig und von Herzen, der Lohn ist der unverwelkliche Kranz der Herrlichkeit, was auch immer das sein soll.

Es ist einfach etwas Grösseres, wofür sich der Einsatz lohnt. Also nicht Ruhm und Ehre.

Mir gefällt das mit der Demut und dem Dienen. Darüber müssen wir noch nachdenken: Was leiten mit dienen zu tun hat.

Eigentlich müssten wir überhaupt nochmal von vorne anfangen mit der Sitzung.

Wie würden wir sie gestalten mit diesem Bild von den Hirten und der Herde im Kopf?

Weidet die Herde Gottes, die euch anvertraut ist, und sorgt für sie, nicht unter Zwang, sondern aus freien Stücken, so wie es Gott gefällt! Seid nicht auf schnöden Gewinn aus, sondern tut es von Herzen,

3 seid nicht Herren über eure Schützlinge, sondern ein Vorbild für eure Herde!

Oh je, oh je. Was hiesse das?

Für das Bibelwort am Anfang der Sitzung.

Für die Arbeit der Pfarrerin und aller andern, für ihre Wahrnehmung und Wertschätzung.

Für das Kirchengebäude und die Ökologie.

Für den Gärtner und die Spielgruppenleiterin und die Kinder

Für die verschiedenen theologischen Meinungen in der Kirchgemeinde

Für das Bild, das die Gemeinde nach aussen abgibt

Für die Spenden und die Fehler, die passieren

Weidet die Herde Gottes, die euch anvertraut ist…

Wenn wir jetzt die Sitzung nochmal abhalten würden…

Es ergibt ein Wort das andere an diesem Abend und unversehens ist es nach Mitternacht.

Höchste Zeit für den Heimweg.

Beschwingt und erfüllt, inspiriert und nachdenklich machen sich Reto, Fritz, René, Eva, Sandra, Elsbeth und Jasmin auf den Heimweg.

Was für eine Sitzung!

Amen


Pfrn. Verena Salvisberg Lantsch, Merligen

E-Mail: verenasalvisberg@bluewin.ch


Verena Salvisberg Lantsch, geb. 1965, Gemeindepfarrerin in Roggwil BE, Frick und Laufenburg, seit 1. August 2022 Regionalpfarrerin im Kreis Berner Oberland/Oberes Emmental

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