Johannes 16,11-16

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Johannes 16,11-16

Miserikordias Domini | 23.04.2023 | Johannes 16,11-16 (dänische Perikopenordnung) | Leise Christensen |

Auf dem Bild kann man einige Köpfe von Schafen sehen. Das Bild habe ich im März aufgenommen in Øster Lem Hede in Westjütland, dem herrlichsten, schönsten, unberührtesten Ort im ganzen Königreich. Øster Lem Hede ist eine Heidelandschaft, wo das Meer von lila Blüten im August so schön ist, dass selbst die schlimmsten Großstadtmenschen davon überwältigt werden. Aber so eine Heidelandschaft hat auch ihre Probleme. Einerseits ist das Natur, andererseits wachsen in dieser Landschaft allzu leicht Fichten, Birken und Ginster – mit dem Ergebnis, dass das lila Meer dann zu kleinen Seen wird und nicht mehr alles füllt. Deshalb wurde eine Schafsherde auf der Heide vor einigen Jahren installiert. Da gehen sie und passen gut zusammen mit der ja im größten Teil des Jahres braunen Heide, während sie fressen und dafür sorgen, dass Fichten und Birken nicht die Heide verdrängen. Kein Schaf auf der Heide ohne Hirten, trotz allem. Da ist also ein Hirte, eine Hirtin, sie heißt Anette, mit einem Hirtenstab, zwei Hirtenhunden, Ness und Nate und natürlich auch einem isländischen Pferd. Ein ganz anderes Tier ist jedoch in den letzten Jahren aufgetaucht, nämlich der Wolf. Wenn man Glück hat und es nachts geregnet hat, kann man auf dem Steg am Tage Wolfspuren sehen! Das ist natürlich kein besonderes Glück für die Schafe. Denn der Wolf ist ein Raubtier, natürlich ist er das. Heutzutage wäre kein Schafshirte so dumm, dass er sein Leben für die Schafe riskiert. Dann müssen die Schafe eben geopfert werden, verständlicherweise. Der Hirte ist kein Mietling, er ist wirklich Hirte. Da ist ein Unterschied zu dem Hirten in biblischer Zeit, wo Menschenleben nicht immer alles bedeuteten wie heute und wo der Hirte verpflichtet war, sein Leben zu riskieren. Heute würden wir nicht meinen, dass Anette für die Schafe ihr Leben aufs Spiel setzen sollte – so liebenswert und nützlich und wichtig sie ansonsten sind. Heute sind wir auch der Meinung – einige von uns jedenfalls, dass der Wolf auch ein Daseinsrecht hat, und das kosten Schafen das Leben. Wir würden nicht meinen, dass sich der Hirte bei Angriffen von Wölfen opfern soll.

Der Hirte, von dem wir im heutigen Evangelium hören, nämlich Jesus, ist eigentlich ein Hirte, der über das hinausgeht, was man eigentlich von einem Hirten verlangen kann. Für ihn ist die Herde, also wir, immer am wichtigsten. Sollen wir dem guten Hirten gleichen? Sollen wir uns immer für den anderen Menschen in der Herde opfern? Ja und nein, würde ich sagen. Manchmal ist der Unterschied haarfein zwischen dem guten Hirten und dem Mietling, der seine Schafe unter den Bus jagt, wenn man das so sagen darf, der Mietling, der sich nie für etwas oder jemanden opfert. Hirten, die in Wirklichkeit erbärmliche Mietlinge sind, davon gibt es viele in der Weltgeschichte. Brüllende und schreiende Führer, die angeblich wissen, was dem Volk am besten dient, und die schnell die in Tod und Zerstörung jagen, die da nicht mitmachen. So ein Hirte geht immer voran und nie hinterher, um den Verzagten, den Vorsichtigen, den Unglücklichen weiterzuhelfen, so ein Hirte jagt die Schafe auseinander statt sie zu sammeln. So ein Hirte kennt keine Rücksicht. Ja, wir kennen sie. In der Stunde der Niederlage sind das Hirten, die keine Verantwortung übernehmen konnten für die Katastrophe und die Niederlagen, in die sie ihr Volk geführt hatten. Sie sind echte Mietlinge, sie sind Wölfe in Hirtenkleidern.

Was aber mit denen, die immer in der Rolle auftreten, dass sie das Gute wollen? Die sich immer wieder opfern für den anderen Menschen? Das muss doch die rechte Sache sein. Naja, man kann auch seine Zweifel haben. Wenn Menschen die Rolle als der gute Hirte spielen, tun sie das nicht immer aus Rücksicht auf die anderen Schafsköpfe, sondern ebenso sehr um sich selbst in ihrem Wert zu bestätigen. Es bestätigt einen, sagen zu können, dass man sich für seine Mitmenschen geopfert hat. Die Welt ist voll von Beispielen für Menschen, die andere mit ihrer Gutheit geradezu tyrannisieren. Das gilt von überbesorgten Eltern, die ihre Kinder nicht ihr eigenes Leben leben lassen – „ich habe alles für meine Kinder getan“, was für eine Last ist das nicht für die Kinder! – bis hin zu Eheleuten, die behaupten, sich gegenseitig für einander aufgeopfert zu haben – „ich habe mich dafür abgemüht und eingesetzt, dass du das Haus bekommen konntest, das du gerne haben wolltest“. „Ich habe nicht gearbeitet, damit Du Karriere machen konntest“. „Ich habe mich für dich geopfert“, so klingt es an den Esstischen und in kalten Ehebetten. Es mag ja sein, dass es sich so verhält. Es mag ja sein, dass man sich für den anderen geopfert hat. Aber selten geschieht das stillschweigend. Viel kann man für seine lieben Kinder, Ehepartner und enge Freunde tun. Aber das wahre Opfer können wir nicht bringen oder laut darauf verweisen, dass wir es gebracht haben. Kann man also kein Opfer bringen? Doch, natürlich, aber selten ganz ohne Eigeninteresse. Aber wie kann man dann den Unterschied erkennen zwischen dem Hirten und dem Mietling und all den grauen Nuancen dazwischen? Da sind die Hirten auf dem Marktplatz, Facebook, die politische Arena, die Zeitungen, all die Hirten, die sich anbieten. Ich glaube, die Antwort liegt in der goldenen Regel, die Jesus selbst formuliert hat. Jesu Taten und Worte sind immer Werke und Worte der Liebe. Sie sind immer getragen von Liebe und führen zu Liebe. Das ist der wahre Hirte. Wenn der Hirte nicht aus Liebe zu Liebe spricht, zu Respekt und Achtung zwischen Menschen – ja dann ist er nicht ein Hirte im christlichen Sinne. Deshalb ist Jesus der wahre Hirte – weil er die Liebe ist. Das verpflichtet uns, die wir als getaufte Menschen zu seiner Herde gehören. Die Verpflichtung besteht darin, dass wir in unserem Leben und Tun auf die Stimme des Hirten hören und seine Liebe weiter hinaus in die Welt tragen. Nicht auf andere herumtreten, nicht uns selbst zu Opfern stilisieren in laute Gutheit, um anderen weh zu tun, sondern unablässig gegen das Unrecht aufstehen, wo es uns begegnet. Zu dem Rüpel in uns selbst reden, ehe wir selbst ein Rüpel werden. Das ist schwer. Das wissen wir wohl. Denn das kann kosten – z.B. am Arbeitsplatz, in der Familie. In der Politik, im Leben. Vielleicht gelingt es nie. Vielleicht fallen wir auf dem Wege. Aber der wahre Hirte, zu dessen Herde wir gehören, wird umkehren, sich unserer annehmen und uns in der Herde belassen. Und zu allen (leicht jammernden) selbstaufopfernden Leuten wird gesagt: Der gute Hirte hat sich schon geopfert. Wir sollen unseren Mitmenschen helfen, das sollen wir ja, aber das ist nicht dasselbe wie sich für sie zu opfern. Helfen bedeutet, dass man weiter das Recht des anderen respektiert, ein selbständiges Individuum zu sein. Wenn man sich opfert, dann bringt man den Mitmenschen sozusagen dazu, dass er einem etwas schuldig ist, und auf diese Weise kann man dann Macht über ihn haben, ihn beherrschen. Der Hirte verwandelt sich langsam aber sicher in einen Mietling. Das hat man, denke ich, selbst von beiden Seiten aus erfahren. Das nützt dem Mitmenschen kaum. Deshalb sollte man bedenken, dass der Mensch, der danach strebt, der gute Hirte zu sein, sehr leicht schließlich das Gegenteil wird. Das ist ein ungesunder Mechanismus. Viel kann man in unserem Leben an sich reißen, kleine und große Katastrophen unter uns, das Dasein hat Löcher und Risse, in denen wir festsitzen. Wir können Hilfe annehmen, wir können helfen, aber das eigentliche Opfer hat der gute Hirte gebracht. Das ist nicht unsere Sache. Denn das ist ein Opfer aus Liebe ohne den Gedanken an Gegenleistung, Macht oder Größe. Amen.


Pastorin Leise Christensen

DK 8200 Aarhus N

Email: lec(at)km.dk

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